Hirntote unter sich: Zum Stand der französisch-deutschen Beziehungen

Hirntote unter sich: Zum Stand der französisch-deutschen Beziehungen

Hirntote unter sich: Zum Stand der französisch-deutschen Beziehungen

Ein Artikel von Ramon Schack

Im November 2019, im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 70. Gründungstag der NATO, sorgte der französische Präsident Macron für einen Skandal. In einem seiner hellen, klarsichtigen Momente hatte Macron in einem Interview mit dem britischen Magazin Economist, einem Sprachrohr des liberalkapitalistischen Establishments angelsächsischer Prägung, geäußert: „Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der NATO“. Knapp 5 Jahre später scheint sich diese Diagnose nicht nur zu bestätigen, sondern über die NATO hinaus auf diverse Staatsoberhäupter der NATO-Staaten übertragen zu haben, so zum Beispiel auf Macron wie auch auf Bundeskanzler Scholz. Von Ramon Schack.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Westliche Waffen zum Einsatz in Russland

Die beiden Regierungschefs schlossen nicht aus, dass die Ukraine auch vom Westen gelieferte Waffen verwenden dürfe, um Stellungen anzugreifen, von denen aus die Ukraine angegriffen wird. „Wir müssen ihnen erlauben, militärische Stützpunkte zu neutralisieren, von denen aus Raketen abgeschossen werden“, sagte Macron am Dienstag in Meseberg. Die Ukraine werde von Stützpunkten in Russland angegriffen, betonte er. „Wir sollten ihnen jedoch nicht erlauben, andere Ziele in Russland anzugreifen, vor allem keine zivilen Einrichtungen“, fügte er hinzu, was sicherlich abenteuerlich klingt, denn auch bisher beschießt Kiew zivile Ziele, ebenso wie Moskau natürlich auch.

Weiter ließ Scholz verlautbaren, dass es für den Einsatz der in die Ukraine gelieferten Waffen Regelungen gebe, dass sich dieser „immer im Rahmen des Völkerrechts bewegen muss“. Das habe bisher gut funktioniert, sagte er. Er verwies zudem darauf, dass Deutschland und Frankreich „unterschiedliche Waffen zur Verfügung gestellt haben“. Was da bisher immer gut funktioniert habe, ließ der Kanzler offen, auch was er unter „im Rahmen des Völkerrechts“ versteht.

Der französische Präsident wurde präziser, als er auf einer Karte präsentierte, auf der aufgezeichnet war, von wo aus die Ukraine angegriffen werde, teilweise von Stellungen tief im russischen Kernland gelegen, wo die Waffen zum Einsatz kommen sollten. Wenn man sich an die bisherigen Regeln halte, sei die Ukraine nicht in der Lage, diese Basen zu treffen. „Was wir uns wünschen, ist, die Möglichkeit zu haben, diese Raketenabschussanlagen treffen zu können. Ich glaube nicht, dass das zu einer Eskalation beitragen würde“, sagte er.

Ja, man stelle sich vor, der Iran würde die Hisbollah darin bestärken, Raketenabschussanlagen in Israel mit iranischen Waffen auszuschalten, aber nun gut, nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich.

Viel eindrucksvoller und zugleich beklemmender ist hierbei der intellektuelle Niedergang der französischen geopolitischen Strategien, welcher zumindest durch die Aussagen Macrons erkennbar wird.

Washington sagt „NO“

Selbst aus Washington kam ein Veto. Die USA seien nach wie vor dagegen, dass die Ukraine bei ihren Angriffen in Russland US-Waffen einsetze, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, am Dienstag. „Unsere Position hat sich zu diesem Zeitpunkt nicht geändert. Wir ermutigen oder erlauben nicht den Einsatz der von den USA gelieferten Waffen, um innerhalb Russlands anzugreifen.“ Aber zurück zum vermeintlichen „Hirntod“ von Macron.

Im Schatten de Gaulles

Wenn es um die Bereiche Geopolitik und historische Perspektiven geht, sind die Franzosen eigentlich die weit profunderen Denker gerade im Vergleich zu den Deutschen, wo es im politischen Berlin nicht nur an Kompetenz fehlt, sondern ein geistiges Vakuum sichtbar wird.

Aber durch Macrons Äußerungen hat sich eventuell ein negativer Anpassungsprozess vollzogen, eine Art Nivellierung, die eventuell dadurch erklärbar werden könnte, dass sowohl Macron wie auch Scholz innenpolitisch das Wasser bis zum Halse steht.

In dem erwähnten Interview aus dem Jahr 2019 erklärte Macron, dass Europa am Rande eines Abgrunds steht und daher anfangen müsse, strategisch über sich selbst als geopolitische Macht nachzudenken, sonst „haben wir nicht mehr die Kontrolle über unser eigenes Schicksal“. Für Europa sei es nun „höchste Zeit“ aufzuwachen, sagte der französische Präsident in dem Interview. Macron kritisierte damals, dass es „keinerlei Koordination bei strategischen Entscheidungen zwischen den USA und ihren NATO-Verbündeten“ gebe. Washington beweist, so das Staatsoberhaupt, dass es Europa den Rücken zugekehrt habe.

In dem Interview plädierte Macron dafür, dass Europa seine militärische Souveränität wiedererlangen muss. Der französische Präsident orientiert sich hier anscheinend an einer gaullistischen Strategie.

Charles André Joseph Marie de Gaulle, der wohl größte Staatsmann Frankreichs – vielleicht auch Europas – im 20. Jahrhundert, plädierte für ein starkes Europa, vom Atlantik bis zum Ural, unter Einschluss von Moskau. Schon früh erkannte der General im Amt des Staatsmannes, dass diese Vision im schroffen Gegensatz zu der Strategie der USA stand.

Als sich de Gaulle im März 1966 den Strukturen der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) entzog, liefen die Vorbereitungen für diesen Coup unter strengster Geheimhaltung. De Gaulle hatte nur seinen Außen- und den Verteidigungsminister eingeweiht. Erst unmittelbar hatten die übrigen Minister erfahren, dass Paris seine militärische Mitarbeit in der NATO beenden werde.

In einem Brief an den damaligen US-Präsidenten Lyndon Baines Johnson erklärte der französische Staatsmann, dass Frankreich beabsichtige, „seine volle nationale Souveränität auf seinem Territorium“ wiederherzustellen und sich auch nicht mehr an der „integrierten Kommandostruktur des Bündnisses“ zu beteiligen. Paris zog daraufhin am 1. Juli 1966 seine Truppen unter NATO-Befehl zurück. Formell blieb das Land Mitglied des Bündnisses, aber das NATO-Hauptquartier war immerhin gezwungen, von Paris nach Brüssel umzuziehen und seine Truppenverbände größtenteils in die Bundesrepublik zu verlagern. De Gaulle störte sich zunehmend an der anglo-amerikanischen Dominanz im Bündnis, das heißt der Herrschaft der USA, die bis heute anhält.

„Wenn es zu verhindern gilt, dass die Welt auf eine Katastrophe zusteuert, kann nur eine politische Lösung den Frieden wiederherstellen.“

Diese weisen Worte von de Gaulle, welche der damalige französische Präsident am 1. September 1966 in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh gegen die US-Militärintervention in Vietnam äußerte, sind von zeitloser Aktualität. Während de Gaulle für ein starkes Europa vom Atlantik bis zum Ural plädierte, unter Einschluss von Moskau, möchte Macron Russland mit französischen Waffen treffen lassen.

„Le Gaullisme sans de Gaulle, c’ est idiot“ – zu deutsch: „Gaullismus ohne de Gaulle hat keinen Sinn!“, so sagte einmal der Schriftsteller Andre Malraux.

Erst wenn sich die innenpolitischen Verhältnisse in Frankreich wie auch in der Bundesrepublik so gründlich verändert haben, kann die französisch-deutsche Achse wieder ihre Wirkung entfalten, die momentan dringend benötigt wird. Der BSW-Politiker und Spitzenkandidat für das EU-Parlament Fabio de Masi drückte es so aus:

„Nur Friedensverhandlungen können die Ukraine noch retten – der Ukraine-Krieg darf nicht in ein drittes Jahr gehen.“

Titelbild: Shutterstock / Juergen Nowak

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