Angriff auf das Atomraketen-Frühwarnsystem Russlands und das Desinteresse der Bundesregierung

Angriff auf das Atomraketen-Frühwarnsystem Russlands und das Desinteresse der Bundesregierung

Angriff auf das Atomraketen-Frühwarnsystem Russlands und das Desinteresse der Bundesregierung

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

Innerhalb kurzer Zeit hat die Ukraine im Mai zweimal Radaranlagen des russischen Atom-Frühwarnsystems, das anfliegende interkontinentale Atomraketen erkennen soll, angegriffen. Im Gegensatz zum österreichischen Bundesheer, welches offiziell von einem „hochbrisanten Zündstoff für eine neuerliche, gefährliche Eskalation“ spricht und darauf verweist, dass der Angriff die Bedingungen erfüllt, „die Russland im Jahr 2020 öffentlich für gegnerische Angriffe festgelegt hat, die einen nuklearen Vergeltungsschlag auslösen könnten“, gibt sich die deutsche Regierung auf Nachfrage der NachDenkSeiten auf der Bundespressekonferenz völlig desinteressiert. Von Florian Warweg.

Während wie im Video dokumentiert, die Bundesregierung in Form von Regierungssprecher Steffen Hebestreit zum einen die Angriffe selbst infrage stellt („so es sie denn gegeben haben sollte“) und auch sonst keinen Grund sieht, die Angriffe auf eines der zentralen Elemente des nuklearen Gleichgewichts zwischen der Russischen Föderation und den USA zu kritisieren, spricht das österreichische Bundesherr Klartext und dies bereits am 26. Mai, also mehrere Tage vor der Bundespressekonferenz:

Der weithin für seine nüchternen und objektiven Militäranalysen bekannte und geschätzte österreichische Militärexperte, Oberst des Generalstabsdienstes, Dr. Markus Reisner, spricht auf der offiziellen Website des Bundesheers zum einen, ganz im Gegensatz zur deutschen Bundesregierung, davon, „dass zumindest eines der beiden in Armawir stationierten russischen Voronezh-DM-Frühwarnradarsysteme bei einem gezielten Angriff schwer beschädigt wurde“, und verweist ebenso darauf, dass die betroffenen Frühwarn-Radare (Voronezh-DMs) „ein integraler Bestandteil des strategischen Frühwarnerkennungssystems Russlands“ sind und dass deren Ausfall „die Fähigkeit des Landes, ankommende nukleare Bedrohungen zu erkennen“, beeinträchtigt.

Bezeichnend ist auch, wie der Oberst des österreichischen Generalstabs die Rolle der USA bei diesem Angriff einschätzt:

„Es ist daher durchaus schlüssig, dass die USA mit dem durch die Ukraine ausgeführten Angriff auf die Voronezh-DMs in Armawir Russland zeigen möchte, dass man die unerträgliche Situation der russischen Drohungen mit Atomwaffen nicht länger akzeptieren möchte.“

Darauf aufbauend erklärt er dann abschließend:

„Es bleibt nun abzuwarten, wie oder ob Russland auf diesen Angriff auf seine nukleare Abschreckungskapazität reagiert. Das russische Frühwarnerkennungssystem ist Teil der nuklearen Abschreckungsstrategie des Landes. Der Angriff auf Armavir könnte die Bedingungen erfüllen, die Russland im Jahr 2020 öffentlich für gegnerische Angriffe festgelegt hat, die einen nuklearen Vergeltungsschlag auslösen könnten. Hinzu kommt der Umstand, dass eine mögliche Zusammenarbeit Russlands mit seinen engen Verbündeten im Raum eingeschränkt wurde, zum Vorteil von engen Partnern der USA.“

Damit sich die NachDenkSeiten-Leser ein umfassendes Bild machen können, geben wir im Folgenden die gesamten Darlegungen von Oberst Reisner im Wortlaut wieder:

  1. Warum ist der mutmaßliche ukrainische Drohnenangriff auf die russische Radarstation Armawir im Südwesten der Region Krasnodar überaus bemerkenswert?

    Auf den vorgestern aufgetauchten Bildern ist zu erkennen, dass zumindest eines der beiden in Armawir stationierten russischen Voronezh-DM-Frühwarnradarsysteme bei einem gezielten Angriff schwer beschädigt wurde. Russland verfügt derzeit über bis zu zehn derartige Frühwarnradarsysteme. Sie sind über ganz Russland verteilt, auf Standorten in Murmansk, bei St. Petersburg, in Kaliningrad, in Barnaul, in Omsk, bei Irkutsk, bei Workuta, in Krasnogorsk und im genannten Armawir. Letztere aus zwei Radaren bestehende Anlage wurde gebaut, um ähnliche, ursprünglich in der Westukraine und auf der Krim installierte sowjetische Systeme zu kompensieren.

    Bei diesen Voronezh-DM-Radaren handelt es sich um „Over-the-Horizon“ (OTH) – „Ultra High Frequency“ (UHF)-Radare, welche Teil des russischen Frühwarnradarsystems zur Erkennung ballistischer Raketen sind. Die Radare haben eine Reichweite von horizontal 6.000 und vertikal 8.000 Kilometern. Ihr Ziel ist es, vor allem anfliegende amerikanische Atomraketen früh erkennen zu können, um rasch eigene Maßnahmen, darunter im äußersten Fall einen russischen nuklearen Gegenschlag, einleiten zu können. Denkbar ist auch die Weitergabe von Frühwarndaten an Verbündete, wie z.B. dem Iran, Nordkorea oder China.

  2. Welchen Nutzen hätte die Ukraine von solch einem Angriff auf russische Frühwarnradarsysteme?

    Die Ukraine verfügt nur mehr über Raketenwaffen mit begrenzter Reichweite. Eigene Systeme wie Tochka-U sind verbraucht und an vom Westen gelieferten Systemen sticht das von den USA stammende System Army Tactical Missile System (ATACMS) heraus. Dieses hat eine Reichweite von 300 Kilometern bei einer Flugbahnhöhe von bis zu 60 Kilometern. Man könnte nun mutmaßen, dass die ukrainischen Streitkräfte Armawir ins Visier genommen haben könnten, weil sie befürchteten, dass der Standort dazu beitragen könnte, eine Vorwarnung für ihre Angriffe mit von den USA gelieferten ballistischen ATACMS zu geben. Armawir befindet sich jedoch knapp 700 Kilometer von möglichen ATACMS Abschussräumen bei Cherson entfernt. D. h. aufgrund des Voronezh-DM-Radarhorizonts ist es bei dieser Reichweite schwierig, mit niedriger Scheitelbahnhöhe fliegende ATACMS-Raketen zu detektieren. Die anvisierte einfliegende Rakete sollte sich zur exakten Messung zumindest in einer Höhe von über eintausend Kilometern befinden. Interkontinentalraketen fliegen in der Regel in Höhen von bis zu 2.000 Kilometern – also im optimalen Detektionsbereich des Voronezh-DM-Radars. Für taktische Kurzstreckenraketen, wie ATACMS, sind andere Radarsysteme vorgesehen.

  3. Gibt es noch ein anderes Erklärungsmodell für einen Angriff und warum ist dieses bedeutungsvoll?

    Die beiden russischen Voronezh-DMs in der Anlage bei Armawir sind ein integraler Bestandteil des strategischen Frühwarnerkennungssystems Russlands, und ihr Ausfall könnte die Fähigkeit des Landes, ankommende nukleare Bedrohungen zu erkennen, beeinträchtigen. Im Moment befinden sich die russischen Streitkräfte in der Ukraine in der Initiative. Dies wird zudem hinterlegt bzw. abgesichert mit fortlaufenden russischen Drohungen betreffend eines Einsatzes von Mitteln des eigenen Nuklearpotentials.

    Im Herbst 2022, kurz vor dem überraschenden Abzug der vor dem Einschluss stehenden russischen Truppen aus dem Brückenkopf bei Cherson, berichteten die US-Geheimdienste von möglichen Vorbereitungen eines russischen taktischen Nukleareinsatzes. Nicht zuletzt derartige Ereignisse erklären das überlegte, aber nicht überschießende Vorgehen der USA (Strategie „Boiling the Frog“) gegenüber Russland. Es ist daher durchaus schlüssig, dass die USA mit dem durch die Ukraine ausgeführten Angriff auf die Voronezh-DMs in Armawir Russland zeigen möchte, dass man die unerträgliche Situation der russischen Drohungen mit Atomwaffen nicht länger akzeptieren möchte.

    Ist dies tatsächlich der Fall, lassen sich zwei weitere Feststellungen treffen: Erstens ist die Lage in der Ukraine überaus ernst und zweitens ist der Krieg um die Ukraine neuerlich eskaliert. Es bleibt nun abzuwarten, wie oder ob Russland auf diesen Angriff auf seine nukleare Abschreckungskapazität reagiert. Das russische Frühwarnerkennungssystem ist Teil der nuklearen Abschreckungsstrategie des Landes. Der Angriff auf Armavir könnte die Bedingungen erfüllen, die Russland im Jahr 2020 öffentlich für gegnerische Angriffe festgelegt hat, die einen nuklearen Vergeltungsschlag auslösen könnten. Hinzu kommt der Umstand, dass eine mögliche Zusammenarbeit Russlands mit seinen engen Verbündeten im Raum eingeschränkt wurde, zum Vorteil von engen Partnern der USA.

Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 29. Mai 2024:

Regierungssprecher Hebestreit:
(…) Grundsätzlich hat der Bundeskanzler gestern auch noch einmal darauf verwiesen, dass die Ukraine von Russland überfallen worden ist, kontinuierlich in einem brutalen Angriffskrieg verwickelt worden ist, dass das Völkerrecht eindeutig ist, was die Rechte und Möglichkeiten der Ukraine, sich zu verteidigen, angeht, und dass ein solcher Verteidigungskampf nicht auf das eigene Staatsgebiet begrenzt ist, sondern selbstverständlich auch auf das Staatsgebiet des Aggressors erweitert werden kann.

Frage Warweg
Herr Hebestreit, Sie haben noch einmal das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung betont. Jetzt hat die Ukraine im Mai zweimal das russische Atomraketen-Frühwarnsystem angegriffen. Fallen für den Kanzler auch diese Angriffe unter den Bereich der Selbstverteidigung?

Hebestreit
Ich bin hier nicht in einer Position, einzelne Maßnahmen des ukrainischen Militärs, so es sie denn gegeben haben sollte, zu beurteilen. Vielmehr habe ich die Position, die wir haben und die der Bundeskanzler auch formuliert hat, sehr klar gemacht, und dabei ist das Völkerrecht das Völkerrecht.

Zusatzfrage Warweg
Mich würde es aber trotzdem interessieren. Das waren zwei Angriffe, die international für Aufmerksamkeit gesorgt haben. Selbst sehr ukrainefreundliche Analysten, auch Politiker, haben sie mit dem Verweis darauf, dass ein Angriff auf Frühwarnsysteme für Atomwaffen nicht zielführend gewesen sei, kritisiert. Teilt der Kanzler diese Einschätzung?

Hebestreit
Genau darüber habe ich mit dem Kanzler nicht gesprochen. Insofern kann ich Ihnen das nicht liefern. Der Kanzler war unlängst empört über den Beschuss eines Baumarkts in der Ukraine durch Russland. Das hat ihn sehr empört, und darüber habe ich mit ihm gesprochen.

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Titelbild: Screenshot vom NDS-Video der Bundespressekonferenz vom 29. Mai 2024