Der aktuelle Festakt zum „D-Day“ war ein großes Fest gegen die seriöse Geschichtsbetrachtung. Der Jahrestag der Landung alliierter Truppen in der Normandie wurde zum „Anfang von Hitlers Ende“ hochstilisiert und es wurden absurde Parallelen zwischen Russland und Nazi-Deutschland angedeutet. Aus Sicht vieler deutscher Politiker und Journalisten ist das nur folgerichtig: Ohne die massive Verzerrung der Geschichte würde die ganze offizielle Darstellung des Ukrainekrieges augenblicklich zusammenbrechen. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Die Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag der Landung alliierter Truppen in der Normandie, dem sogenannten D-Day, wurden ohne Vertreter Russlands begangen und waren auf vielen Ebenen ein neuer Höhepunkt des Versuchs der massiven Umdeutung der Geschichte. Diesen Versuch betreiben momentan fast alle Politiker und fast alle Journalisten großer Medien in Deutschland: Hier herrscht offenbar eine weitgehende Übereinkunft darüber, dass die Geschichtsschreibung notfalls den Bedürfnissen der Propaganda der Gegenwart angepasst werden darf. Das ist auch notwendig, da die offizielle westliche Darstellung des Ukrainekrieges und die moralische Bewertung der Kriegsverlängerung bei einer seriösen Betrachtung der jüngeren Geschichte nicht überlebensfähig wären.
Und um diese jüngere Geschichte besser verzerren zu können (im Sinne von „Putin ist wie Hitler“), wird auch versucht, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs massiv umzudeuten. Das geht so weit, dass Bundeskanzler Olaf Scholz sogar den für den 8. Mai reservierten Begriff vom „Tag der Befreiung“ bei den jetzigen Feiern indirekt auf den D-Day ummünzte, wie Medien berichten:
„Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 als ‚Tag der Befreiung’ für Frankreich, viele andere besetzte Länder Europas, aber auch für Deutschland gewürdigt. Das Datum markiere ‚den Anfang vom Ende des menschenverachtenden Systems des Nationalsozialismus, von dessen Rassenwahn und Militarismus, von Vernichtungswillen und imperialistischen Fantasien‘, schrieb Scholz in einem am Donnerstag veröffentlichten Beitrag für die französische Zeitung ‚Ouest France‘.“
Wie beschämend in Deutschland mit dem realen „Tag der Befreiung“ (dem 8. Mai, dem Tag der Kapitulation) und dem wichtigen Beitrag der Roten Armee dazu umgegangen wird, hatte ich in den Artikeln Empörender Umgang mit dem Tag der Befreiung: „Hier weht nur noch die Ukrainefahne“ und Am Tag der Befreiung ist die Fahne der Befreier verboten beschrieben.
D-Day war nicht der „Anfang von Hitlers Ende“
Außerdem: Die falsche Bezeichnung vom D-Day als „Anfang von Hitlers Ende“ wurde in den vergangenen Tagen neben Scholz von zahlreichen weiteren Politikern und Medien genutzt. Viele Wissenschaftler sehen das anders. So betonte etwa der Historiker Peter Lieb laut Medien bereits beim 75. D-Day-Jubiläum:
„Heutzutage wissen wir, der Krieg war vorher schon für die Deutschen verloren. Da waren Stalingrad und die hohen Verluste im Osten. Die Deutschen verloren an der Ostfront seit 1941 pro Tag 2000 Mann – durch Tod, schwere Verwundungen oder Gefangenschaft.“
Wenn der Krieg 1944 für Deutschland bereits verloren war, gab es dann (neben dem Kampf gegen den Naziterror) weitere Motive für die Landung der West-Alliierten zu diesem Zeitpunkt? Dazu sagte der Historiker laut Deutschlandfunk:
„Der Historiker Peter Lieb schreibt der Landung der Alliierten in der Normandie 1944 weniger eine militärische Bedeutung zu, dafür aber eine politische. Durch diese militärische Operation sei verhindert worden, dass West- und Mitteleuropa in die Hände Stalins gefallen wären.“
Es soll unbedingt betont werden: Diese Richtigstellung soll keineswegs die große Hochachtung schmälern, die den vor allem US-amerikanischen, kanadischen oder britischen Soldaten wegen ihres verlustreichen Sturms auf die Normandie und ihres Kampfes gegen Nazi-Deutschland gebührt. Sie können auch nur bedingt etwas für die Nutzung ihrer großen Taten für die heutige Propaganda gegen Russland.
„Putin darf nie mehr wieder in der zivilisierten Menschheit Aufnahme finden“
Auch der Spiegel stützt aktuell wie viele andere deutsche Medien die überhöhende Interpretation des D-Days, wenn er etwa schreibt:
„Die Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie machte den Weg für den Sieg der Alliierten über Nazideutschland frei.“
Die Reden bei dem Festakt in Frankreich waren erwartungsgemäß. Aber darum ist es nicht leichter zu ertragen, wenn etwa US-Präsident Joe Biden erklärt, die Menschen müssten sich auch heute fragen, ob sie sich gegen „das Böse“ zur Wehr setzen wollten.
Im Heute Journal vom 6. Juni wird mit „Vergleichen heißt nicht Gleichsetzen“ prominent eine Äußerung des Historikers Heinrich August Winkler zu Hitler und Putin zitiert – demnach kann man also durchaus angebliche „Parallelen zwischen Hitler und Putin“ aufzeigen. Ich empfinde diese Position – selbst bei Verzicht auf direkte Gleichsetzungen – als eine massive Verharmlosung des Naziterrors. Die Frankfurter Rundschau fordert aktuell gar Putins ewige Verdammnis:
„Dass Wladimir Putin heuer dort unerwünscht ist, ist korrekt: Der Mann, der aus eigener Kleingeistigkeit wieder Krieg über Europa gebracht hat, darf nie mehr wieder in der zivilisierten Menschheit Aufnahme finden.“
Zum von der Frankfurter Rundschau genutzten Stichwort „Kleingeistigkeit“: Ich finde, das trifft viel eher auf die französischen Organisatoren des Festaktes zu. Selbst wenn man der (falschen) westlichen Deutung über den „Diktator Putin“ und die Gründe für den Ukrainekrieg folgen würde, so wäre der russische Präsident (ebenso wie Joe Biden etc.) bei einem solchen historischen Festakt ja nicht zuerst als aktuell aktiver Politiker vor Ort, sondern als symbolische Vertretung der damals kämpfenden Nationen. Die Erinnerung an den monumentalen historischen Kampf gegen den Faschismus mit der aktuellen Geopolitik zu vermischen – das empfinde ich als kleingeistig.
Wie gesagt: Ich finde es unangemessen, den heutigen politischen Vertretern der damaligen Alliierten bei einem solchen historischen Festakt ihre aktuelle Politik vorzuwerfen – dafür gibt es bessere Gelegenheiten. Allerdings: Da es nun einmal (gegenüber Russland) so praktiziert wird, ist auch folgende Bemerkung „erlaubt“: Wenn man „statt“ des russischen Präsidenten nun den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj einlädt, dann wäre doch folgende Information interessant: Selenskyj ist Vertreter eines Landes, in dem Anhänger des Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera ganz offen ihren rechtsradikalen Kult ausleben dürfen – eines Landes, das mit dem unsäglichen Andrij Melnyk sogar einen solchen offenen Bandera-Anhänger als Botschafter nach Deutschland geschickt hatte. Wo waren damals eigentlich die Antifaschisten? Die Jüdische Allgemeine schreibt zur offenen Verehrung von Rechtsradikalen und Nazi-Kollaborateuren in der heutigen Ukraine:
„Schließlich waren Bandera wie auch Schuchewytsch nicht nur rechtsradikale Antisemiten und Russen- und Polen-Hasser, sondern auch NS-Kollaborateure, die an verschiedenen Verbrechen mitgewirkt haben. In der Ukraine spielt diese Tatsache heute kaum eine Rolle. Im Gegenteil, dort werden Bandera und Schuchewytsch als erbitterte Gegner Russlands gewürdigt.“
Lawrow zum D-Day: „Falsche Geschichtsinterpretationen”
Den russischen Präsidenten hatte die französische Regierung laut Medienberichten unter Hinweis auf den Ukrainekrieg ausdrücklich nicht eingeladen. Dennoch hätten französische Diplomaten einen „Eklat“ nur mit Mühe verhindern können: Der Kreml sollte nach den Pariser Plänen ursprünglich zumindest einen Vertreter entsenden können, „um Engagement und Opfer der sowjetischen Völker und ihren Beitrag zum Sieg von 1945 zu würdigen“.
Diese Geste habe „in westlichen Regierungen aber für Verärgerung und für Misstrauen“ gesorgt, „welche diplomatischen Brücken nach Moskau sich der französische Präsident damit wohl bauen wollte“. Nach wochenlangem Ringen hinter den Kulissen habe der Elysee-Palast die Einladung an Moskau dann vollständig zurückgezogen, „weil die Bedingungen nicht erfüllt” gewesen seien.
Die Russen sagten zur verweigerten Einladung zum diesjährigen Festakt in der Normandie: Die Teilnahme der russischen Delegation sei auch nicht geplant gewesen, kommentierte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Freitag. Er erklärte, dass im nächsten Jahr der 80. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg begangen wird und die Vorbereitungen auf dieses Datum für Moskau Priorität hätten. Vor fünf Jahren hatte Außenminister Sergej Lawrow auf der Webseite des russischen Außenministeriums Folgendes zur Überhöhung des D-Day geschrieben:
„Es werden falsche Geschichtsinterpretationen in das westliche Bildungssystem eingeführt, mit Mystifizierungen und pseudohistorischen Theorien, die das Kunststück unserer Vorfahren schmälern sollen. Den jungen Leuten wird gesagt, dass der Hauptverdienst für den Sieg über den Nationalsozialismus und die Befreiung Europas nicht den sowjetischen Truppen, sondern dem Westen zukommt – durch die Landung in der Normandie, die weniger als ein Jahr vor der Niederlage des Nationalsozialismus stattgefunden hat.“
Propaganda wirkt: Der Mythos von den US-amerikanischen Befreiern
Durch Inszenierungen wie dem hier beschriebenen Festakt in der Normandie werden Mythen erzeugt, wie die NachDenkSeiten bereits zum 75. Jahrestag des „D-Day“ geschrieben haben: Im Mai 1945 waren laut Umfragen noch 57 Prozent der Franzosen überzeugt: Die Hauptlast beim Niederringen von Nazideutschland hat die Sowjetunion getragen. Nur 20 Prozent der Befragten schlug diese Hauptleistung damals den USA zu. Im Jahr 2015 hatte sich dieses Verhältnis umgedreht. Nun dachten 54 Prozent der befragten Franzosen, der deutsche Faschismus sei vor allem durch die USA besiegt worden – nur noch 23 Prozent sahen die Leistungen und Opfer der Sowjetunion.
Diese Entwicklung ist Ergebnis einer langfristigen Meinungsmache – ein Mosaikstein dieser Propaganda war der aktuelle Festakt zum „D-Day“: ein großes Fest gegen die seriöse Geschichtsbetrachtung. Aus Sicht der Initiatoren ist das nur folgerichtig: Ohne die massive Verzerrung der Geschichte würde die ganze offizielle Darstellung des Ukrainekrieges augenblicklich zusammenbrechen.
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Titelbild: Savvas Karmaniolas / Shutterstock