Multipolarer Umbau der Welt: Lateinamerika und der Krieg in Gaza

Multipolarer Umbau der Welt: Lateinamerika und der Krieg in Gaza

Multipolarer Umbau der Welt: Lateinamerika und der Krieg in Gaza

Ein Artikel von amerika21

Wieso hat der Gaza-Krieg eine so große Resonanz in Lateinamerika hervorgerufen, und wieso positioniert sich die Mehrheit der lateinamerikanischen Zivilgesellschaft und Regierungen gegen diesen Krieg und bezeichnet ihn als „Völkermord”, während die USA, Israel und die EU ihn mit dem „Selbstverteidigungsrecht” Israels begründen? Von Raina Zimmering.

„Sie zeigen uns einen Völkermord vor unseren Augen. Es ist nicht die Dynamik des alten israelisch-palästinensischen Konflikts. Deutschland, Frankreich, die Europäische Union, das Vereinigte Königreich und vor allem die Vereinigten Staaten in ihrer demokratischen Version unterstützen den Völkermord, den Abwurf von Bomben auf die Köpfe von Menschen. Sie sagen uns, schauen Sie sich unsere militärische Macht an, was in Palästina passiert, kann jedem von Euch passieren, wenn Ihr es wagt, ohne Erlaubnis Änderungen vorzunehmen.”
Gustavo Petro, Präsident Kolumbiens, zum Gaza-Krieg

„Jede Bombe, die auf Gaza fällt, fällt auch auf die Hauptstädte und Metropolen der Welt, sie haben es nur noch nicht begriffen. Aus den Trümmern wird der Schrecken des Krieges von morgen entstehen. […] Die ermordeten palästinensischen Kinder sind kein Kollateralopfer, sie sind Netanjahus Hauptziel, das waren sie schon immer. Dieser Krieg dient nicht der Beseitigung der Hamas. Es geht darum, die Zukunft zu töten. Hamas wird nur das Kollateralopfer sein.”
Marcos, ehemaliger Sprecher der Zapatistischen Front der Nationalen Befreiung (EZLN)

Die eingangs gestellte Frage kann auch nach der Umdisponierung des Westens bei der Zweistaatenlösung im Nahostkonflikt und nach der Zustimmung zu der UN-Resolution für einen „sofortigen Waffenstillstand” im Sicherheitsrat vom 25. März 2024 gestellt werden. Denn erstens ist das noch kein Paradigmenwechsel, und zweitens hat bereits ein Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung mit bisher 36.050 Toten, 81.026 Verletzten, 1,9 Millionen Binnenflüchtlingen (Statista, 28. Mai 2024) und Hungernden vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattgefunden, ohne dass er bis zum jetzigen Zeitpunkt gestoppt werden konnte.

Aus Sicht des „Globalen Südens” ist gerade das für ihn selbst eine Bedrohung in einer sich wandelnden Welt.

Es sollte die Frage gestellt werden, welche Ursachen für die unterschiedliche Betrachtung des Gaza-Kriegs zwischen Lateinamerika und den westlichen Staaten bestehen. Weiterführend kann man die Frage stellen, ob hier ein systemisch bedingter Klassenkampf auf globaler Ebene zugrunde liegt. Zuletzt soll der Frage nachgegangen werden, warum die Mehrheit der lateinamerikanischen Zivilgesellschaft und Staaten diesen Krieg als Bedrohung für die gesamte Menschheit einstuft und ihn als paradigmatisch für den heutigen Wandel in den globalen Beziehungen betrachtet.

Lateinamerika und der Nahe Osten

Was verbindet eigentlich Lateinamerika mit dem Nahen Osten, obwohl die Regionen geographisch weit auseinander liegen? Warum fühlt man sich in Lateinamerika vom Nahost-Konflikt seit jeher und besonders jetzt so angesprochen?

Ein wichtiger Schlüssel ist die gemeinsame koloniale Vergangenheit, die mit der Massenvernichtung der Bewohner der von Europa eroberten Gebiete, der Zerstörung ihrer Kulturen und Gesellschaften und der Ausbeutung ihrer Ressourcen einherging. In Amerika fand nach der Konquista mit der Vernichtung von 90 Prozent der einheimischen indigenen Bevölkerung innerhalb von weniger als 20 Jahren mit schätzungsweise 68 Millionen Toten der größte Genozid der Weltgeschichte statt.

Die kolonial eroberten Regionen blieben auch nach der Erringung der staatlichen Unabhängigkeit gegenüber den Weltzentren zurück und von diesen wirtschaftlich abhängig, sodass diese Länder eine untergeordnete Position in der internationalen Arbeitsteilung mit allen negativen Folgen bis heute einnehmen.

Dies charakterisiert den Nord-Süd-Konflikt mit dem asymmetrischen Verhältnis zwischen Süden und Norden; und der macht letztendlich die strukturelle Gemeinsamkeit zwischen Lateinamerika und dem Nahen Osten aus. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in der US-Hegemonie in beiden Regionen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die lateinamerikanischen Staaten blicken auf eine lange Geschichte von Interventionen und Ausbeutung durch die USA zurück. Das US-amerikanische hemisphärische Verständnis von Lateinamerika als eigener Hinterhof entstand mit der Monroe-Doktrin im Sinne „Amerika den Amerikanern”. Seit der Verkündigung durch Präsident James Monroe 1823 intervenierten die USA hunderte Male gewaltsam in Lateinamerika oder unterstützten aktiv rechte Militärdiktaturen mit Tausenden Toten, Verschwundenen und Gefolterten und brachten Leid, Elend und Tod über die Bevölkerung.

Erst seit Mitte der 1990er-Jahre konnte sich die Region durch zwei „Rosa Wellen” von Mitte-links-Regierungen, die Diversifizierung ihrer Außenbeziehungen, eine Politik der „aktiven Blockfreiheit” und stärkere Süd-Süd-Beziehungen aus der hegemonialen westlichen Umklammerung teilweise befreien und zu einem globalen Akteur bei der Durchsetzung von Multipolarität und Frieden in der Welt werden.

Auch der Nahe Osten war und ist mit Hilfe Israels Einflussgebiet der USA, wo der Zugang zu den reichen Erdölreserven gesichert, eine vom Westen unabhängige oder „nichtkapitalistische” Entwicklung verhindert und eine Gegenmacht zur damaligen Sowjetunion und heute zu Russland aufgebaut werden sollte und soll. Damit zeigen sich trotz aller Unterschiede ähnliche systemische und geopolitische Konstellationen wie in Lateinamerika, wodurch eine Schicksalsgemeinschaft zwischen beiden Regionen entstand.

In den 1960er- bis 2000er-Jahren gab es im Rahmen der Nationalen Befreiungsbewegungen und mit dem „arabischen Frühling” zwischen beiden Regionen viele Ähnlichkeiten, die in einen transnationalen Antiimperialismus mündeten.

Für soziale Bewegungen, linke Parteien und Regierungen in Lateinamerika war das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes immer eine starke Referenz.

Andersherum war Lateinamerika ein bevorzugtes Ziel für palästinensische Flüchtlinge, wovon in Chile mit einer halben Million die meisten der Welt leben, abgesehen von den arabischen Staaten und Israel. Aber auch in Mexiko, Venezuela, Brasilien, Kolumbien, Bolivien und Zentralamerika leben viele Palästinenser und Palästinenserinnen, die sich in die Gesellschaften der Aufnahmeländer und deren arabischstämmige Gemeinden, die am Ende des osmanischen Reiches aus Syrien und dem Libanon nach Lateinamerika kamen, integrierten, aber immer auch eine eigene Identität mit der Option der Rückkehr und Fortführung des eigenen Kampfes über Generationen hinweg beibehielten.

Ausschlaggebend für die lateinamerikanische Wahrnehmung Israels als Stellvertreter der USA war seine Unterstützung für Militärdiktaturen in Mittel- und Südamerika. Als in den 1970er-Jahren im US-Kongress Waffenlieferungen der USA an lateinamerikanische Diktaturen verhindert wurden, sprang Israel ein und lieferte diese Waffen.

Der Chef des Generalstabs der guatemaltekischen Armee unter der Diktatur Ríos Montts sagte z.B.:

„Israel ist unser wichtigster Waffenlieferant und Guatemalas größter Freund in der Welt.”

Israel übergab an Lateinamerika auch Überwachungs- und Ausspähtechnik, darunter an Todesschwadronen, und beriet Diktatoren bei der Unterdrückung und Vernichtung der widerständigen Bevölkerung, insbesondere der Indigenen. Israelische Datenbanken erfassten z.B. 80 Prozent der Bevölkerung in Guatemala, was die hohe Anzahl der Morde dort erklärt. Der Journalist Dan Rather sagte, dass die Israelis dazu rieten, „die Ureinwohner so zu behandeln, wie wir die Palästinenser behandeln: Vertraue keinem von ihnen.”

Israel schickte auch Waffen in größerem Umfang an rechte, mit den Drogenkartellen verquickte Regierungen in Kolumbien. 2021 wurden Waffen für zehn Millionen US-Dollar an Kolumbien verkauft, was neun Prozent der israelischen Waffenexporte entsprach.

Lateinamerikanische Option eines „gerechten Friedens” im Gaza-Krieg

Lateinamerikanische Regierungen forderten zur Beendigung des Nahost-Konflikts seit Langem eine „Zweistaatenlösung”. Bis Ende Juni 2023 war Palästina als souveräner Staat von 139 der 193 UN-Mitgliedstaaten anerkannt worden. Die USA, Israel und die meisten Staaten der EU taten das nicht. Diese Anerkennung erfolgte auf der Grundlage der UN-Resolution von 1967 und einer großen Zahl weiterer Resolutionen.

Zu Beginn des Jahres 2024 änderten die USA und mit ihnen eine Reihe westlicher Staaten ihre Haltung und befürworteten das erste Mal eine Zweistaatenlösung. Allerdings widerspricht das der westlichen Unterstützung der Netanjahu-Regierung mit Waffen und finanziellen Mitteln und den israelischen Umsiedlungsplänen gegenüber den Palästinensern aus Gaza in andere Staaten, den Siedlungsaktivitäten in palästinensischen Gebieten und dem Aufbau einer administrativen Hoheit über Ost-Jerusalem.

In Lateinamerika wird diese „neue Nahost-Strategie der Regierung [von US-Präsident Joe] Biden” deshalb als widersprüchlich gesehen. Man vermutet, dass die bisherigen Regierungsstrukturen und politischen Vertretungen Palästinas zerschlagen, eine westliche Militärpräsenz aufgebaut und neue Institutionen und politische Vertreter in Palästina installiert werden sollen, die prowestlich sind und so das emanzipatorische Potenzial in der palästinensischen Bevölkerung zurückdrängen sollen.

Lateinamerikanische Protestbewegungen gegen den Gaza-Krieg

Als Israel nach dem 7. Oktober 2023 mit der Invasion in Gaza begann, wurde ganz Lateinamerika von riesigen Protestbewegungen überzogen, die den Krieg als „Völkermord” definierten und einen „sofortigen Waffenstillstand” forderten. Das Attentat der Hamas in Israel vom 7. Oktober wird dabei überwiegend abgelehnt, aber als Ergebnis der Besatzungs- und Vernichtungspolitik gegenüber den Palästinensern betrachtet. Den Gaza-Krieg Israels beurteilen die Protestierenden als „unangemessen, überzogen und verbrecherisch”.

In Chile finden vor dem Regierungspalast ständig riesige Demonstrationen zur Unterstützung Palästinas und gegen den Krieg Israels statt. Tausende protestieren in Buenos Aires und anderen argentinischen Städten, wo sich auch die Mütter des Plaza de Mayo beteiligen, die mit weißen Kopftüchern auf ihre während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 verschwundenen Kinder und Enkel aufmerksam machen und besonders die während des Gaza-Krieges getöteten Babies beklagen. Auch in Mexiko wird auf Demonstrationen die Parole „Es ist kein Krieg, es ist Völkermord!” und „Wo sind sie, die Sanktionen gegen Israel?” skandiert. In Brasilien gründeten 50 Organisationen im November 2023 die „Nationale Solidaritätsfront für Palästina”, die das „Komitee Freies Palästina” initiierte.

Auch in rechts regierten Staaten kam es zu zahlreichen Protestaktionen, bei denen die Regierungen aufgefordert wurden, gegen Israel vorzugehen. So forderten Demonstranten in Paraguay, dass die Regierung ihre Gegenstimme gegen die UN-Resolution für eine „sofortige humanitäre Waffenruhe” vom November 2023 rückgängig machen soll.

Autonome emanzipatorische Räume, in denen Basisdemokratie und kollektives Eigentum praktiziert werden, wie die Zapatisten in Chiapas/Mexiko, positionieren sich ebenfalls gegen den Gaza-Krieg. Die Landlosenbewegung MST in Brasilien, die größte soziale Bewegung Lateinamerikas, lieferte Lebensmittel an die eingeschlossene und bombardierte Bevölkerung in Gaza.

Die Haltungen lateinamerikanischer Regierungen zum Gaza-Krieg

In den Haltungen der lateinamerikanischen Regierungen zum Gaza-Krieg kann man deutlich zwischen Mitte-links- und rechten Regierungen unterscheiden. Rechte Regierungen unterstützen Israel bei der Rechtfertigung des Krieges mit dem „Recht auf Selbstverteidigung” und der „Vernichtung der Hamas”.

Der ultrarechte Präsident Argentiniens Javier Milei strebt seit dem 10. Dezember 2023 ein strategisches Bündnis mit den USA und Israel an und möchte die argentinische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen. Anfang Februar 2024 besuchte Milei Israel, wo er den israelischen Präsidenten Isaac Herzog und Ministerpräsident Benjamin Netanyahu traf.

Das Attentat der Hamas vom 7. Oktober 2023 haben die lateinamerikanischen Mitte-links-Regierungen oftmals abgelehnt. Ebenso fordern sie die Freilassung aller von der Hamas verschleppten und festgehaltenen Geiseln, unter denen sich auch Lateinamerikaner befinden. Die Art der Kriegsführung Israels im Gazastreifen halten sie, ebenso wie die Protestbewegungen, für „unverhältnismäßig” und „völkerrechtswidrig”. Sie bezeichnen das Vorgehen Israels in Gaza als „Völkermord” und fordern sofortige Verhandlungen sowie ein schnelles Ende des Krieges.

Kolumbien, Chile, Honduras und Brasilien riefen ihre Botschafter aus Israel zurück. Bolivien, Belize und Kolumbien brachen die diplomatischen Beziehungen vollkommen ab. Chile verbot Anfang 2024 die Teilnahme Israels an der Internationalen Luft- und Weltraumfahrtmesse und stellte seine Waffenimporte aus Israel ein.

Abstimmungsverhalten in der UNO

Auch hier kann man sehr klar zwischen rechten und linken Regierungen unterscheiden. Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva berief 2023 als nichtständiges Mitglied und Vorsitzender des UN-Sicherheitsrates kurz nach dem Attentat der Hamas eine Dringlichkeitssitzung des Rates ein und legte einen Resolutionsentwurf vor für eine humanitäre Waffenpause, die Freilassung der Geiseln und die Sicherung lebenswichtiger Infrastruktur für Zivilisten. Diese Resolution, die schon zu Beginn des Krieges dessen Eskalation und eine humanitäre Katastrophe verhindert hätte, scheiterte am Veto der USA. Die USA legten auch ein Veto gegen zwei weitere Waffenstillstandsresolutionen ein.

In der UN-Vollversammlung vom November 2023 stimmte die Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten für die Resolution für „den Schutz der Zivilbevölkerung und eine sofortige und dauerhafte humanitäre Waffenruhe” – zusammen mit China und Russland gegen die USA und die EU.

Von den lateinamerikanischen Staaten enthielten sich Haiti, Panama und Uruguay der Stimme, Guatemala und Paraguay stimmten gegen die Resolution.

Bei einer weiteren UN-Resolution im Dezember 2023 für einen „Waffenstillstand in Gaza”, die ebenfalls angenommen wurde, enthielten sich Argentinien, Uruguay, Haiti und Panama der Stimme, und Paraguay und Guatemala stimmten dagegen.

Ende März 2024 legten die USA eine eigene Resolution für einen Waffenstillstand im Sicherheitsrat vor, der mit dem Veto Chinas, Russlands und Algeriens und der Enthaltung von Guyana mit dem Argument einer „heuchlerischen Resolution” (Russland) abgelehnt wurde.

Nachdem die nichtständigen Mitglieder des Sicherheitsrates eine neue Resolution ausarbeiteten, wurde diese schließlich am 25. März 2024 vom Sicherheitsrat mit der Stimmenthaltung der USA verabschiedet, was alle lateinamerikanischen Staaten begrüßten. Da Israel diese Resolution ablehnte, entstand das erste Mal ein Dissens zwischen den USA und den mit ihr verbundenen rechten lateinamerikanischen Regierungen einerseits und Israel andrerseits.

Juristische Vorgehensweisen gegen Israel im Gaza-Krieg

Im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg legten lateinamerikanische Staaten einen besonders intensiven juristischen Aktivismus auf internationaler Ebene an den Tag. Die Mitte-links-Regierungen unterstützen die Klage Südafrikas gegen Israel wegen „Völkermords gegen das palästinensische Volk im Gaza-Krieg” beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag. Alle rechten Regierungen sind gegen die Klage.

Südafrika beabsichtigte, in einer vorläufigen Entscheidung des IGHs durch die Feststellung des Völkermordes einen sofortigen Waffenstillstand und somit ein schnelles Ende des Gaza-Krieges zu erreichen. In einem darauffolgenden jahrelangen Prozess sollte endgültig entschieden werden, ob Israel Völkermord begangen hat. Bei der Klage geht es auch um den Nachweis, die israelische Regierung wolle eine ethnische Gruppe eliminieren; das sei durch diesbezügliche Äußerungen verantwortlicher Politiker – wie beispielsweise die öffentliche Aussage des israelischen Generals Ghassan Allians, dass die Bevölkerung im Gazastreifen „menschliche Tiere” seien – deutlich geworden. Israel wies die Klage entschieden zurück.

In der Entscheidung des IGH im Schnellverfahren am 26. Januar 2024 wurde nicht die sofortige Einstellung der Angriffe Israels im Gaza-Streifen gefordert, sondern die Auflage an Israel erteilt, dass es beweisen muss, dass es keinen Genozid verübt, was die Feststellung von genozidalen Absichten durch das Gericht impliziert. Für Südafrika und alle Unterstützer der Klage war das Urteil erst einmal ein Erfolg.

Gleich nach diesem Urteilsspruch des IGH bombardierte Israel den Süden des Gaza-Streifens und die Stadt Rafah, in der sich 1,5 Millionen palästinensische Flüchtlinge aufhielten. Dabei gab es zahlreiche zivile Todesopfer. Die westlichen Staaten lieferten weiter Waffen an Israel und zogen zudem ihre Hilfe für die UN-Hilfsorganisation für Palästina UNRWAR zurück. Dies zeigte, dass der Krieg Israels durch internationale Klagen vorerst nicht eingeschränkt werden konnte.

Am 18. Januar 2024 reichten Chile und Mexiko vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) Klage ein, um die mutmaßlichen Verbrechen „Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit” durch Israel in Gaza feststellen zu lassen.

Zudem warnte die nicaraguanische Regierung Deutschland, Großbritannien, Kanada und die Niederlande öffentlich, dass sie durch ihre Waffenlieferungen an Israel und die Streichung der Gelder für UNRWAR „möglicherweise für eklatante und systematische Verstöße” gegen das Übereinkommen des IGH zur Verhütung von Völkermord im Gazastreifen mitverantwortlich seien. Im Februar 2024 reichte Nicaragua schließlich gegen Deutschland Klage beim IGH ein wegen „Beihilfe zum Völkermord”.

Der Druck Israels und westlicher Staaten auf Lateinamerika und dessen Reaktion

Wie auch im Ukraine-Krieg wird Lateinamerika im Falle des Gaza-Krieges durch Israel, die USA und deren Verbündete unter Druck gesetzt, um eigenständige und vom Westen abweichende Haltungen seiner Regierungen zu behindern. Die USA und ihre Verbündeten wollen nach dem Umschwenken Bidens in der Frage der „Zweistaatenlösung” im Gaza-Krieg die Oberhand über die internationale Konfliktlösung behalten und diese in ihrem Sinne beeinflussen. Damit soll dem Globalen Süden die Handlungsmacht im Gaza-Krieg, wie z.B. die Klagen vor dem IGH und IStGH und antiisraelisches und antiwestliches Stimmverhalten in der UNO, streitig gemacht werden.

Zu den diplomatischen, wirtschaftlichen und militärischen Druckmaßnahmen zählen Sanktionen, eine militärische Abschreckungsstrategie der US-Streitkräfte, wirtschaftliche Integrationsversuche, Lawfare-Verfahren gegen linke Präsidenten und „Farbenrevolutionen”. Es wird versucht, die „Rosa Welle” aufzubrechen und rechte und prowestliche Regierungen an die Macht zu bringen, die wie in Peru, Paraguay und Argentinien im Gaza-Krieg an der Seite Israels und des Westens stehen.

Auch die Zurückdrängung des chinesischen und russischen Einflusses, der ein wichtiger Schlüssel für die Stärkung autonomer Positionen lateinamerikanischer Staaten in der Welt ist, spielt für den Gaza-Krieg eine Rolle. Israel wird seiner Stellvertreterrolle auch hier weitgehend gerecht. Es unterstellt den Mitte-links-Regierungen, „antisemitisch” zu sein und den Terrorismus der Hamas zu unterstützen.

Der Druck Israels und des Westens hatte allerdings nicht nur keine Wirkung auf die lateinamerikanischen Haltungen, sondern führte im Gegenteil dazu, dass Staaten wie Mexiko, Chile und Brasilien, die zunächst moderat waren, sich schärfer gegen den Krieg positionierten, was sich bei der Völkermord-Klage vor dem IStGH durch Mexiko und Chile und dem Hitler-Vergleich durch Präsident Lula zeigte.

Lula sagte:

„Was im Gazastreifen mit dem palästinensischen Volk passiert, hat es zu keinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte gegeben. Tatsächlich ist es passiert, als Hitler beschloss, die Juden zu töten.”

Israel erklärte ihn daraufhin zur „Persona non grata”.

Im Gegensatz zum Westen unterstützten alle Mitte-links-Regierungen Lula und beteuerten, dass dieser die „Wahrheit” gesagt habe, und stellten sich so gegen den Exklusivitätsanspruch des Westens für Hitler-Vergleiche, die es hinsichtlich Putins mehrfach gab. In Lateinamerika werden aus der eigenen Erfahrung Kolonialismus, Holocaust und Völkermord als eine Einheit empfunden und gedacht.

Von Bedeutung für die Resilienz der lateinamerikanischen Mitte-links-Regierungen ist deren kollektives Agieren innerhalb der Süd-Süd-Beziehungen. Auf dem Gipfeltreffen der Bewegung der Blockfreien Staaten (Movimiento de Países No Alineados) im Januar 2024 in Kampala/Uganda verurteilten die 120 Teilnehmer „die illegale militärische Aggression Israels gegen den Gazastreifen” und forderten einen „sofortigen und nachhaltigen humanitären Waffenstillstand”.

Fazit

Die Verurteilung des Gaza-Krieges, das Stimmverhalten in der UNO für eine sofortige Waffenruhe und Zweistaatenlösung und das juristische Vorgehen gegen Israel und dessen Verurteilung wegen Völkermords durch die Mitte-links-Regierungen Lateinamerikas sind Ergebnis zweier Phänomene:

Erstens ist Lateinamerika zusammen mit Palästina Teil des Globalen Südens, der sich im Sinne eines globalen Klassenverhältnisses in einem asymmetrischen Unterordnungsverhältnis zum Westen befindet, dessen Hauptprotagonisten die USA und ihr Stellvertreter Israel sind.

Zweitens versuchen die Staaten des Globalen Südens, im Rahmen des Übergangs vom Uni- zum Multilateralismus in den globalen Beziehungen aus dem bisherigen Unterordnungsverhältnis herauszutreten und eine größere Autonomie aufzubauen, was sich in der Haltung der Mitte-links-Regierungen Lateinamerikas zum Gaza-Krieg deutlich zeigt.

Dieser globale Transformationsprozess führt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die das bisherige internationale Regime der UNO und die bisherige Diplomatie nicht mehr verhindern können und Völkermord immer mehr zum Mittel der Konfliktaustragung machen. Die mehrheitliche internationale Verurteilung des Gaza-Krieges, die weltweiten Proteste und die juristischen Versuche der Eindämmung durch die Weltgerichte konnten weder das Attentat vom 7. Oktober noch den grausamen Völkermord in Gaza verhindern.

Das macht die Zäsur im internationalen System und eine neue Phase der Auseinandersetzung zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Westen deutlich, wofür der Gaza-Krieg paradigmatischen Charakter hat.

Nach Ansicht der Mehrheit der Lateinamerikaner ist ein neues gesellschaftliches System notwendig, das die Zapatisten schon heute vorweisen und das nach Präsident Petro in einer nichtkapitalistischen „dekarbonisierten Ökonomie” sowie in neuen friedlichen, multipolaren internationalen Machtverhältnissen bestünde.

Leicht redigierte Fassung des Beitrages von Raina Zimmering aus der Zeitschrift „Marxistische Erneuerung”, Z. 158, Juni 2024. Online zuerst bei Amerika21 erschienen.

Titelbild: Shutterstock / Shawn Goldberg