Seit vielen Jahren beschäftigt sich der Journalist und Buchautor Arno Luik mit dem Niedergang der Deutschen Bahn und den Hintergründen des Desasters. Hoffnungen, dass der marode Staatskonzern in seiner jetzigen Struktur wieder in die Spur kommen könnte, hat er nicht. Mit Luik sprach Rainer Balcerowiak.
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Rainer Balcerowiak: Sie bezeichnen in Ihren Büchern und Artikeln den maroden Zustand der Deutschen Bahn als „irreparabel“. Heißt das, dass der Schienenverkehr in Deutschland eigentlich keine Zukunft mehr hat?
Arno Luik: Bis vor ein paar Jahren sprach ich noch von einem „wohl irreparablen Zustand“ der Deutschen Bahn AG. Vorbei. Diese Bahn ist inzwischen so verkommen, dass sie nicht mehr zu reparieren ist. Irgendwie werden noch Züge fahren, sie werden auch irgendwie ihr Ziel erreichen – aber man wird meistens nicht wissen, wann genau. Wir werden nie mehr diese Selbstverständlichkeit des Zugfahrens erleben, die für viele Generationen normal war. Für diesen unfassbaren Zerfall gibt es Verantwortliche, gibt es Täter.
Seit der Bahnreform 1994 wurde das Schienennetz von gut 40.000 Kilometern auf knapp 33.000 Kilometer zurückgebaut. Stellen Sie sich mal vor, was los wäre, wenn man das Straßennetz im gleichen Zeitraum um 20 Prozent zurückgebaut hätte. Das totale Chaos wäre auf den Straßen. Dieses Chaos haben wir nun auf den Schienen. Es wird noch durch dies verschärft: Gab es 1994 noch über 130.000 Weichen und Kreuzungen, so sind es heute gerade mal noch 70.000. Aber jede rausgerissene Weiche hat Folgen: Züge können nicht mehr ausweichen, können sich kaum mehr überholen. Fahrpläne sind strukturell nicht mehr einzuhalten, sind bloß noch Makulatur.
Aber das kann doch nicht heißen, dass man das Verkehrssegment Schiene jetzt faktisch aufgibt. Was wäre denn der Hebel, um den Zug wieder aufs Gleis zu bekommen, um im Bild zu bleiben?
Natürlich wäre ein ordentlicher Schienenverkehr möglich. Aber ist er in diesem autoverrückten Autoland überhaupt erwünscht? Im Koalitionsvertrag der derzeit Regierenden umfasst das Thema Bahn knapp eine Seite. Ihnen ist also – trotz all ihrer Beteuerungen – die Bahn, die zur ökologischen Verkehrswende so unendlich wichtig ist, nicht wirklich wichtig. Und das allgemeine Bahn-Desaster geht ja immer weiter. Als der Bahn-Chef Richard Lutz 2017 sein Amt übernahm, war das Unternehmen mit rund 27 Milliarden Euro verschuldet. Heute sind es 35 Milliarden Euro. Diese Deutsche Bahn AG ist faktisch pleite. Dennoch bekam dieser Manager, der diese Bahn aus den Gleisen hat springen lassen, neulich einen Bonus in Höhe von 1,3 Millionen Euro – zu seinem überaus üppigen Grundgehalt, das für ihn als quasi Staatsangestelltem drei Mal so hoch ist wie das des Bundeskanzlers.
Das ist in der Tat kaum nachvollziehbar. Aber nochmal die Frage: Was wäre der Reset-Knopf für die Bahn, um sie wieder zu dem zuverlässigen Verkehrsmittel zu machen, das sie einmal war? Und da geht es doch nicht nur um Personen?
Diese Fast-Zerstörung hat sehr wohl sehr viel mit Personen zu tun. Seit den 90er-Jahren sind an der Bahnspitze Menschen, die beim Amtsantritt keine Ahnung vom hochkomplexen System Bahn hatten. Sie waren und sind überbezahlte Bahn-Azubis. Die Bahnchefs etwa Dürr, Mehdorn, Grube kamen aus der Auto- oder Luftfahrtindustrie. Und Lutz? Auch er ist kein richtiger Bahner. Er war Finanzkontrolleur, und er hat all die zerstörerischen Programme seiner Vorgänger abgesegnet. Im derzeitigen Vorstand gibt es keinen, der das Handwerk von der Pike auf gelernt hat. Ein Beispiel: Sigrid Nikutta ist im Moment für die wichtige Sparte „Cargo“ zuständig. Sie ist gelernte Psychologin. DB-Cargo ist nicht nur hoch verschuldet, sie transportiert heute auch weniger Güter als 1990 die Deutsche Bahn in Westdeutschland. Unfassbar.
War denn die Umwandlung der Bahn in eine Aktiengesellschaft der große Sündenfall, den man jetzt rückabwickeln müsste, also zurück zur Deutschen Bundesbahn?
Das war der erste große Sündenfall, und dann dieser unsägliche Versuch von Mehdorn und der Regierung unter Schröder/Fischer, die Bahn an die Börse zu bringen. Dafür sollte die Bahn sexy werden. Aber das heißt sparen, wo es nur geht. Sehr systematisch wurde die Bahn also im Regierungsauftrag kaputtgespart. Und so fehlt es dieser Bahn heute an allem: an Personal, Gleisen, Loks – und vor allem an Know-how. Jahrzehntelang wurde überdies konsequent auf Verschleiß gefahren.
Die Bahn war sehr robust, also konnten die Bahnchefs lange ramponierend agieren, ohne dass es groß auffiel. Am Anfang lachte man über die sich häufenden Verspätungen oder die plötzlichen Zugausfälle, die Schäden in den Oberleitungen, die Störungen im Betriebsablauf – Dinge, die es früher nicht gegeben hatte. Da war die Bahn sprichwörtlich pünktlich wie die Eisenbahn. Man kann aus einer Uhr ein paar Rädchen entfernen, und sie funktioniert trotzdem noch. Aber bei der Bahn hat man nicht bloß ein paar Rädchen rausoperiert. Neulich sagte Bahnchef Lutz, er wolle „2028 im Fernverkehr wieder bei 80 Prozent Pünktlichkeit“ sein. Peinlich, diese Aussage. Bei diesem angestrebten Unpünktlichkeitswert würden sich Schweizer Bahnmanager vor Scham in Gletscherspalten ihrer Berge stürzen, japanische Bahnchefs ins Samurai-Schwert.
Wäre es ein sinnvoller Zwischenschritt für eine Renaissance der Bahn, den Mischkonzern Deutsche Bahn AG zu zerschlagen und die gesamte Infrastruktur in unmittelbare öffentliche Trägerschaft zu überführen, wie es u.a. die GDL fordert?
Diese Struktur aus verschiedenen Bahn-Gesellschaften und Hunderten von Tochterunternehmen und unzähligen Firmenbeteiligungen muss zerschlagen werden. Was medial oft untergeht und in der Öffentlichkeit zu wenig thematisiert wird: Diese Deutsche Bahn ist keine Deutsche Bahn mehr. Sie ist bloß noch ein Anhängsel in einem weltweit agierenden Logistikkonzern. Laut Bahn-Bilanzbericht machte der Konzern 2022 rund 50 Prozent seines Umsatzes im Ausland, war in über 140 Ländern mit allem Möglichen und Unmöglichen unterwegs. Als Hartmut Mehdorn 1999 unseligerweise Bahnchef wurde, machte die Bahn noch über 90 Prozent ihrer Geschäfte in Deutschland. Mehdorn aber verkündete nach Amtsantritt: „Unser Markt ist nicht Deutschland. Unser Markt ist die Welt.“
Statt dafür sofort entlassen zu werden, durfte er nahezu unbehelligt von der Politik agieren. In einem Anfall von imperialem Größenwahn baute er die Deutsche Bahn rigoros um – und investierte für seine Auslandseinsätze bis zu seinem Abgang 2009 zig Milliarden. Unsummen, die sich nie amortisierten. Wer sich aber als Weltenherrscher begreift, hat der noch Lust und Zeit, sich um Züge in Mecklenburg oder auf der Schwäbischen Alb zu kümmern? Um das Kerngeschäft der Deutschen Bahn? Dem Transport von Menschen und Gütern auf der Schiene in Deutschland und im grenzüberschreitenden Verkehr? Fatal: Die Bundesbürger finanzierten und finanzieren immer noch die imperiale Überdehnung dieses Konzerns – und was bekommen sie dafür hierzulande? Zerfall, Zerfall, Verspätungen, Ärger und Verdruss.
Also wäre die Rückbesinnung auf das Kerngeschäft – man sollte es vielleicht Kernaufgabe nennen – mit allen Konsequenzen eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Voraussetzung, um die Bahn wieder auf Kurs zu bringen.
Ja, klar. Die Deutsche Bahn ist zu 100 Prozent im Besitz des Bundes. Anders ausgedrückt: Sie gehört uns. Sie ist, so kann man es sagen, ein Volkseigener Betrieb. Doch dieser VEB hat sich unter Mithilfe der Politik zu einem Staat im Staate entwickelt. Er führt ein weitgehend unkontrolliertes Eigenleben und macht, was er will. Der Münchner Verkehrsplaner Karlheinz Rößler spricht in meinen Bahnbuch von einer „Scheinverkehrsfirma“. Die Bahn, sagt er, sei zu „einem Betrugskonzern mutiert“. Angesicht der großen und allesamt überteuerten Bauprojekte der vergangenen Jahrzehnte konstatiert er: „Die Bahn ist eine regierungskriminelle Vereinigung zur Veruntreuung von Steuergeldern.“
Dann kommen wir doch mal zur Politik. Politiker aller Parteien beteuern in steter Regelmäßigkeit, wie wichtig ihnen die Stärkung des Schienenverkehrs ist, sowohl unter klimapolitischen als auch unter infrastrukturellen Gesichtspunkten. Doch in der Praxis passiert das Gegenteil. Ist das nur Unfähigkeit oder hat das Methode?
Ohne verschwörungstheoretisch unterwegs zu sein: Deutschland ist ein autoverrücktes Land. Vielleicht darf hierzulande der Zug kein wirklich attraktives Verkehrsmittel sein? In unseren Nachbarländern funktionieren die Bahnen vorbildlich. Warum nicht bei uns? Vorfahrt Individualverkehr. Fetisch Auto. Franz Müntefering war in seiner langen Politkarriere auch mal Verkehrsminister, und dieser Sozialdemokrat erklärte mal, die Bahn sei das Resteverkehrsmittel für Menschen, die sich kein Auto leisten können. Besser kann man die Verachtung für die Bahn nicht ausdrücken. So würde das heute kein Politiker mehr sagen, aber die Haltung dahinter ist geblieben – heute verkörpert durch den freidemokratischen Verkehrsminister Volker Wissing. Zwar ruft die Politik seit Jahrzehnten: Mehr Güter auf die Schienen! Bessere und mehr Personenzüge! Auch dem Klima zuliebe. Und sie verspricht seit Jahrzehnten rituell, viel Geld in die Bahn zu stecken. Ich habe mal addiert, was da in den vergangenen 30 Jahren an Investitionen versprochen wurde: fast eine Billion Euro. Nur ein Bruchteil dieser Summe wurde tatsächlich investiert …
… und wenn, dann auch noch oftmals in aberwitzige, verkehrspolitisch sinnlose Projekte wie Stuttgart 21 oder einzelne isolierte „Rennstrecken“ zwischen Großstädten.
Stuttgart 21 ist tatsächlich Chiffre für den strukturellen Irrsinn der Bahn. Es ist der Meilenstein im Niedergang der Bahn, die explodierenden und nie kontrollierbaren Kosten ihr Sargnagel. S21 wird mindestens 15 Milliarden Euro verschlingen. Dafür könnte man das Schienennetz reparieren, könnte man 1.500 Bahnhöfe à 10 Millionen Euro bauen, also Sinnvolles schaffen. Aber das ist nicht vorgesehen. Und so wird in den Fernverkehr und die unökologischen Schnellstrecken zwischen den Metropolen unsinnig viel Geld investiert – primär für die Geschäftsleute, alles in allem für gerade mal 140 Millionen Benutzer jährlich. Aber in den Nah- und Regionalverkehr, den fast drei Milliarden Bürger benutzen, geht so gut wie gar nichts, der Bahnverkehr auf dem Land wird fast komplett ignoriert. Nur in einem ist diese Bahn wirklich gut: in ihrer Werbung. Sie brüstet sich derzeit damit, den Fernverkehr ausgebaut zu haben. Stimmen tut das nicht wirklich, ein Beispiel: Den Hamburger Hauptbahnhof verlassen heute 15 Prozent weniger Fernzüge als im letzten Fahrplan.
Derzeit wird ja immer von einer „Generalsanierung“ gesprochen, um das marode Netz wieder auf Vordermann zu bringen. Das scheint Sie nicht sonderlich zu überzeugen.
Diese Generalsanierung ist Generalunfug. Sie zeigt dramatisch, wie bahnfeindlich die Bahnchefs agieren. Seit es Eisenbahnen gibt, werden ihre Schienen „unterm laufenden Rad“, meist unbemerkt von den Reisenden, repariert. So ist das weltweit. Aber in Deutschland werden nun Hauptstrecken oft monatelang total gesperrt werden. Das ist ein Zwangsumerziehungsprogramm. Es macht aus erzürnten Bahnkunden Autofahrer. Wichtig in diesem Zusammenhang: Für den Erhalt der Infrastruktur ist die Bahn zuständig. Ist aber die Infrastruktur so kaputt, dass sie erneuert werden muss, dann springt der Bund ein. Und nun wird es bizarr: Für den Neubau übernimmt die Bahn die Planungsaufsicht, und sie bekommt dafür 20 Prozent der Baukosten. Sie verdient also an ihrem Zerfall – auf Kosten jeden Bürgers.
Aber immerhin kommt es doch derzeit zu umfangreichen Baumaßnahmen zur Ertüchtigung des Netzes.
Sie kommt in einen Zustand, der Normalität sein sollte, aber nie sein wird – vielleicht sogar nicht angestrebt wird. Denn Bahnchef Lutz sagte vor ein paar Tagen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Bezug auf die Strecke Frankfurt-Mannheim, dass sich durch ihre Sanierung die Störungen „um 80 Prozent“ verringern würden. Großartig – eine Sanierung, die nicht wirklich saniert. Es gehört Chuzpe dazu, so etwas zu verkünden.
Als Vorbild für einen funktionierenden Schienenverkehr wird ja oft die Schweiz genannt. Was machen die strukturell anders und vor allem besser?
Die Schweizer machen, was die Deutsche Bundesbahn mal zum weltweiten Vorbild gemacht hatte. Früher guckten die Schweizer neidisch auf Deutschland, heute staunen sie fassungslos, wie man ein so tolles System derartig demontiert und hat verkommen lassen.
Wie schätzen Sie die Rolle der Gewerkschaften bei der Bahn ein? Die zum DGB gehörende Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und ihre Vorläufer Transnet und GdED haben ja stets zuverlässig als Partner des Managements agiert und unter anderem vehement den geplanten Börsengang sowie den damit verbundenen „Sparkurs“ unterstützt, der maßgeblich zum Verfall der Netzinfrastruktur und zu der katastrophalen Personallage und den schlechten Arbeitsbedingungen beigetragen hat. Und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) hält beharrlich dagegen, sowohl tarif- als auch verkehrspolitisch.
Die EVG ist das, was man eine „gelbe Gewerkschaft“ nennt – also eine Gewerkschaft, die vor allem die Interessen des Konzernvorstands vertritt. Sie hat alles mitgetragen, was zu dieser Rumpel-Bahn geführt hat. Die GDL ist da ein kleiner Stachel, und es ist richtig, dass sie für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen kämpft. Die DB AG ist zu 100 Prozent im Staatsbesitz, sie muss – ist es aber nicht! – Vorbild in Sachen Arbeitsbedingungen sein.
Da komme ich auf ein verkehrspolitisches Kernanliegen der GDL zurück, das vorhin bereits erwähnt wurde. Wäre es in der jetzigen Situation nicht ein wichtiger Schritt, die gesamte Infrastruktur der Bahn aus dem Konzern herauszulösen und in unmittelbare öffentliche Trägerschaft zu geben?
Ich fürchte, das führt zu noch mehr Bürokratie und könnte überdies eine Hintertür öffnen zum nicht aufgegebenen Bestreben, die Bahn zu privatisieren. An öffentlich-rechtlichen Institutionen, wie etwa in den Rundfunkanstalten, sieht man übrigens auch, wie es zu Korruption und überbordender Bürokratie kommen kann. Die Bahn muss unter der Kontrolle der öffentlichen Hand sein – wie sie es früher einmal war. Nur so kann sie ihrem grundgesetzlich vorgeschriebenen Auftrag, ein günstiges Verkehrsmittel für alle Bürger zu sein, gerecht werden. Ein Auftrag, den Bahnchefs und Politiker schon zu lange ignorieren.
Und natürlich gehört dazu, dass in diesen Konzern wieder Bahn-Know-how kommt, das von Mehdorn und seinen Nachfolgern systematisch entsorgt wurde. Ein Wissen, das richtiges Bahnfahren ermöglicht – wie in der Schweiz, in Österreich, Frankreich und Italien –, und nicht bloß Manager, die von einem Job zum nächsten springen und sich vor allem um ihre exorbitanten Gehälter sorgen, nicht aber wirklich um den Niedergang der Bahn. Diese Lotterbahn steht, pars pro toto, für den Zustand dieses Landes – dafür, dass sich der Staat von seiner Fürsorgepflicht zurückzieht. Es verschwinden der Bahnhof, die Post, Krankenhäuser. Viele Bürger fühlen sich vernachlässigt, abgehängt. Und von diesem Gefühl der Unbehaustheit ist es nur ein kurzer Schritt zur Politikverdrossenheit – nur ein kleiner Sprung zur AfD. Die Bahn ist für mich ein Symbol für zu vieles, was in diesem Land falsch läuft.
Vielen Dank für das Gespräch.
Leseempfehlung: Luik, Arno: Schaden in der Oberleitung: Das geplante Desaster der Deutschen Bahn. Frankfurt am Main, Westend Verlag 2021, Taschenbuch, 304 Seiten, 12 Euro
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