Wir sind Ukraine!

Wir sind Ukraine!

Wir sind Ukraine!

Ein Artikel von Rupert Koppold

Die Ukraine ist ein Hort der Freiheit und der Demokratie, die EU pflegt ihren Garten Eden und Boris Pistorius ist Pazifist. Rückblicke, Ausblicke und Anmerkungen zum blaugelben Stellvertreter-Patriotismus unserer Politik und unserer Medien. Von Rupert Koppold.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Achtung! Die folgenden Zitate haben sich erledigt! Sie sind ungültig, sie sind nur noch: Vorkriegsgeschwätz. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) etwa schrieb am 22. April 2019 über die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine:

„Alles, nur nicht noch mehr Poroschenko, das war die zentrale Botschaft dieser Wahl. Doch Wolodymyr Selenskys kometenhafter Aufstieg ist ebenfalls Ausdruck des kranken ukrainischen Systems: Er war nur möglich, weil ukrainische Medien von Oligarchen dominiert werden, die bestimmen, wer in ihre Fernsehsender kommt – und wer nicht…“

Ja, das waren manchmal verwirrende Zeiten, als die proukrainisch-publizistische NATO-Einheitsfront ihre Stellungen noch nicht ganz gesichert hatte!

Einen Tag später legte die Zeitung sogar nach und schrieb, dass der Oligarch Ihor Kolomoisky nicht nur Selenskyj ins Amt gehievt, sondern auch faschistische Söldner für den Kampf im Donbas angeheuert hatte:

„Auch als Kolomoisky, jetzt in der Ukraine wichtigster Wahlhelfer des neuen Präsidenten Wolodymyr Selensky, zu Beginn des Krieges gegen Russland Anfang 2014 zum Gouverneur seiner Heimat, der Region Dnipro, ernannt wurde, pflegte er den robusten Stil, der ihn zu einem der gefürchtetsten Geschäftsleute des Landes gemacht hatte. Im Kampf gegen die Russen bezahlte Kolomoisky den Aufbau der Freiwilligenbataillone ,Dnipro‘ und ,Asow‘ und bot seinen Männern 10 000 Dollar für jeden gefangenen Russen.“

Wobei mit „Russen“ vermutlich die ostukrainische Bevölkerung und deren Kämpfer gemeint sind, die das Nach-Putsch-Regime nicht anerkennen wollten.

Milliardenklau und Pandora Papers

Auch knapp zwei Jahre später konnte die SZ keine Verbesserung der Lage erkennen. „Ukraine: Korrupt wie eh und je“, so lautete am 25.2.2021 die Überschrift zu einem vernichtenden Text über das System Selenski.

„Ein funktionierender Staat braucht unabhängige Institutionen – die gibt es unter Selenskij weiterhin nicht. Im Gegenteil, 2020 unterstellte er sich faktisch die zuvor halbwegs unabhängige Zentralbank und die Generalstaatsanwaltschaft; so gut wie alle angesehenen Reformer wurden gefeuert. Der Geheimdienst SBU, die atemberaubend korrupten Gerichte, die Gremien zur Richterauswahl und -entlassung: Sie alle bleiben unangetastet.“

Das Fazit des Artikels: „Würden in der Ukraine nicht Milliarden geklaut, bräuchte das Land keine Kreditmilliarden aus dem Westen.“

Im Oktober 2021 tauchten die Pandora Papers auf. Wer führte die Hitliste der Geldwäscher und Steuerhinterzieher an? Der Tagesspiegel:

„Gleich 38 Ukrainer, so viel wie aus keinem anderen Land, werden in den sogenannten Pandora Papers genannt. Unter ihnen auch Präsident Selenski selbst…“

Aber wie gesagt: alles Vorkriegsgeschwätz! Danach gilt in deutschen Mainstreammedien das, was die alt-grünen Ukraine-Propagandisten Ralf Fücks und Marieluise Beck für ihr Zentrum Liberale Moderne als Devise ausgeben:

Im Krieg hat Wolodymyr Selenskyj beeindruckendes Format bewiesen und ist mit seiner Regierung zum Anker für Ukrainerinnen und Ukrainer im Freiheitskampf gegen Putins perfiden Überfall geworden. Alle Kritik an seiner Politik aus der Zeit vor dem Angriff auf sein Land ist angesichts der aktuellen Situation bedeutungslos geworden.“

Journalismus im Kampfanzug

Nun ist die Ukraine über Nacht zu einem leuchtenden Hort der Freiheit und der Demokratie geworden, jetzt geht es nur noch gegen ein abgrundtief böses Putin-Dunkel-Russland, jetzt arbeitet der deutsche Mainstream-Journalismus fast nur noch im NATO-Kampfanzug. Korrespondenten bringen Kameras und Worte in Stellung, lassen Bilder und Sätze gegen den russischen Feind fliegen. So viel Artillerie, so viele Panzer, so viele Flugzeuge und Drohnen waren in deutschen Medien noch nie zu sehen! Harald Welzer und Leo Keller kommen in ihrer Medienanalyse zu dem Schluss:

„An der seit Kriegsbeginn stattfindenden normativen Umformatierung zentraler gesellschaftlicher Ziele und zivilisatorischer Minima – von Frieden auf Rüstung, von Klimapolitik auf Verteidigungspolitik, von diplomatischen Konfliktlösungsstrategien auf militärische – hat der politische Journalismus, wie unsere Befunde zeigen, jedenfalls einen guten Anteil. Bleibt zu hoffen, dass die grosse Eskalation eines entgrenzten Kriegs oder eines Atomkriegs auch dann ausbleibt, wenn so viele ihre Aufgabe darin zu sehen scheinen, sie herbeizuschreiben.“

Der mediale Krieg weitet sich aus, er macht vor nichts mehr Halt. In der Instagram-Begleitung des ZDF- und ARD-Kinderkanals Logo unterhalten sich mit Mädchenstimmen der französische Marschflugkörper Scalp und der britische Storm Shadow mit dem deutschen Taurus – alle drei animiert mit Mund, Nase, Augen – darüber, warum Taurus noch nicht mitfliegen darf. Scalp sagt: „Lass mich raten, du darfst deswegen nicht in die Ukraine, weil euer Kanzler mal wieder zögert und zaudert?“

Eine ungebremste Propaganda- und Desinformationsmaschine rattert Richtung Krieg. Es wird manipuliert, unterdrückt, verzerrt, verfälscht und einfach so dahingelogen. In der Stuttgarter Zeitung zum Beispiel, in welcher der Nordstream-2-Anschlag immer noch von den Russen selbst ausgeführt wurde, blickt Franz Feyder in der Ausgabe vom 25.5.2024 – in welcher der Leitartikel die Wehrpflicht fordert und die Seite 2 dazu Details liefert („Wenn der Geschlechtseintrag zwei Monate vor dem Spannungsfall geändert wurde, gilt er als ungültig“) -, in dieser Ausgabe also blickt Franz Feyder auf Seite drei auf den Majdan zurück. Der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch sei „der russische Statthalter aus Donezk“ gewesen, und: „Putins Mann in Kiew ließ schießen: 107 Menschen bezahlten den Freiheitskampf mit dem Leben.“

Tatsächlich war Janukowitsch ein Politiker, der sich dem Entweder-Oder respektive dem Freund-Feind-Schema beim Thema Osten und Westen verweigerte, dies jedoch in ukrainischem und nicht in russischem Interesse. Auch für das Majdan-Massaker war, wie dies Ivan Katchanovski von der Universität Ottawa in einer detaillierten Analyse belegt, nicht Janukowitsch verantwortlich. Das von unseren Mainstream-Medien ignorierte oder verleugnete Fazit des kanadischen Wissenschaftlers lautet, „dass das Massaker unter falscher Flagge gezielt organisiert und unter Beteiligung von oligarchischen und rechtsextremen Elementen der Maidan-Opposition durchgeführt wurde, um die amtierende Regierung in der Ukraine zu stürzen.“

Faschisten auf die Sockel!

In der Geschichtsschreibung des ukrainischen Regimes, von deutschen Mainstream-Medien willig übernommen, sind die Toten des Maidan zu Märtyrern im Kampf gegen Russland geworden. Dass das Putsch-Regime auch faschistische Nazi-Kollaborateure wie Stepan Bandera und seine mörderische OUN-Bande als Gründungshelden des Landes auf den Sockel stellt (auf sehr viele Sockel!) und feiert, wird bei uns entweder als Putin-Propaganda abgetan oder ganz verschwiegen. Und dies nicht nur, weil wir für die Ukraine, wenn sie es selber schon nicht tut, etwas zu verbergen haben, sondern weil Bandera und Co. auch für den Westen mehr als nur peinlich sind.

„Die Freigabe von über 3800 Dokumenten durch die Central Intelligence Agency bietet detaillierte Beweise dafür, dass der CIA seit 1953 zwei Hauptprogramme laufen ließ, die nicht nur der Destabilisierung der Ukraine dienten, sondern auch der Nazifizierung durch Anhänger des 2.Weltkrieg-Naziführers Stepan Bandera…“, schreibt Wayne Madsen in Strategic Culture.

Ausgebildet wurden die OUN-Agenten bei uns, in Westdeutschland! Hauptbasis war München, kooperiert wurde mit der nazidurchsetzten Organisation Gehlen respektive deren Nachfolgeorganisation, dem BND. „The Munich office also supported the ,Ukrainische Gesellschaft fur Auslandstudien‘…“, so heißt es bei Madsen. (Wer sich das aktuelle Kriegsgeschrei unserer russophoben Osteuropaforscher anhört, erkennt eine Kontinuität.) Fünf Milliarden US-Dollar haben die USA laut Staatssekretärin Victoria Nuland seit 1991 ausgegeben für den „regime change“, Pardon!, für das „ukrainische Volk“ und für eine „starke, demokratische Regierung, die dessen Interessen repräsentiert“. Aber faschistisch und rechts und böse ist bei uns sowieso nur das, was unsere Politiker und unsere Medien dazu erklären. Ursula von der Leyen hat am 26.5.2024 im Deutschlandfunk zur Kooperation mit rechten Parteien im EU-Parlament erklärt, „das Kriterium sei, dass die Parlamentarier für Europa seien, für den Rechtsstaat, für die Ukraine – und gegen Russland“.

Wie halten wir’s mit Meloni?

Nicht böse ist zum Beispiel die Neofaschistin Giorgia Meloni, die innig umarmt wird von ihrer Freundin Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, und väterlich abgebusselt von Joe Biden, dem US-Präsidenten.

Denn Meloni ist für die NATO und gegen Russland! Als rechts oder als böse bezeichnet (oder nach rechts gerückt) wird in NATO-Ländern nur, wer sich für Frieden und für Verhandlungen ausspricht. René Pfister schreibt am 24.3.2024 im Spiegel unter der Überschrift „Wie ,Friedenspolitik‘ den Weg in die Katastrophe bahnt“:

„Wenn SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich den Krieg in der Ukraine ,einfrieren‘ will, offenbart sich darin auch das giftige Erbe der Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr.“

Ebenfalls im Spiegel prophezeit Charles Michel, Präsident des Europäischen Rats, dass Putin nicht „in der Ukraine haltmachen“ werde. Deshalb:

„Wenn wir Frieden wollen, müssen wir uns auf Krieg vorbereiten.“

Nachdem die USA Waffenlieferungen an die Ukraine freigegeben haben, jubelt die Moderatorin Sandra Maischberger in ihrer Talkshow vom 24.4.2024: „Eine gute Nachricht!“ Keinen Platz in unseren Medien, so schreibt Jan Opielka am 18.4.2024 im Freitag, haben dagegen Bilder davon, was Waffen anrichten:

„Wir sehen nichts davon, wie ein ukrainischer Soldat, dessen Beine gerade weggesprengt worden sind, ausblutet, noch bei Bewusstsein, verzweifelt schreiend verloren ist. Gefragt ist allein das Interview mit einem Soldaten, der erläutert, wie Befestigungsanlagen errichtet werden. Wir fühlen nichts von der Angst all der ukrainischen und russischen Frontsoldaten, die jeden Tag und jede Minute mit dem Bewusstsein leben müssen, dass sie gleich sterben können.“

Es gilt für Medien, Politik und Kultur nun ein deutscher Stellvertreter-Patriotismus! Immer und überall die ukrainischen Farben zeigen! Wir sind Ukraine! Die Hessener Sektion des Journalistenverbandes DJV gibt jeden Anspruch auf Neutralität und Unabhängigkeit auf, schmückt ihr Logo zur Ukraine-Flagge um und mahnt alle, die aus diesem Land berichten: „Wir denken an Sie und wir fühlen mit Ihnen. Sie sind das Bollwerk gegen Fake News und russische Propaganda. Kritischer und unabhängiger Journalismus (!) ist jetzt so wichtig wie nie.“ Russische Medien wie RT oder Sputnik hat Ursula von der Leyen schon im Februar 2022 aus der EU verbannt. Auch wenn die Europäische Journalisten Föderation (EJF) damals protestiert hat: Der russische Standpunkt darf dem EU-Bürger nicht zugemutet werden. Schuld am Krieg muss ausschließlich Putins imperiale Aggressionspolitik sein.

Ukrainische Opposition? Die Regierung weiß von nichts

Aus der Regierungspressekonferenz des Auswärtigen Amts vom 8.11.2023:

„Maxim Goldarb, ukrainischer Oppositioneller, dessen Partei ,Union der Linken Kräfte‘ im Juni 2022, wie alle anderen linken Parteien auch, verboten wurde, ist wegen Informationstätigkeiten zugunsten des Aggressors angeklagt worden. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft. Zuvor war seine Wohnung vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU durchsucht worden. Hintergrund ist, dass er zuvor, unter anderem auch auf den NachDenkSeiten, Artikel veröffentlicht hat, die sich mit der Korruption im Verteidigungsministerium und zunehmend autoritären Strukturen im Regierungsapparat befassten. Ist der Bundesregierung dieser Fall bekannt? Wie bewertet sie grundsätzlich das aktuelle Vorgehen der ukrainischen Regierung gegen regierungskritische Politiker und Journalisten?“

Antwort des Regierungssprechers:

„Zu dem konkreten Fall kann ich jedenfalls nichts sagen.“

Maxim Goldarb selber schreibt am 2.4.2024 auf den NachDenkSeiten:

„Wie können Politiker, die sich selbst als Linke bezeichnen, die Fortsetzung des Krieges befürworten und sich an der beispiellosen Militarisierung Europas und der Ukraine seit vielen Jahrzehnten beteiligen? Wie können Politiker, die sich selbst als Linke bezeichnen, das radikal-nationalistische Regime in der Ukraine unterstützen, das alle linken Parteien verboten hat, das die Verwendung der roten Fahne und das Singen der Internationale unter Strafe stellt, das Straßen nach Nazi-Kollaborateuren wie Stepan Bandera, Roman Shukhevych und der SS-Division „Galizien“ benennt und diese als offizielle Staatshelden hofiert?“

„Wie westliche Mainstream-Nachrichten-Medien die Nato-Expansion in den Osten als mitwirkenden Faktor für die russische Invasion 2022 in der Ukraine weglassen“, so betitelt Florian Zollmann von der Newcastle University seine Studie, in der er über deutsche Medien schreibt:

„Die deutsche Auswahl beinhaltete die niedrigste Zahl von Artikeln, welche die Nato-Expansion berücksichtigten, und das entspricht den anderen Ergebnissen, dass die Bandbreite der Debatte in Deutschland enger ist als die in den USA und im Vereinigten Königreich.“

Der NATO-Journalismus, insbesondere der deutsche, hat also kein Korrektiv mehr zu fürchten, alle sind auf (s)einer Seite! Fast alle. In der Berliner Zeitung, große Ausnahme im bellizistisch-russophoben NATO-Chor, schreibt Fabio de Masi am 24.2.2023 über den Verhandlungs- und Friedensaufruf von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer:

„Die öffentlichen Reaktionen auf das Manifest in Politik und Medien haben mir erneut verdeutlicht, wie wenig die Aufklärung doch in Deutschland bewirkt hat. Es graust mir, wie leicht es in einer demokratisch verfassten Gesellschaft fällt, in Zeiten des Krieges in der öffentlichen Debatte einen hysterischen Meinungskorridor zu etablieren, der keinen Widerspruch duldet und tatsächlich an die Kriegsbesoffenheit des Ersten Weltkrieges erinnert.“

Putin stoppen – um jeden Preis

Die NATO-Bellizisten in Politik und Medien dagegen ziehen lieber den 2. Weltkrieg als Vergleich heran. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius, so schreibt das Handelsblatt am 11.4.2024, „… hat den Angriff des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf die Ukraine mit der Annexion der Tschechoslowakei durch Nazi-Deutschland im Jahr 1938 verglichen. Europa müsse sich auf einen langen Krieg einstellen, sagte Pistorius am Rande der Vorstellung eines Buchs über Winston Churchill. ,Putin wird nicht aufhören, wenn der Krieg gegen die Ukraine vorbei ist, das hat er klar gesagt‘, so Pistorius. Genau so klar wie Hitler, der auch immer sagte, dass er nicht stoppen würde.‘“

Dass Putin das nie gesagt hat, hindert Pistorius nicht daran, seinen Hitler-Vergleich am 24.4.2024 auch in Maischbergers Talkshow unterzubringen. Die notorische Waffenbejublerin verlangt sofort kriegerische Konsequenzen:

„Wenn das so ist, wie Sie sagen: ‚Das ist jemand, der den Krieg immer weiter trägt‘ – dann muss man ihn ja um jeden Preis stoppen, oder nicht?“

Zum Hitler-Putin-Vergleich hat der Philosoph Hartmut Rosa im Spiegel gesagt:

„Das Hitler-Argument wird immer dann gezogen, wenn es darum geht, den Kriegspfad als moralisch unbedingt geboten und politisch absolut alternativlos erscheinen zu lassen.“

Der Russe wird auch uns angreifen, darüber sind sich die NATO-Medien einig. Nur der Zeitpunkt ist noch nicht klar. In acht oder in fünf Jahren oder noch früher? Jetzt aber Vorsicht! Es folgt eine Aussage von Putin selbst, zitiert nach Antispiegel (13.4.2024):

„Im Jahr 2022 haben die USA, wenn ich mich richtig erinnere, 811 Milliarden Dollar ausgegeben und Russland 72 Milliarden Dollar. 72 und 811, der Unterschied ist deutlich, mehr als das Zehnfache… Werden wir etwa, wenn man dieses Verhältnis anschaut, in einen Krieg mit der NATO ziehen? Das ist einfach Unsinn.“

Aber die Putin’schen Zahlen sind doch sicher gefaked? Hmm. Nun ja, sie stimmen in etwa mit denen überein, die das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI veröffentlicht.

Wobei Putin die Militärbudgets der anderen NATO-Mitglieder – also auch das unsere! – gar nicht mitgerechnet hat: dass also die NATO insgesamt etwa 13-mal so viel fürs Militär ausgibt wie Russland. Meine Güte, wie bildet man solche Zahlen bloß ab in den beliebten West-Ost-Militärgrafiken? Die Stuttgarter Zeitung vom 23.3.2024 – jawohl, die schon wieder! – hat es auf ihrer „Sonderseite 75 Jahre Nato“ geschafft.

Indem sie nämlich nicht die NATO gegen Russland stellt, sondern ein „Gegengewicht zur Nato“ heranzieht, nämlich die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), in der neben Russland auch noch China, Indien, Pakistan, Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan und der Iran dabei sind. (Das NATO-Mitglied Türkei ist Dialogpartner.) Man stelle sich vor: Indien und Pakistan endlich mal vereint! Und so ist die NATO nun, was etwa die Truppenstärke angeht, der SOZ unterlegen.

Kanonen statt Butter

„Wir müssen aufrüsten für den Wohlstand“, fordert im Spiegel (28.3.2024) Moritz Schularick, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Der Düsseldorfer Rheinmetallkonzern, der gerade als erster Rüstungsbetrieb einen Sponsorenvertrag mit Borussia Dortmund bekanntgegeben hat – auch der Sport darf keine Friedensinsel sein! – rechnet bis 2026 mit einer Verdoppelung seines Umsatzes auf bis zu 14 Milliarden Euro. In der Zeit (7.12.2023) erzählt Boris Pistorius stolz:

„Allein in diesem Jahr haben wir bisher 40 Rüstungsprojekte dem Bundestag zur Genehmigung vorgelegt, die 25 Millionen Euro oder mehr kosten – wenn es gut läuft (!), kommen bis Jahresende noch 15 dazu. Das ist eine Rekordzahl. Nächstes Jahr können wir vielleicht sogar dreistellig werden.“

Der Armutsforscher Christoph Butterwegge erläutert zur Militarisierung:

„Setzen sich Bum-Bum Boris Pistorius, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Anton Hofreiter und Co. mit ihren Hochrüstungsplänen durch, wird sich die schon jetzt auf einem Rekordstand befindliche Armut noch verschärfen.“

Aber Pistorius muss sich im Kampf gegen Russland eben auch um die US-amerikanische Wirtschaft kümmern. Am 10.5.2024 schreibt t-online, der deutsche Verteidigungsminister bemühe sich bei seiner Amerika-Reise darum, „auch die wirtschaftlichen Vorteile herauszustellen, die die deutsche Zeitenwende für die USA bringe. ,Allein mit US-Rüstungsunternehmen haben wir derzeit rund 380 Verträge mit einem Gesamtwert von rund 23 Milliarden US-Dollar‘, sagt er. Es ist ein Argument, das auch in republikanisch regierten Bundesstaaten funktionieren kann. Denn solche Rüstungsaufträge sichern amerikanische (!) Arbeitsplätze.“

Mit US-Waffen will Anton Hofreiter übrigens auch schon lange auch in Sachen Ökonomie verhandeln. „Ohne China beim Namen zu nennen“, so schreibt die Berliner Zeitung am 15.12.2022, „erörterte er folgendes Szenario: ,Wenn uns ein Land Seltene Erden vorenthalten würde, könnten wir entgegnen: ‚Was wollt ihr eigentlich essen?‘ Ohne Seltene Erden käme man ein paar Wochen aus, ohne Nahrung nicht. China ist einer der größten Exporteure Seltener Erden, die Ukraine einer der größten Weizenexporteure der Welt. Oft sei es in der Geopolitik geboten, mit dem Colt auf dem Tisch‘ zu verhandeln.“ Überhaupt diese anderen, diese aggressive antiwestliche Welt! Josep Borrell, EU-Kommissar für Außen- und Sicherheitspolitik, hat die Situation klar beschrieben:

„Ja, Europa ist ein Garten. Alles funktioniert. Es ist die beste Kombination aus politischer Freiheit, wirtschaftlichem Wohlstand und sozialem Zusammenhalt, die die Menschheit je geschaffen hat, alle drei zusammen […] Der größte Teil der übrigen Welt ist ein Dschungel, und der Dschungel könnte in den Garten eindringen… Die Gärtner müssen sich darauf einrichten.“

Ach, wenn bloß alle so friedlich wären wie wir! Oder, wie es Boris Pistorius, dem hier das Schlusswort gebührt, so unübertrefflich schlicht ausgedrückt hat:

„Pazifist sein heißt, Gewalt und Krieg abzulehnen. In dem Sinne bin ich auch Pazifist.“

Titelbild: Shutterstock / Mo Photography Berlin

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