Es war ein nuklearer und chemischer Krieg, den die NATO 1999 gegen Serbien führte – heute hat das Land die höchste Krebsrate

Es war ein nuklearer und chemischer Krieg, den die NATO 1999 gegen Serbien führte – heute hat das Land die höchste Krebsrate

Es war ein nuklearer und chemischer Krieg, den die NATO 1999 gegen Serbien führte – heute hat das Land die höchste Krebsrate

Ein Artikel von Hartmut Sommerschuh

Belgrader Mediziner über die verheerenden Langzeitschäden. Es wird Zeit für die deutschen Kriegsertüchtiger, sie zu studieren. Hartmut Sommerschuh zum NATO-Jubiläum.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Luftschläge waren im amerikanischen und britischen Kriegsdenken seit dem 2. Weltkrieg das bewährte Mittel, die eigenen Truppen zu schützen und – nach Art des Bomber Command unter Marshal Arthur Harris – die Zivilmoral der Bevölkerung zu schwächen. Als die achtmotorigen B-52-Bomber am 24. März 1999 abends vor der jugoslawischen Küste nach ihrem Start in England noch ein paar Schleifen zogen, um der serbischen Radarüberwachung zu zeigen, wer da kommt, begann ein zynisches Experiment. Obwohl es keine Zustimmung des UNO-Sicherheitsrates gab, hatte Javier Solana, der damalige Generalsekretär der NATO, dem Chef der alliierten Streitkräfte, US-General Wesley Clark, den Angriffsbefehl erteilt. 19 Länder schlossen sich an.

Frau Prof. Danica Grujicic, Neurochirurgin, bis 2022 Direktorin des Instituts für Radiologie und Onkologie Serbiens, mutige Autorin vieler Studien und inzwischen Gesundheitsministerin, brachte es Mitte März 2024 in einem Interview des Belgrader Rundfunks auf den Punkt:

Alle Formen dramatischer Erkrankungen haben zugenommen. Die Sterilität bei Männern, Autoimmunkrankheiten, Fehlgeburten, die Aggressivität von Tumoren, Krebs auch bei Kindern. Es war ein nuklearer und chemischer Krieg, den die NATO 1999 führte.“[1]

Frau Prof. Danica Grujicic

In ihrer Zustimmung zu einem Luftkrieg erlag die deutsche Regierung unter Kanzler Schröder und den Ministern Fischer und Scharping gravierenden militärischen Fehleinschätzungen. Offenbar auch mit Lügen über ethnische Säuberungen und Massaker im Kosovo durch die Serben begründeten sie den ersten Angriffskrieg unter deutscher Beteiligung seit 1945. Obwohl in den Lageberichten des Amtes für Nachrichtenwesen der Bundeswehr für die Bundestagsabgeordneten bis zum letzten Tag vor dem Angriff immer nur von einem blutigen Bürgerkrieg zwischen UCK-Soldaten und der serbischen Armee die Rede war.

Nach dem Krieg beschrieb der britische General und ehemalige Befehlshaber der UN-Schutztruppe in Bosnien, Michael Rose, in einer Fernsehsendung des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg die verheerende mehrstufige NATO-Strategie:

Das Ziel war, die Militärmaschinerie Miloševićs auszuschalten und zu zerstören. Doch das endete in einem Misserfolg. Daraufhin erweiterte man die Liste der Ziele auf sogenannte zivilmilitärische Ziele, also Brücken, Straßen, Stromversorgung, Krankenhäuser und sogar Fernsehstationen.“ [2]

Zerstört oder beschädigt wurden nicht nur 25.000 Wohngebäude, 470 Kilometer Straßen und 595 Kilometer Eisenbahnstrecken. 14 Flughäfen, 19 Krankenhäuser, 20 Gesundheitszentren, 18 Kindergärten, 69 Schulen, 176 Kulturdenkmäler, darunter auch Klöster, und 44 Brücken. In der Nacht des 23. April 1999 tötete die NATO bei einem gezielten Angriff auf ein staatliches Rundfunk-Gebäude auch 16 Fernsehmitarbeiter.

Der militärische Aufwand der Operation ALLIED FORCE war entsprechend: 2.300 Luftangriffe auf 995 Objekte. Mit über 18.000 Kampfflugzeug-Einsätzen, 420.000 Raketen, 1.300 Marschflugkörpern und 37.000 heute geächteten, aber in der Ukraine wieder eingesetzten „Streubomben“. Rund 200 Menschen starben allein durch sie, mehrere hundert wurden grausam verletzt.

Besonders zynisch und medizinisch katastrophal, so Frau Prof. Danica Grujicic, war die vorsätzliche Bombardierung der großen Chemiebetriebe in Pancevo, Bor, Novi Sad und vor allem der Einsatz von Uranmunition.

Allein die Stadt Novi Sad und ihre Vororte wurde zwischen dem 24. März und 9. Juni 1999 achtundreißigmal bombardiert. Die Energieversorgung und alle drei Brücken zerstört. Zehn Angiffstage mit Bomben und treffgenauen Marschflugkörpern galten nur der Ölraffinerie.

Bereits am 7. April 1999 liefen 80.000 Tonnen Öl liefen aus, verbrannten 20.000 Tonnen.[3]

Schon am 4. April 1999, zwölf Tage nach Beginn der Luftschläge, wurde zum ersten Mal auch die Raffinerie von Pančevo angegriffen. Das auslaufende Öl brannte zwei Wochen. Am 15. und 18. April 1999 und selbst noch am 8. Juni, kurz vor dem Waffenstillstand, zerstörte die NATO dieses große Chemiezentrum völlig. Nur wenige Jahre zuvor war es mit US-Hilfe modernisiert worden. Bauplangenau trafen computergesteuerte Cruise-Missiles die Düngemittelfabrik, die Ölraffinerie, das PVC-Werk. Und dort auf den Meter exakt einen noch halbvollen Tank mit 450 Tonnen Vinylchlorid, einem krebserregenden Vorprodukt für die PVC-Herstellung.

Mehr als 10 Tage zog eine 20 km lange Giftgaswolke über die Vororte von Belgrad in die Gemüse- und Kornkammern Serbiens. Die Konzentration des Vinylchlorids stieg dabei zeitweise auf das 10.600-Fache des internationalen Grenzwertes. Als der Wind sich drehte, kroch die Wolke weiter nach Bulgarien, Rumänien, Ungarn. 550 km südlicher registrierten Wissenschaftler der griechischen Universitäts-Station Xanthi hochgiftige Dioxine und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffverbindungen.

Zum ersten Mal setzte die NATO 1999 auch panzerbrechende Uran-Munition ein. Während des 78-tägigen Krieges wurden 31.000 Uran-Projektile mit etwa 10-15 Tonnen abgereichertem Uran an über 91 Orten verschossen. Vor allem im Kosovo und in Südserbien. Bereits am 22. April 1999 machte die ARD-Sendung Monitor darauf aufmerksam.

Schon wenige Jahre nach Kriegsende beobachten serbische Mediziner wie der führende Belgrader Onkologe Prof. Vladimir čikarić und Frau Professor Danica Grujičić einen dramatischen Anstieg der Krebsrate und Sterblichkeit.

Doch erst im Mai 2018 konnten sie und weitere Ärztekollegen im westabhängigen Belgrader Parlament die Gründung einer Untersuchungskommission für alle Folgen der Angriffe mit Uranmunition und auf die Chemieindustrie durchsetzen. Grujičić recherchierte mit weiteren Ärzten Studien aus dem Irakkrieg:

In dem Moment, in dem es zu einer Explosion kommt [ein Urangeschoss eine Panzerung durchschlägt], existiert Strahlung, danach sind es die Nanopartikel, die die Arbeit verrichten. Sie gelangen in Ihre Lunge, Ihren Verdauungstrakt und Ihre Nieren, und dann können Sie jeden Moment damit rechnen, dass ein Alphateilchen aus abgereichertem Uran, das 50-mal krebserregender ist als jedes andere, {…]in Ihrem Körper eine normale Zelle in eine bösartige Zelle verwandelt.“[4]

Lag die Zahl der jährlichen Krebserkrankungen in Serbien im Jahr 1990 bei 9.899, so stieg sie im Jahr 2000 sprunghaft auf 22.123, im Jahr 2010 auf 26.152 und 2011 auf etwa 33.000 Fälle.[5] Heute erkranken unter den etwa 7 Millionen Einwohnern jährlich 40.000 Menschen an Krebs.

Laut dem Europäischen Krebsinformationssystem (ECIS)[6] lag Serbien 2020 an erster Stelle mit einem Index von 150,6 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner, während der europäische Durchschnitt bei 108,7 Fällen lag.

Prof. Danica Grujicic:

Wir haben Tumore der Atemwege (Lunge), der Brustdrüsen, des zentralen Nervensystems, der Schilddrüse, des Kreislaufs und des Verdauungssystems. Es sind hinsichtlich der Sterblichkeit die Wichtigsten“[7] […] Viele Tumore traten erst nach 10, 15 Jahren auf. Und zwar nicht nur in erhöhter Zahl, sondern auch aggressiver. Wer beispielsweise zuvor einen Gehirntumor hatte, der im Frontallappen, Hinterhauptslappen oder Schläfenlappen lokalisiert war, hat ihn jetzt von frontal bis temporal und immer mehr davon. Tumore sind im wahrsten Sinne des Wortes zu Gehirnkrankheiten geworden.“

Frau Professor Ursula Stephan und Kollegin

Keine Geringere als die damalige Vorsitzende der deutschen Störfallkommission, die Toxikologin Frau Professor Ursula Stephan, hatte bereits wenige Wochen nach dem Kriegsende 1999 die bombardierten serbischen Chemiezentren Pancevo und Novi Sad besucht. Und für den World Wide Fund For Nature (WWF) in Wien ein Gutachten erarbeitet. Über die humantoxikologischen Folgen der Zerstörung. Während sich die moderne Chemieindustrie mit Notfallplänen auf Störfälle vorbereitet, gäbe es, so Prof. Ursula Stephan,

auf kriegsbedingte Gefahrenmomente dieser Dimension keine Gefahrenabwehr. Diese nicht abschätzbaren Gefahren werden als exceptionelle Störfälle bezeichnet.“ [8]

Sozusagen als Super-GAU, eine Katastrophe außer Kontrolle. Vergleichbar mit Tschernobyl oder Fukushima.

Aus 78.000 Tonnen verbrannter Explosiv- und Raketentreibstoffe und den Abgasen aus über 150.000 Flugstunden der Bombenflugzeuge und Marschflugkörper wurden, so die Expertin, zu allen Chemikalien noch über eine Milliarde (1.000 Mio) Kubikmeter luftverschmutzender Substanzen freigesetzt. Angesichts der damals schon laufenden Klimadebatte ein Extraverbrechen. Diese Gesamtmenge an Kohldioxid, Stickstoffoxiden und unverbrannten Kohlenwasserstoffen war seit dem Golfkrieg der größte Beitrag zur Luftverschmutzung und zum Treibhauseffekt! „Es war eine neue Form der chemischen Kriegsführung, quasi ein Gaskrieg“, so Prof. Ursula Stephan.[9]

Ende Februar 2020 gab das serbische Ministerium für Umweltschutz bekannt, dass eine Sitzung des Gemeinsamen Gremiums zur Bestimmung der Folgen der Bombardierung der Republik Serbien für die menschliche Gesundheit und die Umwelt stattgefunden hat. Im Einvernehmen mit dem Gesundheitsministerium, dem Verteidigungsministerium und dem Bildungsministerium. Vorgestellt worden sei ein „Arbeitsprogramm zur Aufklärung der Veränderungen im Zustand der Umwelt und der Natur vor und nach dem NATO-Angriff“.[10]

Doch, so klagte Anfang 2021 Danica Grujičić, das staatliche Gremium zur Ermittlung der Folgen des NATO-Bombenangriffs sei nicht ins Leben gerufen worden. Zu groß war wohl inzwischen die Rücksicht auf die EU-Freunde im Westen:

Selbst im vergangenen Jahr wurde nichts unternommen, damit das aus Vertretern der vier Ministerien der serbischen Regierung bestehende Gremium, das die Folgen des NATO-Bombenangriffs bestimmen sollte, seine Arbeit aufnehmen konnte.“ [11]

Ganz als Eigeninitiative von Danica Grujičić, dem Physiker Dr. Zorka Vukmirović und weiteren 33 Experten legte Ende Juni 2021 nach vielen Bittgängen um Finanzierung die Serbische Gesellschaft zur Krebsbekämpfung eine Dokumentation vor:

Die Wahrheit über die Folgen der NATO-Bombardierung Serbiens im Jahr 1999“

Prof. Danica Grujičić:

Indem wir diese Monographie (mit universellem Wert) Studierenden, Doktoranten und Forschern empfehlen, drücken wir die Hoffnung aus, dass diejenigen, die Entscheidungen treffen, bedenken, dass dies der letzte Moment ist, ein nationales Projekt zur Erforschung der gesundheitlichen und ökologischen Folgen von Kriegshandlungen auf europäischem Boden zu starten.“[12] [ Der NATO-Krieg ..] „war ein hässliches und unmenschliches Experiment für die gesamte Region, nicht nur für Serbien und Montenegro, und ich hoffe, dass die internationale Wissenschaftsgemeinschaft versteht, dass es auf wissenschaftliche Weise untersucht werden muss.“[13]

Christopher Hill, heute US-Botschafter in Serbien, war 1999 schon mit Richard Holbrooke bei den für Serbien unannehmbaren Verhandlungen in Rambouillet dabei. Zum 25. Jahrestag des NATO-Angriffes wurde er am 20. März 2024 im serbischen Staatsfernsehen zu dem Krieg 1999 befragt. Seine Antwort:

Niemand war begeistert von der Bombardierung Serbiens […] Ich verstehe sicherlich, dass dies eine sehr schwierige Zeit der Geschichte war, für die Historiker wahrscheinlich viel Zeit benötigen werden, um sie zu bewältigen […] Aber meine Funktion als Diplomat, im Gegensatz zu einem Historiker oder Anwalt, der zurückblickt, meine Funktion als Diplomat ist es, nach vorne zu schauen.“ [14]

Nach vorne, das heißt vergessen, von einem EU-Beitritt träumen, sich westlichen Strategien andienen. Zur Hälfte mit einem Kredit der Entwicklungsbank des Europarates baut Serbien bis 2026 für 413 Millionen einen gigantischen „Bio4-Campus.“ Mit sieben Fakultäten und neun wissenschaftlichen Instituten, 1.000 Doktoranden und mehr als 4.000 Studenten. In einer Themenkombination von Biomedizin, Biotechnologie, Bioinformatik und Biodiversität.[15] Kernstück ist auch ein Vertrag mit Pfizer und Astra Zeneca. Bekannt für ihre Impfstoffe gegen COVID-19.

Gespräche gibt es auch mit Chinas BGI, einer der größten Genomforschungsorganisationen der Welt, mit den Firmen Roche, Merch Sharp, Dohme und Takeda.

Der neue Premierminister und vorherige Verteidigungsminister Milos Vucevic, die Ministerin für Wissenschaft, technologische Entwicklung und Innovation Jelena Begovic, der Minister für öffentliche Investitionen Marko Blagojevic, die amtierende Direktorin des Instituts für Virologie, Impfstoffe und Serums „Torlak“ Luka Dragacevic sowie Prof. Danica Grujicic gaben gemeinsam den Startschuss. Seitdem sie Gesundheitsministerin ist, schauen vom NATO-Angriff bis heute Betroffene misstrauisch auf sie. Wird ihre kritische Haltung bleiben? Eine Aufarbeitung der Kriegsfolgen gehört bislang nicht zum Campus-Plan.

ENDE


[«1] iskra.co/srbija/protiv-srbije-je-vodjen-nuklearni-i-hemijski-rat-danica-grujicic-o-nato-agresiji/

[«2] Bomben auf Chemiewerke – Umweltschäden nach dem Krieg in Serbien, ORB-Film am 20.09.1999

[«3] military-history.fandom.com/wiki/1999_NATO_bombing_of_Novi_Sad

[«4] iskra.co/srbija/protiv-srbije-je-vodjen-nuklearni-i-hemijski-rat-danica-grujicic-o-nato-agresiji/

[«5] Mihajlo Jovanovic, Folgen der NATO-Aggression gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, Diplomarbeit 2018, Universität Belgrad, Fakultät für Sicherheit

[«6] ecis.jrc.ec.europa.eu/explorer.php?$0-0$1-RS$2-All$4-1,2$3-All$6-0,85$5-2022,2022$7-7,8$CEstByCancer$X0_8-3$CEstRelativeCanc$X1_8-3$X1_9-AE27$CEstBySexBy

[«7] globaleuronews.com/2024/03/27/serbia-says-cancer-cases-rise-after-nato-aggression/

[«8] Quelle: Philip Weller, Jasmine Bachmann, Renate Klaß, Ute Strobel, Ursula Stephan, Kosovo-Konflikt: Der Exceptionelle Störfall, Umweltmed Forsch Prax 5 (1) 2000. Archiviert bei ecomed, Landsberg am Lech, Telefon 08191 125131

[«9] ebenda

[«10] srbija.gov.rs/vest/446112/istrazivanje-o-posledicama-nato-bombardovanja-vazno-za-zdravlje-nacije.php

[«11] vidovdan.org/info/danica-grujicic-opominje-drzavni-organ-za-utvrdjivanje-posledica-nato-bombardovanja-nije-zaziveo/

[«12] odbrana.mod.gov.rs/cir/2312/medija-centar-odbrana

[«13] iskra.co/srbija/protiv-srbije-je-vodjen-nuklearni-i-hemijski-rat-danica-grujicic-o-nato-agresiji/

[«14] svedokonline.medium.com/pre%C4%87utana-kapitalna-knjiga-istina-o-posledicama-nato-bombardovanja-srbije-1999-4ec10c8cda1c

[«15] srbija.gov.rs/vest/en/217398/bio4-campus-project-that-changes-serbia.php

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