ICC-Haftbefehl gegen Netanjahu – Nagelprobe für Deutschlands regelbasierte Außenpolitik

ICC-Haftbefehl gegen Netanjahu – Nagelprobe für Deutschlands regelbasierte Außenpolitik

ICC-Haftbefehl gegen Netanjahu – Nagelprobe für Deutschlands regelbasierte Außenpolitik

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

„Ich komme aus dem Völkerrecht“ – dieser aufschneiderische Satz könnte Außenministerin Annalena Baerbock schon bald einholen. Wenn die Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs ICC den vom ICC-Chefankläger gestern beantragten Haftbefehl gegen den israelischen Premier Benjamin Netanjahu annimmt – was Insidern zufolge nur eine Formsache ist –, wird der Regierungschef „unseres engsten Verbündeten im Nahen Osten“ (Zitat Baerbock) ein mit weltweitem Haftbefehl gesuchter Kriegsverbrecher sein. Sollte er künftig deutschen Boden betreten, müsste Deutschland ihn festnehmen und nach Den Haag ausliefern. Auch die Lieferung von Waffen an einen Kriegsverbrecher wäre zumindest moralisch ein Dilemma für eine Regierung, die sich an anderer Stelle doch so gerne auf das Völkerrecht beruft und eine regelbasierte Außenpolitik zu ihrem Dogma erklärt hat. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Dass ICC-Chefankläger Karim Khan nun Haftbefehle nicht nur gegen drei hochrangige Hamas-Vertreter, sondern auch gegen den israelischen Premier Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Gallant beantragt hat, ist einerseits überraschend und andererseits auch wieder nicht. Am 3. März 2021 eröffnete der ICC erste Untersuchungen zur Situation in Palästina und die Vorverfahrenskammer stellte bereits damals die Zuständigkeit des ICC fest, da Palästina seit 2014 Mitglied des ICC ist. Am 17. November 2023 wies eine Reihe von ICC-Mitgliedsstaaten rund um Südafrika den ICC auf die möglichen Kriegsverbrechen in Gaza hin, am 18. Januar 2024 zeigten Mexiko und Chile der Anklage des ICC diese Kriegsverbrechen auch formal an. Die Vorermittlungen liefen also schon lange und daher war es angesichts der mittlerweile erdrückenden Beweislast nur eine Frage der Zeit, bis der ICC ein formales Verfahren eröffnet und Haftbefehle gegen die Hauptverdächtigen ausspricht.

Dennoch ist der Antrag auf Haftbefehle gegen zwei Mitglieder der israelischen Regierung, wenn auch nicht rechtlich, dafür um so mehr politisch überraschend. Der ICC wird maßgeblich von den westlichen Demokratien der EU gestützt und finanziert. Er ist ein elementarer Bestandteil dessen, was hierzulande gerne in Sonntagsreden als „regelbasierte Ordnung“ bezeichnet wird. In der Vergangenheit hat der ICC bei Kriegsverbrechen westlicher Verbündeter stets die Füße stillgehalten und wurde bei Kriegsverbrechen der Gegner des Westens aktiv. Erinnert sei an dieser Stelle an den Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Putin.

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Haftbefehle gegen Präsidenten und Regierungschefs westlicher Staaten gab es bislang nicht. Als der ICC im Zusammenhang mit den amerikanischen Kriegsverbrechen in Afghanistan Ermittlungen aufnahm, verhängte die US-Regierung 2020 Sanktionen gegen ICC-Mitarbeiter. Der ICC knickte ein und die USA hoben die Sanktionen wieder auf. Die nun beantragten Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant sind nicht nur ein „Affront“ gegen Israel und seine diplomatische Schutzmacht USA, sondern auch gegen die bislang eher ICC-freundlichen Europäer, vor allem die Deutschen, die sich auf der einen Seite als ganz besondere Freunde internationaler Regeln sehen, aber auf der anderen Seite neben und manchmal sogar noch vor den USA die bedingungslose Unterstützung Israels zur Staatsräson erhoben haben.

Dass Deutschlands Außenpolitik zuweilen doppelten Standards folgt und die vielzitierte „regelbasierte Ordnung“ eher den westlichen Interessen als dem Völkerrecht entspricht, ist hinlänglich bekannt. Außerhalb der EU nimmt wohl niemand die Sonntagsreden von Baerbock und Co. ernst. Ein ICC-Haftbefehl gegen den Regierungschef „unseres engsten Verbündeten im Nahen Osten“ würde die offensichtliche diplomatische Bigotterie jedoch auf eine neue Stufe stellen. Wird das ICC-Mitglied dem Völkerrecht folgen, Netanjahu – sofern sich die Gelegenheit böte – festnehmen und ausliefern und seine Unterstützung für die Regierung eines Mannes, gegen den der ICC wegen schwerster Kriegsverbrechen ermittelt, einstellen? Oder wird das ICC-Mitglied Deutschland einmal mehr auf das Völkerrecht pfeifen und weiterhin offen Kriegsverbrecher unterstützen?

Die Frage ist natürlich rhetorischer Natur. Selbstverständlich wird die Bundesregierung auf das Völkerrecht pfeifen und auch die Oppositionsparteien CDU und AfD werden weiterhin die bedingungslose Solidarität mit der rechtsextremen israelischen Regierung predigen und so tun, als würde es keine Kriegsverbrechen Israels geben. Interessant wird es aber sein, wie die Bundesregierung das begründet und verteidigt. Mit ihrer bisherigen Betonung einer regelbasierten Ordnung und einer wertegeleiteten Außenpolitik lässt sich die Unterstützung eines Mannes, gegen den der ICC wegen Kriegsverbrechen ermittelt, freilich kaum fortführen. Die Bigotterie und die doppelten Standards werden damit immer offensichtlicher.

Titelbild: ICC

Anhang: Erklärung des ICC-Anklägers Karim A.A. Khan KC: Anträge auf Haftbefehle im Zusammenhang mit der Situation im Staat Palästina

Heute stelle ich vor der Vorverfahrenskammer I des Internationalen Strafgerichtshofs Anträge auf Haftbefehle im Zusammenhang mit der Lage im Staat Palästina.

Yahya Sinwar, Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri (Deif), Ismail Haniyeh

Auf der Grundlage der von meinem Büro gesammelten und geprüften Beweise habe ich hinreichende Gründe für die Annahme, dass Yahya SINWAR (Führer der Islamischen Widerstandsbewegung (“Hamas”) im Gazastreifen), Mohammed Diab Ibrahim AL-MASRI, besser bekannt als DEIF (Oberbefehlshaber des militärischen Flügels der Hamas, (Oberbefehlshaber des militärischen Flügels der Hamas, der als Al-Qassam-Brigaden bekannt ist), und Ismail HANIYEH (Leiter des Politbüros der Hamas) tragen die strafrechtliche Verantwortung für die folgenden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die auf dem Gebiet Israels und des Staates Palästina (im Gazastreifen) mindestens ab dem 7. Oktober 2023 begangen wurden:

  • Ausrottung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, entgegen Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b des Römischen Statuts;
  • Mord als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, entgegen Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a, und als Kriegsverbrechen, entgegen Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe c Ziffer i;
  • Geiselnahme als Kriegsverbrechen im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe c Ziffer iii;
  • Vergewaltigung und andere Akte sexueller Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit entgegen Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe g und auch als Kriegsverbrechen gemäß Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe e Ziffer vi im Zusammenhang mit der Gefangenschaft;
  • Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Widerspruch zu Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe f und auch als Kriegsverbrechen im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe c Ziffer i im Zusammenhang mit der Gefangenschaft;
  • Andere unmenschliche Handlungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit entgegen Artikel 7 Absatz l Buchstabe k im Zusammenhang mit der Gefangenschaft;
  • Grausame Behandlung als Kriegsverbrechen im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe c Ziffer i im Zusammenhang mit der Gefangenschaft; und
  • Verletzung der persönlichen Würde als Kriegsverbrechen im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe c) Ziffer ii) im Zusammenhang mit der Gefangenschaft.

Mein Büro vertritt die Auffassung, dass die in diesen Anträgen angeklagten Kriegsverbrechen im Rahmen eines internationalen bewaffneten Konflikts zwischen Israel und Palästina und eines parallel laufenden nicht-internationalen bewaffneten Konflikts zwischen Israel und der Hamas begangen wurden. Wir sind der Auffassung, dass die vorgeworfenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit Teil eines weit verbreiteten und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung Israels durch die Hamas und andere bewaffnete Gruppen im Rahmen ihrer Organisationspolitik waren. Einige dieser Verbrechen dauern nach unserer Einschätzung bis zum heutigen Tag an.

Mein Büro vertritt die Auffassung, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass SINWAR, DEIF und HANIYEH für die Tötung von Hunderten von israelischen Zivilisten bei Angriffen der Hamas (insbesondere ihres militärischen Flügels, der al-Qassam-Brigaden) und anderer bewaffneter Gruppen am 7. Oktober 2023 sowie für die Entführung von mindestens 245 Geiseln strafrechtlich verantwortlich sind. Im Rahmen unserer Ermittlungen hat mein Büro Opfer und Überlebende befragt, darunter ehemalige Geiseln und Augenzeugen aus sechs wichtigen Anschlagsorten: Kfar Aza, Holit, der Ort des Supernova-Musikfestivals, Be’eri, Nir Oz und Nahal Oz. Die Untersuchung stützt sich auch auf Beweismaterial wie Videoüberwachungsaufnahmen, authentifiziertes Audio-, Foto- und Videomaterial, Aussagen von Hamas-Mitgliedern, einschließlich der oben genannten mutmaßlichen Täter, sowie auf Expertenaussagen.

Mein Büro ist der Ansicht, dass diese Personen die Begehung der Verbrechen am 7. Oktober 2023 geplant und angestiftet haben und durch ihre eigenen Handlungen, einschließlich persönlicher Besuche bei den Geiseln kurz nach deren Entführung, ihre Verantwortung für diese Verbrechen anerkannt haben. Wir machen geltend, dass diese Verbrechen ohne ihre Handlungen nicht hätten begangen werden können. Sie werden sowohl als Mittäter als auch als Vorgesetzte gemäß den Artikeln 25 und 28 des Römischen Statuts angeklagt.

Bei meinem eigenen Besuch im Kibbutz Be’eri und im Kibbutz Kfar Aza sowie auf dem Gelände des Supernova-Musikfestivals in Re’im habe ich die verheerenden Szenen dieser Angriffe und die tiefgreifenden Auswirkungen der in den heute eingereichten Anträgen angeklagten skrupellosen Verbrechen gesehen. In Gesprächen mit Überlebenden erfuhr ich, wie die Liebe innerhalb einer Familie, die tiefsten Bindungen zwischen Eltern und Kindern, durch kalkulierte Grausamkeit und extreme Gefühllosigkeit entstellt wurden, um unvorstellbares Leid zu verursachen. Für diese Taten muss Rechenschaft abgelegt werden.

Mein Büro vertritt auch die Ansicht, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass die aus Israel entführten Geiseln unter unmenschlichen Bedingungen gehalten wurden und dass einige von ihnen während ihrer Gefangenschaft sexueller Gewalt, einschließlich Vergewaltigung, ausgesetzt waren. Wir sind zu diesem Schluss gekommen, weil wir uns auf medizinische Aufzeichnungen, Video- und Dokumentationsmaterial aus dieser Zeit sowie auf Gespräche mit Opfern und Überlebenden stützen. Mein Büro untersucht auch weiterhin Berichte über sexuelle Gewalt, die am 7. Oktober verübt wurde.

Ich möchte den Überlebenden und den Familien der Opfer der Angriffe vom 7. Oktober meinen Dank für ihren Mut aussprechen, meinem Amt ihre Berichte zukommen zu lassen. Wir konzentrieren uns weiterhin auf die Vertiefung unserer Ermittlungen zu allen Verbrechen, die im Rahmen dieser Angriffe begangen wurden, und werden weiterhin mit allen Partnern zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.

Ich wiederhole meine Forderung nach der sofortigen Freilassung aller in Israel entführten Geiseln und ihrer sicheren Rückkehr zu ihren Familien. Dies ist eine grundlegende Forderung des humanitären Völkerrechts.

Benjamin Netanjahu, Yoav Gallant

Auf der Grundlage der von meinem Büro gesammelten und geprüften Beweise habe ich hinreichende Gründe für die Annahme, dass Benjamin NETANYAHU, der Premierminister Israels, und Yoav GALLANT, der Verteidigungsminister Israels, die strafrechtliche Verantwortung für die folgenden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit tragen, die auf dem Territorium des Staates Palästina (im Gazastreifen) ab mindestens dem 8. Oktober 2023 begangen wurden:

  • Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung als Kriegsverbrechen entgegen Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b) Ziffer xxv des Statuts;
  • Vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwerer Verletzungen des Körpers oder der Gesundheit im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe a Ziffer iii oder grausame Behandlung als Kriegsverbrechen im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe c Ziffer i;
  • Vorsätzliche Tötung im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe a Ziffer i oder Mord als Kriegsverbrechen im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe c Ziffer i;
  • Vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung als Kriegsverbrechen im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i oder Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe e Ziffer i;
  • Ausrottung und/oder Mord als Verbrechen gegen die Menschlichkeit entgegen Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b und Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a, auch im Zusammenhang mit dem Tod durch Verhungern;
  • Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe h);
  • andere unmenschliche Handlungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Widerspruch zu Artikel 7(1)(k).

Mein Büro vertritt die Auffassung, dass die in diesen Anträgen angeklagten Kriegsverbrechen im Rahmen eines internationalen bewaffneten Konflikts zwischen Israel und Palästina sowie eines parallel laufenden nicht-internationalen bewaffneten Konflikts zwischen Israel und der Hamas (zusammen mit anderen bewaffneten palästinensischen Gruppen) begangen wurden. Wir sind der Ansicht, dass die angeklagten Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Teil eines weit verbreiteten und systematischen Angriffs gegen die palästinensische Zivilbevölkerung im Rahmen der staatlichen Politik begangen wurden. Diese Verbrechen dauern nach unserer Einschätzung bis heute an.

Mein Büro vertritt die Auffassung, dass die von uns gesammelten Beweise, darunter Interviews mit Überlebenden und Augenzeugen, authentifiziertes Video-, Foto- und Audiomaterial, Satellitenbilder und Aussagen der mutmaßlichen Tätergruppe, zeigen, dass Israel die Zivilbevölkerung in allen Teilen des Gazastreifens vorsätzlich und systematisch der für das menschliche Überleben unentbehrlichen Gegenstände beraubt hat.

Dies geschah durch die Verhängung einer totalen Belagerung des Gazastreifens, die darin bestand, die drei Grenzübergänge Rafah, Kerem Shalom und Erez ab dem 8. Oktober 2023 für längere Zeit vollständig zu schließen und anschließend den Transfer lebenswichtiger Güter – einschließlich Lebensmitteln und Medikamenten – über die Grenzübergänge willkürlich einzuschränken, nachdem diese wieder geöffnet worden waren. Die Belagerung umfasste auch die Unterbrechung der grenzüberschreitenden Wasserleitungen von Israel nach Gaza – der wichtigsten Quelle für sauberes Wasser für die Bewohner des Gazastreifens – für einen längeren Zeitraum ab dem 9. Oktober 2023 sowie die Unterbrechung und Behinderung der Stromversorgung ab mindestens dem 8. Oktober 2023 bis heute. Dies geschah zusammen mit anderen Angriffen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich derjenigen, die für Lebensmittel anstanden, mit der Behinderung von Hilfslieferungen durch humanitäre Organisationen und mit Angriffen auf und der Tötung von Mitarbeitern von Hilfsorganisationen, was viele Organisationen dazu zwang, ihre Tätigkeit in Gaza einzustellen oder einzuschränken.

Mein Büro vertritt die Auffassung, dass diese Taten im Rahmen eines gemeinsamen Plans begangen wurden, der darauf abzielte, Hunger als Kriegsmethode und andere Gewaltakte gegen die Zivilbevölkerung des Gazastreifens einzusetzen, um (i) die Hamas auszuschalten, (ii) die Rückkehr der von der Hamas entführten Geiseln sicherzustellen und (iii) die Zivilbevölkerung des Gazastreifens kollektiv zu bestrafen, da sie als Bedrohung für Israel angesehen wurde.

Die Auswirkungen des Einsatzes von Hunger als Methode der Kriegsführung, zusammen mit anderen Angriffen und kollektiven Bestrafungen gegen die Zivilbevölkerung von Gaza, sind akut, sichtbar und weithin bekannt und wurden von zahlreichen Zeugen, die von meinem Büro befragt wurden, einschließlich lokaler und internationaler Ärzte, bestätigt. Dazu gehören Unterernährung, Dehydrierung, tiefes Leid und eine steigende Zahl von Todesfällen unter der palästinensischen Bevölkerung, darunter Säuglinge, andere Kinder und Frauen.

In einigen Gebieten des Gazastreifens herrscht eine Hungersnot, in anderen Gebieten steht sie unmittelbar bevor. Wie UN-Generalsekretär António Guterres vor mehr als zwei Monaten warnte, sind 1,1 Millionen Menschen im Gazastreifen von einer katastrophalen Hungersnot bedroht – die höchste Zahl, die jemals irgendwo und zu jeder Zeit verzeichnet wurde -, und zwar als Folge einer “vollständig von Menschen verursachten Katastrophe”. Heute versucht mein Büro, zwei der Hauptverantwortlichen, NETANYAHU und GALLANT, sowohl als Mittäter als auch als Vorgesetzte gemäß Artikel 25 und 28 des Römischen Statuts anzuklagen.

Israel hat, wie alle Staaten, das Recht, Maßnahmen zum Schutz seiner Bevölkerung zu ergreifen. Dieses Recht entbindet jedoch weder Israel noch einen anderen Staat von seiner Verpflichtung, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Ungeachtet etwaiger militärischer Ziele sind die Mittel, die Israel zur Erreichung dieser Ziele im Gazastreifen gewählt hat – nämlich die vorsätzliche Verursachung von Tod, Hunger, großem Leid und schwerer körperlicher oder gesundheitlicher Schädigung der Zivilbevölkerung – kriminell.

Seit letztem Jahr habe ich in Ramallah, in Kairo, in Israel und in Rafah immer wieder betont, dass das humanitäre Völkerrecht von Israel verlangt, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um den Zugang zu humanitärer Hilfe in Gaza in großem Umfang zu ermöglichen. Ich habe ausdrücklich unterstrichen, dass Aushungern als Kriegsmethode und die Verweigerung humanitärer Hilfe Verstöße gegen das Römische Statut darstellen. Ich hätte mich nicht klarer ausdrücken können.

Wie ich auch in meinen öffentlichen Erklärungen wiederholt betont habe, dürfen sich diejenigen, die sich nicht an das Gesetz halten, später nicht beschweren, wenn mein Amt tätig wird. Dieser Tag ist nun gekommen.

Mit der Vorlage dieser Anträge auf Haftbefehle handelt mein Amt in Erfüllung seines Mandats nach dem Römischen Statut. Am 5. Februar 2021 beschloss die Vorverfahrenskammer I, dass der Gerichtshof seine Strafgerichtsbarkeit in der Situation im Staat Palästina ausüben kann und dass sich der territoriale Geltungsbereich dieser Gerichtsbarkeit auf den Gazastreifen und das Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, erstreckt. Dieses Mandat ist fortlaufend und umfasst die Eskalation der Feindseligkeiten und der Gewalt seit dem 7. Oktober 2023. Mein Büro ist auch für Verbrechen zuständig, die von Staatsangehörigen der Vertragsstaaten und von Staatsangehörigen von Nichtvertragsstaaten im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats begangen werden.

Die heutigen Anträge sind das Ergebnis einer unabhängigen und unparteiischen Untersuchung durch mein Büro. Geleitet von unserer Verpflichtung, belastendes und entlastendes Beweismaterial gleichermaßen zu untersuchen, hat mein Büro sorgfältig gearbeitet, um Behauptungen von Fakten zu trennen und der Vorverfahrenskammer nüchterne Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Beweisen vorzulegen.

Als zusätzliche Absicherung war ich dankbar für den Rat eines Gremiums von Völkerrechtsexperten, einer unparteiischen Gruppe, die ich einberufen habe, um die Überprüfung der Beweise und die rechtliche Analyse im Zusammenhang mit diesen Haftbefehlsanträgen zu unterstützen. Das Gremium setzt sich aus hochrangigen Experten für humanitäres Völkerrecht und internationales Strafrecht zusammen, darunter Sir Adrian Fulford PC, ehemaliger Lord Justice of Appeal und ehemaliger Richter am Internationalen Strafgerichtshof; Baroness Helena Kennedy KC, Präsidentin des Menschenrechtsinstituts der International Bar Association; Elizabeth Wilmshurst CMG KC, ehemalige stellvertretende Rechtsberaterin im britischen Außen- und Commonwealth-Büro; Danny Friedman KC; und zwei meiner Sonderberater – Amal Clooney und Seine Exzellenz Richter Theodor Meron CMG. Diese unabhängige Expertenanalyse hat die heute von meinem Büro eingereichten Anträge unterstützt und gestärkt. Ich war auch dankbar für die Beiträge einer Reihe meiner anderen Sonderberater zu dieser Überprüfung, insbesondere Adama Dieng und Professor Kevin Jon Heller.

Heute unterstreichen wir einmal mehr, dass das Völkerrecht und die Gesetze des bewaffneten Konflikts für alle gelten. Kein Fußsoldat, kein Kommandeur, kein ziviler Führer – niemand – kann ungestraft handeln. Nichts kann rechtfertigen, dass Menschen, darunter so viele Frauen und Kinder, vorsätzlich der lebensnotwendigen Grundversorgung beraubt werden. Nichts kann die Entführung von Geiseln oder die gezielte Tötung von Zivilisten rechtfertigen.

Die unabhängigen Richter des Internationalen Strafgerichtshofs sind die einzigen, die darüber entscheiden können, ob die Voraussetzungen für den Erlass von Haftbefehlen erfüllt sind. Sollten sie meinen Anträgen stattgeben und die beantragten Haftbefehle ausstellen, werde ich eng mit dem Kanzler bei allen Bemühungen zusammenarbeiten, die genannten Personen festzunehmen. Ich zähle darauf, dass alle Vertragsstaaten des Römischen Statuts diese Anträge und die anschließende gerichtliche Entscheidung mit der gleichen Ernsthaftigkeit behandeln, wie sie es in anderen Fällen getan haben, um ihren Verpflichtungen aus dem Statut nachzukommen. Ich bin auch bereit, mit Nichtvertragsstaaten in unserem gemeinsamen Streben nach Rechenschaftspflicht zusammenzuarbeiten.

In diesem Moment ist es von entscheidender Bedeutung, dass mein Büro und alle Teile des Gerichtshofs, einschließlich seiner unabhängigen Richter, ihre Arbeit in voller Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ausführen können. Ich bestehe darauf, dass alle Versuche, die Bediensteten des Gerichtshofs zu behindern, einzuschüchtern oder in unzulässiger Weise zu beeinflussen, unverzüglich eingestellt werden. Mein Amt wird nicht zögern, gemäß Artikel 70 des Römischen Statuts zu handeln, wenn ein solches Verhalten fortgesetzt wird.

Ich bin nach wie vor zutiefst besorgt über die anhaltenden Anschuldigungen und die sich abzeichnenden Beweise für internationale Verbrechen, die in Israel, im Gazastreifen und im Westjordanland begangen werden. Unsere Ermittlungen gehen weiter. Mein Büro treibt mehrere und miteinander verbundene zusätzliche Ermittlungslinien voran, unter anderem in Bezug auf Berichte über sexuelle Gewalt während der Angriffe vom 7. Oktober und in Bezug auf die groß angelegten Bombardierungen, die so viele zivile Todesopfer, Verletzungen und Leiden in Gaza verursacht haben und weiterhin verursachen. Ich ermutige diejenigen, die über sachdienliche Informationen verfügen, sich mit meinem Büro in Verbindung zu setzen und Informationen über OTP Link zu übermitteln.

Mein Büro wird nicht zögern, weitere Anträge auf Haftbefehle zu stellen, wenn wir der Ansicht sind, dass die Schwelle einer realistischen Aussicht auf eine Verurteilung erreicht ist. Ich erneuere meine Aufforderung an alle Konfliktparteien, sich jetzt an das Gesetz zu halten.

Ich möchte auch betonen, dass der Grundsatz der Komplementarität, der das Kernstück des Römischen Statuts bildet, von meinem Amt weiterhin geprüft wird, wenn wir Maßnahmen in Bezug auf die oben aufgeführten mutmaßlichen Verbrechen und mutmaßlichen Täter ergreifen und andere Ermittlungslinien vorantreiben. Die Komplementarität setzt jedoch voraus, dass die nationalen Behörden nur dann tätig werden, wenn sie unabhängige und unparteiische Gerichtsverfahren einleiten, die keine Verdächtigen schützen und keine Täuschung darstellen. Sie erfordert gründliche Untersuchungen auf allen Ebenen, die sich mit den diesen Anträgen zugrunde liegenden Strategien und Maßnahmen befassen.

Wir sollten uns heute über einen zentralen Punkt im Klaren sein: Wenn wir nicht unsere Bereitschaft zeigen, das Recht gleichmäßig anzuwenden, wenn es als selektiv angewandt wird, schaffen wir die Voraussetzungen für seinen Zusammenbruch. Damit lockern wir die verbleibenden Bande, die uns zusammenhalten, die stabilisierenden Verbindungen zwischen allen Gemeinschaften und Individuen, das Sicherheitsnetz, auf das alle Opfer in Zeiten des Leids schauen. Das ist die wahre Gefahr, der wir in diesem Augenblick ausgesetzt sind.

Jetzt müssen wir mehr denn je gemeinsam beweisen, dass das humanitäre Völkerrecht, die grundlegende Basis für menschliches Verhalten in Konflikten, für alle Menschen gilt und in allen Situationen, mit denen sich mein Amt und der Gerichtshof befassen, gleichermaßen Anwendung findet. Auf diese Weise werden wir greifbar beweisen, dass das Leben aller Menschen den gleichen Wert hat.

Titelbild: Screenshot IntlCriminalCourt via Youtube