Der Angriff der Ukraine auf Module des russischen Frühwarnsystems gefährdet nicht zuletzt unsere eigene Sicherheit. Für eine „Kopernikanische Wende in der Sicherheitspolitik“ plädiert Leo Ensel, Konfliktforscher und Publizist. „Im Atomzeitalter ist Sicherheit nur noch zusammen mit, nie aber gegen den ‚Gegner‘ möglich!“, sagt er. Das Gespräch führte Hans-Peter Waldrich. Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.
Hans-Peter Waldrich: Herr Ensel, die Ukraine hat am 23. Mai im Nordkaukasus in Armawir und am 26. Mai im sibirischen Orenburg Teile des russischen Atomraketen-Frühwarnsystems mit Drohnen attackiert. Die Radare dienen dazu, einen möglichen nuklearen Erstschlag der NATO zu erkennen. Sie sind Mitglied einer Initiative von Informatikern, KI-Spezialisten und Politikwissenschaftlern, die warnt, solche Angriffe könnten einen Atomkrieg auslösen. Was ist daran so gefährlich?
Leo Ensel: Zunächst: Ich bin zwar Mitglied der von Informatikern ins Leben gerufenen Initiative gegen einen „Atomkrieg aus Versehen“, aber selbst kein Informatiker, sondern Konfliktforscher. Man muss aber kein Informatiker sein, um die Tragweite der ukrainischen Angriffe auf Module des russischen Raketenabwehrsystems zu erkennen:
Die globale „Sicherheitsstruktur“ – wenn man sie überhaupt so nennen darf – zwischen den Atommächten USA und Russland beruht nach wie vor, wie im ersten Kalten Krieg, auf dem „Prinzip der gesicherten Zweitschlagsfähigkeit“. Auf Deutsch: Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter! Wenn die russische Zweitschlagsfähigkeit – z.B. durch gezielte Attacken auf Module des russischen Raketenabwehrsystems, dessen Aufgabe es ist, anfliegende ballistische US-Interkontinentalraketen rechtzeitig zu identifizieren – ausgeschaltet oder auch nur eingeschränkt wird, wäre Russland „geblendet“. Es könnte also im Krisen- oder Ernstfall nicht mehr rechtzeitig reagieren. (By the way: In der Logik der wechselseitigen Abschreckung würde es bereits ausreichen, wenn Russland sich geblendet fühlen würde!) Damit wäre die – extrem wackelige – Logik, auf der die „Sicherheit“ unseres gesamten Planeten seit Jahrzehnten basiert, eliminiert und die Wahrscheinlichkeit, dass Russland in einem akuten „gefühlten Krisenfall“, womöglich mit Atomwaffen, irrational handelt, würde in astronomischem Ausmaß anwachsen.
Insofern war der ukrainische Angriff auf die Module des russischen Raketenabwehrsystems auch ein Angriff auf unsere, nein: auf die globale Sicherheit! Es ist, nebenbei bemerkt, schwer vorstellbar, dass diese Attacken ohne Rücksprache mit dem wichtigsten ukrainischen Verbündeten erfolgt sein sollen. Vielleicht gab es ja auch eine Anweisung …
Eingewendet wird doch, dass wir Putin daran hindern müssen, gegenüber der Ukraine auf Dauer Erfolge einzufahren, weil sonst die Gefahr besteht, dass er seine Großmachtträume bald etwa durch Übergriffe auf die baltischen Staaten vorantreiben wird. Ist daher als Teil der ukrainischen Verteidigungsstrategie nicht jeder Angriff auf russische militärische Strukturen gerechtfertigt?
Mit den Modulen des russischen Raketenabwehrsystems („Woronesch-Radar“) wurden, wie kürzlich nochmals überzeugend dargelegt wurde, keine russischen Angriffspotenziale attackiert, sondern ein System, dessen Zweck es ist, einen möglichen nuklearen Erstschlag der USA bzw. der NATO rechtzeitig zu identifizieren. Dieses System spielt im aktuellen russischen Krieg gegen die Ukraine überhaupt keine Rolle, Attacken darauf beschädigen allerdings – siehe oben – die gesamte globale Sicherheit!
Zu Ihrer ersten Bemerkung, die in der aktuellen Medienberichterstattung eine, nein: die Hintergrundmelodie in Endlosschleife darstellt: Dass Putin angeblich nach einem Sieg über die Ukraine als nächstes Polen oder das Baltikum angreifen will, dass übermorgen am Ende wieder russische Panzer durchs Brandenburger Tor rollen, ist eine völlig aus der Luft gegriffene Behauptung westlicher Propagandisten, deren Ziel es ist, den Krieg in der Ukraine, der schnellstmöglich mit diplomatischen Mitteln beendet werden muss, ad infinitum zu verlängern und die USA, NATO und EU immer tiefer in das Kriegsgeschehen hineinzuziehen – wobei die Kriegsziele völlig nebulös bleiben. Nach verschiedenen Berechnungen liegen die Militärausgaben der NATO zwischen dem 15- und dem 20-Fachen der russischen. Die NATO hat insgesamt das 3,6-Fache an Soldaten unter Waffen. Bei schweren konventionellen Waffen ist die NATO so gut wie haushoch überlegen. Dagegen könnte Russland höchstwahrscheinlich noch nicht einmal die gesamte Ukraine ‚schlucken‘, geschweige denn ‚verdauen‘. Immerhin führten in der Westukraine Teile der nationalistischen Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) noch bis Anfang der Fünfzigerjahre einen hartnäckigen Partisanenkrieg gegen die sowjetischen Besatzer.
Noch etwas zu Ihrer Bemerkung, „jeder Angriff auf russische militärische Strukturen“ sei „gerechtfertigt“: Alle Akteure stehen in der Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Krieg sich nicht noch weiter ausbreitet: zu einem europäischen, am Ende gar zum dritten Weltkrieg, der früher oder später mit thermonuklearen Bomben geführt würde und das Ende der Menschheit, ja allen Lebens auf diesem Planeten bedeuten könnte! Aus diesem Grund hatte Joe Biden es auch seit Kriegsbeginn abgelehnt, die Ukraine mit Waffensystemen auszustatten, die in der Lage wären, russisches Terrain in der Tiefe zu attackieren.
Aber diese rote Linie wird gerade zunehmend aufgeweicht, was im Umkehrschluss nichts anderes bedeutet, als dass wir dem thermonuklearen Abgrund jede Minute näher kommen … Es gibt Risiken, die nicht eingegangen werden dürfen!
Ich komme darauf zurück, dass die Initiative, der Sie angehören, vor einem Atomkrieg aus Versehen warnt. Welche Versehen wären es denn beispielsweise, durch die eine nukleare Auseinandersetzung rein zufällig entstehen könnte?
Werfen wir, um die aktuelle Situation besser verstehen zu können, nochmals einen Blick zurück in die Zeit des ersten Kalten Krieges, die ja bereits gefährlich genug war. Damals hatten wir es im Wesentlichen mit zwei Akteuren zu tun, die sich mit der Drohung einer möglichen nuklearen Totalvernichtung gegenseitig in Schach hielten. Schon in dieser Epoche kam es immer wieder zu sogenannten Critical Incidents, wo die Welt kurz vor einem Atomkrieg stand. Ich erinnere an die Kubakrise, die in erster Linie durch die umsichtige Diplomatie der damaligen Staatschefs John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow – übrigens beide an ihren jeweiligen Militärs und Geheimdiensten vorbei – gerade noch rechtzeitig beigelegt werden konnte.
Ich erinnere aber vor allem an die zahlreichen Unfälle und Fehlalarme, bei denen die Welt um ein Haar an einem nuklearen Desaster vorbeischrammte. Am Bekanntesten ist ja der Fehlalarm im russischen Raketenabwehrzentrum bei Moskau vom 26. September 1983, bei dem die Welt vermutlich nur dank des mutigen und besonnenen Handelns des leitenden Offiziers, des russischen Oberstleutnants Stanislaw Petrow, einem Dritten Weltkrieg entkam. (Ich habe Petrow noch neun Monate vor seinem Tod in seiner Plattenbauwohnung in Frjasino bei Moskau besucht und mich bei ihm bedankt.) Einschlägig ist die bekannte Feststellung von Leon Wieseltier: Nukleare Abschreckung ist „wahrscheinlich das einzige politische Konzept, das total versagt, wenn es nur zu 99,9 Prozent erfolgreich ist.“
Heute befinden wir uns längst wieder in einem neuen, noch gefährlicheren Kalten Krieg: Wir leben nicht mehr in einer bipolaren, sondern in einer multipolaren Welt – ob das den USA passt oder nicht! Die Anzahl der Atommächte ist mittlerweile auf insgesamt neun angewachsen, Tendenz steigend. Zugleich werden die Trägersysteme für atomare Sprengköpfe immer zielgenauer und schwieriger zu orten. Trägersysteme, die keine ballistischen Bahnen beschreiben, wie Marschflugkörper oder Hyperschallraketen, können im Anflug praktisch gar nicht mehr eliminiert werden. Je näher diese Systeme an das gegnerische Terrain rücken, desto kürzer werden die Vorwarnzeiten. Zudem verwischt sich die Grenze zwischen Atomwaffen und sogenannten „konventionellen Waffen“ immer mehr. Anfliegenden Trägersystemen ist nicht anzusehen, ob sie „konventionell“ oder nuklear bestückt sind. Mit der Entwicklung vergleichsweise „kleiner“ Atomsprengköpfe wächst die Versuchung, Nuklearwaffen auch tatsächlich einzusetzen. Und Militärs handeln immer nach dem Worst-Case-Prinzip, was im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung eben diesen Worst Case umso wahrscheinlicher macht …
Mit einem Wort: Die Zahl der zu bearbeitenden Informationen wird immer größer, während die Vorwarnzeit, zu Ende gedacht, gegen Null tendiert. In dieser Situation müssen immer mehr Teilentscheidungen an sogenannte Künstliche Intelligenz ausgelagert werden, die ihrerseits fehleranfällig ist. Am Horizont zeichnet sich also nichts weniger ab als die gespenstische Vision der Entscheidung über Sein oder Nichtsein unseres gesamten Planeten durch Künstliche Intelligenz, sprich: durch Automaten! Idyllische Zeiten, als ein Mann wie Petrow immerhin noch um die acht Minuten Zeit hatte, als Mensch aus Fleisch und Blut eine Entscheidung zu treffen.
Alles hört sich so an, als sei die Sicherheit eines einzelnen Landes wie etwa Deutschland engstens mit der Sicherheit aller anderen Länder verbunden. Heißt das nicht, dass auch im Ukrainekrieg immer mitbedacht werden muss, welche Auswirkungen deren Verteidigung auf den Rest der Welt hat? Ist es daher zielführend, die Ukraine zu immer offensiverem Verhalten gegenüber Russland zu ermutigen?
Wie bereits angedeutet: In einer Situation, die jederzeit zu einem dritten Weltkrieg eskalieren kann, haben alle Akteure die Pflicht, genau dies zu verhindern! Was letztlich nur bedeuten kann, diesen Krieg schnellstmöglich zu beenden, und was im Übrigen auch der einzige Weg wäre, die geschundene Ukraine, die gerade zu Tode verteidigt wird, sprich: ausblutet – das Durchschnittsalter der kämpfenden Männer beträgt mittlerweile 43 Jahre – und in der immer weitere Landstriche auch mit westlichen Waffen wie Minen, Uran- und Streumunition auf Jahre, gar Jahrzehnte unbewohnbar gemacht werden, gerade noch zu retten.
Grundsätzlich gilt: Wenn sich eine der kämpfenden Parteien definitiv in die Ecke gedrängt fühlen wird – was bei der Ukraine de facto bereits der Fall ist – dann steigt die Wahrscheinlichkeit irrationalen Verhaltens dramatisch. (Die aktuellen ukrainischen Attacken auf Module des russischen Raketenabwehrsystems ordne ich genau in diese Logik ein.) Im – unwahrscheinlicheren – Falle, dass Russland sich in dieser Situation befände, würde dieses Land der Welt definitiv beweisen, dass es eine Atommacht ist … ! (Es gibt ja dort bereits Stimmen einflussreicher Politikberater, die ungeniert für sogenannte „präventive nukleare Vergeltungsschläge“ werben.) Je länger also der Krieg noch dauert, desto mehr werden sich alle Akteure radikalisieren und die Risiken für den gesamten Planeten ins Unermessliche steigern.
Die relevanten Akteure haben das offenbar alle vergessen. Dabei hatten es Männer wie Willy Brandt, Olof Palme und Michail Gorbatschow bereits vor Jahrzehnten auf den Punkt gebracht: Im Atomzeitalter ist Sicherheit nur noch zusammen mit, nie aber gegen den ‚Gegner‘ möglich! In diesem Sinne sind also alle – ob es uns passt oder nicht – heute ‚Sicherheitspartner‘. Es wird allerhöchste Zeit, nach diesem Prinzip der „Gemeinsamen Sicherheit“ wieder zu denken und zu handeln! Michail Gorbatschow nannte dies „Neues Denken“.
Ist aber Sicherheit nicht durch gute Technik möglich? Immerhin verfügen wir jetzt auch über Künstliche Intelligenz, die gemeinsam etwa mit Überwachung aus dem Weltraum zumindest aktuell Sicherheit viel besser garantieren kann als noch vor einigen Jahren.
Das Gleiche, wie oben gesagt, gilt auch für die Technik: Keine noch so ausgeklügelte Technik oder Künstliche Intelligenz wird uns retten können, denn die tiefste Wurzel der gesamten Malaise liegt nicht in mangelnder oder unperfekter Technologie, sondern in dem abgrundtiefen Misstrauen, das alle rivalisierenden geopolitischen Akteure gegeneinander hegen! Wir benötigen also tatsächlich eine „Kopernikanische Wende im Denken und Handeln“, indem sich alle relevanten militärischen und politischen Akteure – über alle Gegensätze und Feindschaften hinweg – wieder zu einer Politik des „Neuen Denkens“ durchringen: Zu Diplomatie, zu Verhandlungen, zu einer Politik der Deeskalation und der schrittweisen Rekonstruktion des Vertrauens hin zu einer neuen europäischen Sicherheitsordnung nach den Prinzipien der „Charta von Paris“ vom November 1990, deren zentraler Satz ja lautete:
„Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“
Herr Ensel, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Zu den Autoren:
Hans-Peter Waldrich ist ein bekannter deutscher Politikwissenschaftler und Publizist.
Leo Ensel ist Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/ Osteuropa“.