Die Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes sind ein neuer Höhepunkt der Heuchelei – das ist erwartungsgemäß, aber darum trotzdem nicht akzeptabel. Einmal mehr beklagen Journalisten und Politiker selber ausgehobene Gräben, als seien diese vom Himmel gefallen. Unter anderem Corona-Politik und Militarismus zeigen, dass die gut gemeinte und treffend formulierte „Brandmauer Grundgesetz“ leider nicht immer standhält, wenn es wirklich darauf ankommt. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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In diesem Text geht es nicht um juristische Details des Staatsrechts, sondern um den aktuellen Umgang mit dem Grundgesetz als Symbol in einer öffentlichen Debatte, bei der doppelte Standards angewendet werden.
Nach den Erfahrungen mit der Corona-Politik und der aktuellen militaristischen Zeitenwende sehe ich (unter anderem) vor allem zwei Anliegen des Grundgesetzes schwer unter Druck: Zum einen die auch in polarisierten Zeiten (eigentlich) garantierte Meinungsfreiheit. Und zum anderen das „Friedensgebot“. Berührt war vor allem während Corona auch die Würde des Menschen – etwa durch die zum einsamen Sterben gezwungenen Alten, doch auch schon lange vorher war der Artikel etwa im Rahmen der Hartz-IV-Sanktionen und auf weiteren Feldern relevant. Es gibt zahlreiche Aspekte rund um das Grundgesetz, die in diesem Text nicht zur Sprache kommen können, da es den Rahmen sprengen würde.
Mehr zu dem Themen Meinungsfreiheit, Frieden und Corona folgt weiter unten. Zunächst zu den aktuellen Feierlichkeiten, die die Regierung unter dem Titel „Gemeinsam wird’s ein Fest“ ankündigte und die laut Medien von eintausend Polizisten bewacht werden mussten.
Wie wir wissen: Kritik ist jetzt „Verachtung“
Bundespräsident Steinmeier setze bei dem Staatsakt einmal mehr indirekt „die Demokratie“ mit den aktuell bestimmenden Politikern gleich – Kritik an schlechter Politik kann dann schnell in den Ruf der „Verachtung“ oder „Verunglimpfung“ geraten, wie Medien berichten. Die Demokratie in Deutschland sei unter Druck geraten, so Steinmeier. Und weiter:
„Gerade jetzt erstarken auch bei uns Kräfte, die sie schwächen und aushöhlen wollen, die ihre Institutionen verachten und ihre Repräsentanten beschimpfen und verunglimpfen.“
In Zeiten, in denen auch eine verantwortungslose „Hasssprache von oben“ vonseiten etablierter Journalisten, Politiker und Kulturbühnen die gesellschaftliche Kommunikation vergiftet, ist der folgende Appell des Bundespräsidenten eine hohle Phrase, solange sie nicht endlich auch (und vor allem) „von oben“ in die Praxis umgesetzt wird:
„Wir alle tragen Verantwortung für eine politische Kultur, die demokratieverträglich ist.“
Selbst die Bühne des Grundgesetzes, das doch auch im Geiste einer Reaktion des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion entstanden ist, wird von Steinmeier für die Durchhalteparolen des neuen deutschen Militarismus genutzt – ein Skandal: Es kämen nun, nach einem „epochalen Bruch“, rauhe und härtere Jahre auf die Menschen in Deutschland zu. „Wir müssen uns jetzt behaupten – mit Realismus und Ehrgeiz.“ Steinmeier forderte in diesem Zusammenhang, dass Deutschland mehr in seine Verteidigung und Bündnisse investieren müsse. Dafür brauche es finanzielle Mittel und eine starke Gesellschaft, die bereit sei, „Bedrohungen der Freiheit“ entgegenzutreten, und Zusammenhalt beweise. Das Land sollte deshalb Debatten über Formen des Wehrdienstes nicht scheuen.
Sogar am Tag des Jubiläums: Friedensgebot des Grundgesetzes wird vernebelt
Dieses Verhalten des Bundespräsidenten ist deshalb besonders dreist, weil damit das Friedensgebot des Grundgesetzes sogar am Tag des Jubiläums vernebelt werden soll – in meinen Augen ein weiterer Akt der Geschichtsumdeutung. Unter anderem die „Internationalen Ärzte zur Verhinderung des Atomkriegs“ (IPPNW) fordern anlässlich des 75. Jahrestags des Grundgesetzes eine Rückbesinnung auf eben dieses Friedensgebot, das mit der Präambel und dem Artikel 1, Abs. 2 und weiteren Regelungen fest verankert sei. Die Politik der „Zeitenwende“ und der Ruf nach „Kriegstüchtigkeit“ stünden zu diesen Artikeln im eklatanten Widerspruch. Die IPPNW fahren fort:
„Diese Militarisierung der Gesellschaft gefährdet den sozialen Zusammenhalt und fördert faschistische Tendenzen. Einerseits weil die massive Aufrüstung mit herben Einsparungen in anderen Bereichen wie Arbeit und Soziales, Klima, Entwicklungszusammenarbeit und Bildung einhergeht. So sieht der Bundeshaushalt 2024 mehr Geld für den Rüstungsetat vor als für Bildung, Gesundheit, Wohnen, Umwelt, Entwicklung und Auswärtiges zusammen.“
Das alles verstößt massiv gegen den Geist des Grundgesetzes und die Intention seiner „Mütter und Väter“. In Zeiten, in denen sich Verantwortliche immer wieder mit Höheren Gewalten herausreden wollen, muss auch immer wieder betont werden: Die Bürger hierzulande sind nicht zuerst vom Ukrainekrieg selber betroffen, sondern von den falschen und gefährlichen Reaktionen der Bundesregierung auf diesen Krieg, der zudem hätte verhindert werden können. Ebenso wurde die Gesellschaft nicht zuerst Opfer des (realen) Virus, sondern in viel stärkerem Maße wurde sie Opfer einer unangemessenen Politik als Reaktion darauf.
Grundrecht der Meinungsfreiheit in Gefahr
Das Grundrecht der Meinungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsbildung werden von staatlicher Seite durch direkte Verbote von Medien etwa aus Russland und durch neue Mediengesetze wie Digital Services Act, dem Digital Markets Act und dem „Medienfreiheits-Gesetz“ verletzt. Dazu kommt eine mindestens indirekte Zensur durch private Internetplattformen, die die Alternativmedien etc., die als Reaktion auf das Versagen vieler großer Medien entstehen, behindert. Dazu kommt eine fast kollektive Begrenzung des Debattenraums und eine Praxis des intensiven „Framings“ aller wichtigen Themen im Sinne der Regierung durch viele große Medien (privat und öffentlich-rechtlich).
Außerdem wirken Maßnahmen wie das neue Disziplinarrecht für Beamte, die Nutzung von extra unscharfen Fantasie-Begriffen wie „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“ und ein teils diffamierender und maßregelnder Ton von offizieller und journalistischer Seite dergestalt, dass sich so wenige Bürger wie seit den 1950er-Jahren trauen, offen ihre Meinung zu sagen. Eine solche Entwicklung zuzulassen oder gar zu befeuern, verstößt meiner Meinung nach gegen diverse Aspekte des Grundgesetzes.
Keine gesamtdeutsche Verfassung
Es gibt keine gesamtdeutsche Verfassung, das ist ein fortgesetzter Akt der Ignoranz. Das westdeutsche Grundgesetz erlangte nach der Wiedervereinigung Gültigkeit auch in den „neuen Bundesländern“.* Darum ist es auch kein Wunder, dass viele Ostdeutsche mit dem im Westen zelebrierten „Verfassungspatriotismus“ eher weniger anfangen können. Artikel 146 des Grundgesetzes sagt:
„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Die dauernde Identifizierung der AfD als gefährlichste Feindin des Grundgesetzes ist zumindest zum Teil eine Ablenkung: Viele Artikel des nun von Regierungspolitikern zu Recht als wichtig und verteidigenswert behandelten Grundgesetzes werden momentan viel eher von einer „radikalen Mitte“ bedroht – denn die ist an der Macht. Das radikale Potenzial der AfD soll hier keineswegs geleugnet oder verniedlicht werden – aber noch ist es eben vor allem ein oppositionelles Potenzial, während der grün-gelbe Militarismus bereits viel konkretere Folgen hat.
Während Corona wurde das Grundgesetz in vielerlei Hinsicht mit Füßen getreten, auch das Bundesverfassungsgericht hat da nicht angemessen korrigierend eingegriffen – das wird das Vertrauen in diese Institution möglicherweise dauerhaft beschädigen. Das schönste Grundgesetz ist nur so gut wie seine Umsetzung. Man muss bestürzt feststellen: Bei echten Nagelproben wie den Auswüchsen der Corona-Politik oder jetzt bei mutmaßlich grundgesetzwidrigen Aspekten der militaristischen „Zeitenwende“ hält die vielbeschworene Brandmauer nicht immer stand.
„Bitte packen Sie jetzt das Grundgesetz weg!“
Wie gesagt, es gibt zahlreiche weitere Aspekte rund um das Grundgesetz, die in diesem Text nicht zur Sprache kommen können. Kanzler Olaf Scholz äußert sich in diesem Video zum Jahrestag. Einen guten aktuellen Vorstoß finde ich eine Initiative von „Digitalcourage“, die den Bundestag auffordert, „das Recht auf ein Leben ohne Digitalzwang ins Grundgesetz aufzunehmen“.
Das Zitat aus der Überschrift stammt aus einem Video während der Corona-Zeit, in dem eine junge Frau mit Polizisten diskutiert, darüber hatte auch Manova berichtet.
Wer starke Nerven hat, kann sich auch diese aktuelle Aktion der Grünen anschauen: Politiker lesen aus dem Grundgesetz vor. Irgendwie passt es zu den Grünen, das Gesetz eben nicht mit Leben zu füllen, sondern wie ein Märchen zu behandeln, das man zum Jahrestag den Kindern/Bürgern vorliest, um es dann wieder in den Schrank zu stellen. Einige X-Nutzer fragen ironisch-überrascht, ob das öffentliche Lesen des Grundgesetzes denn überhaupt „wieder erlaubt“ sei – schließlich erinnern sie sich noch gut an schaurige Szenen wie diese:
Man kann es drehen und wenden wie man will: Deutlicher als in der #Coronazeit hat sich noch kein deutscher Staat und seine angeblichen Verfassungsschützer so dermaßen delegitimiert. Und das konnte jeder sehen, der hingeschaut hat. pic.twitter.com/DH0v4C2m1E
— Evi Denz (@ElefantImRaum2) January 5, 2023
*Aktualisierung 24.05.2024, 15:00: Dieser Satz wurde hinzugefügt
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