Piepegalpakt 2.0: Eine Runde digitaler Antibildung ist nicht genug

Piepegalpakt 2.0: Eine Runde digitaler Antibildung ist nicht genug

Piepegalpakt 2.0: Eine Runde digitaler Antibildung ist nicht genug

Ein Artikel von Ralf Wurzbacher

Der „Digitalpakt Schule“ war gestern. Deshalb braucht es schleunigst ein Anschlussprogramm, finden nicht nur IT-Industrielle und -Lobbyisten, sondern auch die hiesigen Gewerkschaften. Dass bisher so technikverliebte Länder wie Dänemark und Schweden die Flucht zurück zum Analogen ergreifen, um das Klassenzimmer wieder zum Bildungsraum zu machen, stört sie nicht, so wenig wie ein allgemeines Schulleistungsniveau im freien Fall. Bleibt nur die Hoffnung auf Gegenwehr durch Eltern, Lehrer und vielleicht ja sogar die größten Leidtragenden – die Kinder. Und darauf, dass die Politik für das Quatschprojekt kein Geld zusammenkratzt. Ein Kommentar von Ralf Wurzbacher.

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Die IT-Industrie macht sich Sorgen. Am gestrigen Donnerstag war der „Digitalpakt Schule“ ausgelaufen, und noch steht nicht fest, wie es danach weitergeht. „Eine zeitgemäße Bildung darf nicht dem anhaltenden Gerangel um Budget und Kompetenzen zwischen Bund und Ländern zum Opfer fallen“, befand am Dienstag der Präsident des Branchenverbands, Ralf Wintergerst. Mit dem Ausbleiben einer rechtzeitigen Anschlussfinanzierung und einer gemeinsamen Lösung verpasse Deutschland die Chance, die Schulen digital auf die Höhe der Zeit zu bringen. „Einmaliges Geld zur Anschaffung von Technik reicht nicht aus“, mahnte der Cheflobbyist, und man ist versucht, ihm in den Mund zu legen: Es braucht zweimaliges Geld, besser noch, es braucht Geld ohne Ende!

Wofür? Vor fünf Monaten hat sich Dänemarks sozialdemokratischer Minister für Kinder und Bildung, Mattias Tesfaye, in aller Öffentlichkeit dafür entschuldigt, Schülerinnen und Schüler zu „Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ gemacht zu haben, „dessen Ausmaß und Folgen wir nicht überblicken können“. Die Dänen, überhaupt die skandinavischen Länder, galten bisher stets als großes Vorbild in puncto digitaler Bildung – auch und gerade für Deutschland. Und jetzt das: Das Klassenzimmer sei nun einmal keine „Erweiterung des Jugendzimmers, in dem gestreamt, gespielt und geshoppt wird“, so Tesfaye, der seinen Worten prompt Taten folgen ließ. Anfang Februar legte sein Ministerium zwölf „restriktive“ Empfehlungen vor, damit die Schulen das „Klassenzimmer als Bildungsraum zurückerobern“.

Bloß ein Haufen Technik

Für die Süddeutsche Zeitung klingen die Maßnahmen wie ein „Digital-Detox-Programm für Heavy User“. Unter anderem umfassen sie: Handys komplett raus aus der Schule, Tablets und Computer wegsperren, sofern sie nicht didaktisch und pädagogisch sinnvoll im Unterricht genutzt werden, die Einrichtung von Firewalls zur Abwehr unterrichtsfremder Inhalte. Der Vorstoß ist eine Reaktion auf Klagen von Lehrerverbänden und Bildungsforschern, wonach konzentriertes Arbeiten in vielen Klassen kaum mehr möglich sei, und Ausdruck der späten Erkenntnis – O-Ton Tesfaye –, sich den großen Tech-Konzernen „zu lange unterworfen“ zu haben und als Gesellschaft zu „verliebt“ gewesen zu sein in die Wunder der Digitalwelt.

Man wünschte sich ähnliche Einsicht bei seiner deutschen Amtskollegin. Doch während neben Dänemark davor auch schon Schweden zum großen „Rollback zum Analogen“ angesetzt hat, gibt Bettina Stark-Watzinger (FDP) lieber zu Protokoll: „Vom Digitalpakt profitieren immer mehr Schulen in ganz Deutschland.“ Was heißt das? Richtig ist: „Immer mehr Schulen“ verfügen heute über digitale Geräte, aber die wenigsten haben einen Plan, was sie damit mangels Ressourcen und schulbehördlicher Anleitung anstellen sollen. Schließlich folgte das 2019 aufgelegte Projekt, das sich allein der Bund bis dato 6,5 Milliarden Euro hat kosten lassen, bisher dem Muster: Vor der Schule wird ein Haufen Technik abgeladen, obendrauf eine Postkarte mit der Aufschrift: Macht was draus! Dass daraus nur Machwerk werden kann, war programmiert.

Kein Interesse an Kindeswohl

Wer schließt die Geräte an, wer unterhält und pflegt sie, wo kommt Ersatz her, wenn sie kaputt sind, wer sorgt für Datenschutz? Mit solchen Problemen wurden die Schulen komplett allein gelassen. Die neuen Aufgaben bekamen sie einfach übergebraten, während sie schon unter der ohnehin riesigen Last eines Schulbetriebs am Limit – mit immer mehr lernschwachen, sozial und kognitiv gestörten Teenagern und schwer beschulbaren Flüchtlingskindern bei einem zugleich historischen Lehrermangel – zu ächzen haben. Sicher gibt es Fälle in reicheren Kommunen, wo digitale Schule zumindest in puncto technischer Umsetzung funktioniert, aber in der Breite gleicht das Unterfangen einer Notgeburt ohne Hebamme.

Noch mehr gilt das für die didaktisch-pädagogische Begleitung. Eine Art übergeordnete Steuerung, geschweige denn ein wissenschaftlich grundiertes Konzept, was digitale Schule überhaupt leisten, lehren und vermitteln kann und soll, gibt es nicht. „Bereitstellung von digitalem Unterrichtsmaterial, Lehrkräftefortbildungen, landeseigene Schulplattformen – an allen Ecken und Enden hapert es“, monierte dieser Tage das Portal News4Teachers und geißelte eine „je nach Lust und Kassenlage ausfallende Bildungspolitik, die sich um ihre Kernzielgruppen – die Schülerinnen und Schüler sowie ihre Lehrkräfte – einen Teufel schert“. Das trifft es. 80 Prozent der verausgabten Mittel fließen gemäß politischen Vorgaben in die Anschaffung von Hardware, und bestenfalls der Rest bleibt dafür übrig, die ganzen neuen Whiteboards, Tablets und PCs irgendwie unterrichtsverträglich zu machen.

Spielwiese Klassenzimmer

Geklappt hat das nicht, weil es nicht klappen kann. Allein der Ansatz, das bei Heranwachsenden mit Abstand begehrteste, vielfach exzessiv bis hin zur Sucht genutzte Spielzeug zum schulischen Lernwerkzeug zu machen, ist grotesk. Angezeigt wäre das Gegenteil, nämlich Schule als Offline-Bastion zu etablieren. Auch hierzulande mehren sich die Wortmeldungen, die den eingeschlagenen Weg für grundfalsch halten: Bildungsexperten, Pädagogen, Soziologen, Kinderärzte, Hirnforscher. Beispielhaft hatten unlängst über drei Dutzend Fachleute unterschiedlichster Disziplinen ein „Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen“ im Sinne der Fürsorgepflicht öffentlicher Bildungseinrichtungen gefordert. Es müssten zuerst die Folgen der digitalen Technologien abschätzbar sein, „bevor weitere Versuche an schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen mit ungewissem Ausgang vorgenommen werden“.

Tatsächlich schreibt die Verwaltungsvereinbarung des „Digitalpakts“ eine wissenschaftliche Evaluation des Programms vor. Los ging es damit allerdings erst im vergangenen Jahr, und mit dem Abschlussbericht wird 2027 gerechnet. Warum prüft man nicht, bevor eine Anschlussvereinbarung auf den Weg gebracht wird? Man schickt ja auch keinen Sechserschüler aufs Gymnasium, nur weil sein Zeugnis verschüttgegangen ist. Ohnedies ist der allgemeine Niveauverlust an deutschen Lehranstalten schon sehr lange offensichtlich. Seit mindestens 2010 werden die schulischen Leistungen kontinuierlich schlechter, erkennbar etwa an den regelmäßigen Untersuchungen des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).

Aus Fehlern lernen? Nicht bei uns!

Natürlich sind die Ursachen vielschichtig – mehr Armut, mehr Zuwanderung, Lehrermangel, ein chronisch unterfinanziertes Bildungssystem. Nur wer wollte heute noch behaupten, dass der Allgegenwart von Smartphones und Tablets schon bei Kindern, bei sinkendem Einstiegsalter und zunehmender Nutzungsdauer, nicht mindestens eine Mitschuld an der Misere zukommt? Warum besteht an 87 Prozent der Privatschulen in Deutschland ein Handyverbot, während das für weniger als die Hälfte der staatlichen Einrichtungen gilt? Dass man sich mit höherem sozialen Status der Gefahren digitaler Medien bewusster ist, zeigt sich auch daran, dass die Kinder der Tech-Avantgarde aus dem Silicon Valley vermehrt digital befreite Schulen besuchen. Und halten nicht hiesige Bildungspolitiker PISA hoch wie den Stein der Weisen? Aber ausgerechnet die Überflieger von einst, Schweden etwa oder Dänemark, haben bei der internationalen Schulleistungsstudie deutlich abgebaut.

Der Unterschied: Die Nordeuropäer lernen aus ihren Fehlern, die Regierenden in Deutschland machen einfach stur weiter. Oder sie plappern die plumpen Sprüche von Digitalökonomen nach, die mangelnde Evidenz schlicht mit der Behauptung wegwischen, die Potenziale wären „noch nicht ausgeschöpft“. Gleichwohl ist die Politik nicht mehr mit dem anfänglichen Enthusiasmus bei der Sache. Namentlich die Bundesregierung behandelt das einstige Vorzeigeprojekt mit allerhand Lieblosigkeit. Ein jüngst publik gewordenes Papier aus dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bringt die Bundesländer in Rage. Demnach will sich der Bund schrittweise aus der Finanzierung zurückziehen. Zum angestrebten „Digitalpakt 2.0“, der 2025 starten soll, will er bloß noch 50 Prozent und nicht wie bisher 90 Prozent beisteuern und die Förderung ab 2030 komplett einstellen. Die Länder weisen das zurück und pochen auf den bisherigen Verteilungsschlüssel. Wie viel Geld das Gesamtpaket umfassen soll, ist auch nicht geklärt. In besagter Vorlage ist der Kostenaufwand mit „X“ bezeichnet.

Gewerkschaften voll auf Kurs

Daraus zu schließen, die Ampel wolle womöglich beim Thema Technoschule zum Rückzug blasen, führte fraglos zu weit. Es gibt nur momentan Wichtigeres zu tun, Stichwort: Kriegsertüchtigung. Die herzustellen, ist schon teuer genug. Da wird dann manches nachrangig, was gestern noch unter „first“ gehandelt wurde. Immerhin ein Fünkchen Durchblick offenbart der BMBF-Entwurf: Demnach sollen Lehrkräfte künftig mit pro Kopf 30 Stunden Fortbildungen fürs digitale Unterrichten fit gemacht werden. Denn, so Stark-Watzinger, der „Digitalpakt 2.0 darf nicht zu einer reinen Bestellliste für Endgeräte werden“. Was wohl besagt, Pakt eins war genau das.

Selbstredend wehren sich die Bundesländer gegen eine Lernpflicht für Lehrer, wegen Übergriffigkeit in die Bildungshoheit. Wie soll das auch bezahlt werden, und wer kümmert sich währenddessen um die Kinder? Prof. Dr. Google vielleicht. Warum nicht? Bei führenden Lehrerverbänden – der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und beim Verband Bildung und Erziehung (VBE) – ist man ob des Bund-Länder-Zoffs jedenfalls erbost. Dabei sei doch das „Gebot der Stunde, den Pakt jetzt gut auszufinanzieren und ihn zu verstetigen“, verlautete von der GEW. „Deshalb fordern wir Bund, Länder und Kommunen auf, sich zum Wohle der Kinder endlich zu einigen und Schulen umfänglich, zuverlässig und nachhaltig auszustatten, sodass Deutschland nicht noch weiter von der weltweiten Entwicklung in der Digitalität abgehängt wird“, gab der VBE Bescheid. Wer braucht da noch die bezahlten Bitkom-Lobbyisten?

Titelbild: Just dance/shutterstock.com

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