Den Karneval der Kulturen an Pfingsten mit bis zu einer Million Besuchern beim großen Umzug und dem viertägigen Straßenfest hat Berlin einigermaßen glimpflich überstanden. Und das große „Fest der Demokratie“ anlässlich des 75. Geburtstages des Grundgesetzes, bei dem der gesamte Bereich zwischen Brandenburger Tor, Bundestag, Hauptbahnhof, Schloss Bellevue und Kanzleramt zu einer engmaschig überwachten Sicherheitszone wurde, ist jetzt auch vorbei. Von Rainer Balcerowiak.
Doch Zeit zum Durchatmen ist einem in der Party-Overkill-Hauptstadt Berlin nicht vergönnt, denn jetzt sind alle Blicke auf das bevorstehende „Sommermärchen 2.0“ gerichtet. Gemeint ist damit die Neuauflage der erst im Nachgang als „Sommermärchen“ bezeichneten großen Sause rund um die Fußballweltmeisterschaft 2006, bei der Berlin der am stärksten von Besuchern aus aller Welt frequentierte Spielort in Deutschland war. Tatsächlich präsentierte sich die Hauptstadt seinerzeit ungewohnt locker, fröhlich und entspannt. Dass die Vergabe dieses Mega-Events nach Deutschland auf massiver Korruption beruhte, wurde zwar bereits damals gemunkelt, aber verifiziert wurde das erst wesentlich später. Gestört hätte es wohl ohnehin kaum jemanden, weil sowas im milliardenschweren Profisport-Zirkus halt vollkommen normal ist.
Von einem „fröhlichen Fest“, bei dem sich Berlin „Menschen aus aller Welt von seiner besten Seite“ zeigen werde, kann diesmal jedoch wohl kaum die Rede sein. Wer in den vergangenen Tagen Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) und ihrer Polizeipräsidentin Barbara Slowik lauschte, könnte eher den Eindruck gewonnen haben, dass der Hauptstadt ein verheerender Angriff droht. Die Rede war von „Bedrohungslagen“, von Urlaubssperren für Sicherheitskräfte und Feuerwehrleute, von schwerem Blockadegerät gegen feindliche Angriffe und gar von der Beschaffung spezieller Technik gegen Drohnenangriffe und Vorbereitungen auf mögliche Attacken mit biologischen, chemischen und nuklearen Kampfstoffen.
Entsprechende Übungen hätten bereits stattgefunden, und auch neue Kapazitäten für Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, die Verfolgung von Fluchtfahrzeugen sowie die Dekontamination und Versorgung von Anschlagsopfern seien angeschafft worden und einsatzbereit. Zwar, so räumte Spranger ein, könne es „hundertprozentige Sicherheit nicht geben“, aber man stünde „in engem Austausch mit dem Verfassungsschutz und ausländischen Geheimdiensten, um die Sicherheit zu gewährleisten“. Wichtig sei aber trotz allem, sich „keinesfalls die Vorfreude nehmen zu lassen“, betonte Slowik.
Auch Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sieht die Fußballeuropameisterschaft, die außer in Berlin noch in neun weiteren Städten ausgetragen werden soll, in erster Linie als „riesige Sicherheitsherausforderung“. Rund um alle Stadien werden Sonderzonen eingerichtet, mit Checkpoints noch weit vor den Eingängen und Einfahrverboten (außer für Anlieger). An allen Außengrenzen gibt es vor und während der EM wieder Personenkontrollen, also nicht nur wie ohnehin schon an den Grenzen zu Polen und Tschechien. Bundespolizei und Polizisten aus allen 24 Teilnehmerländern werden im Einsatz sein, ferner gebe es einen „engen Austausch mit ausländischen Sicherheitsbehörden“.
Dazu passt, dass seit rund einem Monat Meldungen – man könnte meinen, wie bestellt – durch die Medien wabern, laut denen ein afghanischer Ableger der Terrormiliz IS namens ISPK ihre Anhänger in Deutschland zu Anschlägen während der EM aufruft, und zwar konkret auf die Stadien in Berlin, München und Dortmund. Die Gruppe soll unter anderem für den Anschlag auf eine Musikhalle in Moskau verantwortlich sein, bei dem im März 140 Menschen getötet wurden. Es sei ferner zu befürchten, „dass auch andere Terrororganisationen wie Al-Qaida über ihre PR-Kanäle für eine Anschlagsoffensive agitieren werden“, wird ein Staatsschutzbeamter im Focus zitiert.
Milliardenspektakel für ein paar Wochen gute Laune
So richtig nach „Sommermärchen“ klingt das alles irgendwie nicht. Aber man scheut weder Kosten noch Mühe, um die Stimmung ein bisschen aufzuhellen. In Berlin wird eine riesige Fanmeile für bis zu 130.000 Besucher pro Tag geschaffen, für die vor dem Brandenburger Tor sogar extra 24.000 Quadratmeter Kunstrasen verlegt wurden. Vor dem Tor wird ein überdimensionales Fußballtor aufgebaut (64 x 26 Meter), in das für Live-Übertragungen der Spiele eine Leinwand eingehängt wird. Eine weitere große Fanmeile gibt es vor dem Reichstag. Für Rundumbespaßung ist auch gesorgt, wenn gerade keine Spiele laufen. Geplant sind zahlreiche Konzerte, DJ-Sets, Tanzperformances, Lesungen, Ausstellungen und ein Sommerkino mit Fußballfilmen, insgesamt allein auf den beiden großen Fanmeilen 250 Stunden Programm. Dazu kommen noch etliche dezentrale Veranstaltungen, und wie es sich für eine „weltoffene, tolerante Stadt“ gehört, wird es mit dem „Pride House Berlin“ eine spezielle Anlaufstelle mit Public Viewing für queere Fans geben.
Dabei geht es eigentlich nur um ein Fußballturnier, bei dem zwischen dem 14. Juni und 14. Juli 2024 Mannschaften zunächst in Vorrundengruppen und dann über Achtel-, Viertel- und Halbfinale schließlich die Finalisten und dann den Sieger ermitteln. Insgesamt gibt es 51 Spiele an zehn Spielorten, in Berlin finden sechs Spiele statt, darunter das Finale. Aber es ist eben nicht nur einfach ein Fußballturnier, sondern vor allem eine gigantische Geldmaschine. Der europäische Fußballverband UEFA erwartet als Ausrichter Einnahmen in Höhe von 2,4 Milliarden Euro und einen weitgehend steuerfreien Gewinn von 1,7 Milliarden Euro durch das Turnier, vor allem durch Sponsoren und den Verkauf von Merchandising-Lizenzen, Werbe- und Übertragungsrechten sowie die Erlöse aus dem Verkauf der Eintrittskarten für die Spiele. Die rund 2,7 Millionen Tickets (zu Preisen zwischen 30 und 1.000 Euro, je nach Kategorie und Turnierphase) sind schon seit einiger Zeit ausverkauft, die Nachfrage überstieg deutlich das Angebot.
Auch Hoteliers und Gastronomen erwarten einen sehr kräftigen Geldregen, zumal sie ihre Preise während der EM „anpassen“ werden. Den Steuerzahler kostet das Spektakel rund 650 Millionen Euro, verteilt auf Bund, Länder und Kommunen. Allein Berlin als „EM-Hauptstadt“ rechnet mit Kosten von über 80 Millionen Euro. Fürs Volk gibt es immerhin einige neue Trinkwasserbrunnen in der Stadt, die auch nach der EM in Betrieb bleiben sollen. Und der Kunstrasen soll anschließend für Schulhöfe, Spiel- und Sportplätze in der ganzen Stadt eingesetzt werden – nachhaltig halt.
Zum anderen sind derartige Events ein erprobtes Mittel zur temporären Schaffung einer großen, quasi klassenlosen Volksgemeinschaft, vor allem in einem fußballverrückten Land wie Deutschland. Oder, wie es Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU) formulierte: „Ob Arzt oder Handwerker – es geht nur darum, dass der Funke überspringt.“ Doch was passiert eigentlich, wenn Deutschland wieder frühzeitig ausscheidet, wie es in den vergangenen zehn Jahren bei großen Turnieren stets üblich war?
Die Angst vor diesem stimmungsmäßigen Super-GAU dürfte bei den Verantwortlichen und auch bei Politikern ähnlich groß sein wie die Angst vor einem irgendwie gearteten Terroranschlag während der EM. Kollektive Depression statt Euphoriewelle wäre nun das Allerletzte, was die Bundesregierung in dem gesellschaftlich und ökonomisch eh stark angeschlagenen Land jetzt gebrauchen könnte. Auf der Habenseite blieben dann außer den neuen Trinkwasserbrunnen in einigen Städten nur die wertvollen Erfahrungen bei der Vorbereitung auf kriegerische oder bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen.
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