In der Sendung „Hintergrund“ wurde am Donnerstag mit ausgewählten „Experten“ einmal mehr versucht, ohne sachliche Grundlagen das letzte „Argument“ für Kriegsverlängerung zu zementieren. Das lautet in vielen Variationen (sinngemäß): „Wenn Putin in der Ukraine nicht verliert, dann macht er einfach weiter.“ Diese Sendung steht beispielhaft für die massiven öffentlich-rechtlichen Verstöße gegen die eigentlich verpflichtende Ausgewogenheit. Der Beitrag führt zudem einmal mehr vor, wie ein Mangel an Argumenten mit einer zunehmend schrillen Meinungsmache ausgeglichen werden muss. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Die aktuelle Meinungsmache für Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet und für Hochrüstung zulasten von Sozialstaat etc. hat ein Problem: Die Fakten stützen die Panikmache vor einem kommenden russischen Angriff auf NATO-Länder nicht. Auch die nun stur wiederholte (sinngemäße) Behauptung, „wenn Putin nicht verliert, dann macht er einfach weiter“, ist genau das: eine reine Behauptung interessierter Kreise, die nichts mit den Länder-Budgets für Rüstung und anderen realen Kriterien zur Beurteilung dieser Frage zu tun hat.
Der Deutschlandfunk (DLF) hat am Sonntag in der Sendung „Hintergrund“ folgendes Thema behandelt: „Russland und die NATO – Kein Krieg, aber auch kein Frieden mehr“. Ich hatte gehofft, dass ich in diesem Beitrag endlich die angeblichen Äußerungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu hören bekomme, in denen er dem Baltikum oder Polen den Überfall ankündigt oder gegenüber diesen Ländern zumindest in einen aggressiv drohenden Tonfall verfallen würde: Aber auch in der DLF-Sendung wird man diesbezüglich wieder enttäuscht. Stattdessen wird Putin zitiert, wie er im Interview mit Tucker Carlson das Gegenteil sagt: nämlich, dass die Behauptung, Russland würde nach der Ukraine imperiale Kriege gegen NATO-Territorium vom Zaun brechen, westliche Propaganda sei.
Die DLF-Sendung von Anna Loll tritt an, um diesen Satz Putins zu widerlegen – und scheitert auf ganzer Linie, obwohl mit einer selektiven Auswahl von „Experten“ gearbeitet wird. Diese Gesprächspartner stimmen der These vom imperialen Russland zwar brav und teils in unseriös scharfen Formulierungen zu – aber es werden auch von ihnen in der Sendung wieder keine überzeugenden Fakten geliefert (etwa in Form von vergleichenden Rüstungsbudgets), warum EU-Europa nun Wirtschaft, Sozialstaat und Frieden riskieren sollte, indem es sich immer weiter in den US-russischen Stellvertreterkrieg in der Ukraine und darüber hinaus in eine prinzipielle Feindschaft mit Russland hineinziehen lässt.
In der Sendung wird mehrfach behauptet, „fast alle Experten“ würden die besorgte Sicht auf Russlands imperialistisches Potenzial stützen – folgerichtig erklingen in der DLF-Sendung auch nur „maßgeschneiderte“ Stimmen aus Politik, Militär und NATO-freundlichen Lobbygruppen oder auch von einem Greenpeace-Sprecher, der wohl stellvertretend für eine in bedenklicher Weise angepasste „Zivilgesellschaft“ zitiert wird.
„In anderen Worten – wir leben nicht mehr im Frieden“
Der in der Sendung ausführlich wiedergegebene russische „Militärexperte“ Pavel Luzin handelt beispielhaft für viele aktuelle Befürworter einer Eskalation des Ukrainekriegs: Sicher in den USA sitzend, heizt er aus der Entfernung mit scharfen und unseriösen Formeln einen sinnlosen und für Europa verheerenden Krieg an und möchte ihn verlängern und verschlimmern. Als Beispiel für „Russlands Hegemonialanspruch“ nennt Luzin Russlands Forderungen vom Dezember 2021 nach einem teilweisen Revidieren der NATO-Osterweiterung seit 1997 und dem Verzicht der Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO.
Zur Erinnerung: Mit ernsthaften Verhandlungen über diese von russischer Seite als starke Bedrohung wahrgenommene Entwicklung der NATO hätte der Ukrainekrieg verhindert werden können. Man kann sich ja weigern, diese Sorgen der Russen als begründet anzuerkennen, aber die Sorgen waren (spätestens seit 2014!) bekannt und auch, welche Handlungen von russischer Seite ein weiteres Missachten dieser russischen Sorgen auslösen würde. Mit dieser Aussage werden nicht die russischen Handlungen selber pauschal verteidigt, sondern betont, dass es mit kluger Diplomatie von westlicher Seite im eigenen Interesse hätte verhindert werden können, dass diese Handlungen überhaupt erfolgen.
Betont werden soll aber auch, dass ein Kompromiss um des Friedens Willen auf dem Gebiet der Sicherheitsbedenken keine naive Unterwerfung Deutschlands unter Russlands Interessen bedeuten soll. Zusätzlich wird hier nicht für einen harten Bruch mit den USA plädiert: Deutschland sollte und könnte eine Brücke sein und davon profitieren.
Dass es momentan kein plausibles oder zumindest deutliches russisches Motiv für die militärische Eroberung und „physische Besetzung“ anderer europäischer Länder gibt, das klingt auch in der DLF-Sendung indirekt an. Dazu sei noch erwähnt: Wenn das Ziel Russlands die militärische Unterwerfung seiner Nachbarn ist, warum wurde die damals noch nicht hochgerüstete Ukraine nicht 2014 von Russland überrollt?
Trotz dieser Einschränkungen meint im DLF Christian Mölling, stellvertretender Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, dass „Russland ein imperialer Staat ist, der ein Interesse hat, seine alte Macht wieder herzustellen“. Und diese Behauptung könne man „als quasi gegeben“ bezeichnen – Ende der Debatte. In der Sendung werden die russischen Rüstungsausgaben von SIPRI zitiert – aber sie werden zumindest nicht direkt den viel höheren gemeinsamen Rüstungsausgaben der NATO-Länder gegenübergestellt. Angesichts dieses Kräfteverhältnisses erscheint ein russischer Angriff auf die NATO als ein militärisches Himmelfahrtskommando für die Russen.
Ein großer Teil des DLF-Beitrags beschäftigt sich mit nicht konkret begründeter Kaffeesatzleserei bezüglich Russlands künftiger militärischer Stärke: Die einen Experten würden demnach sagen, Russland sei in sechs bis neun Jahren bereit für Angriffe – die Balten meinen aber, es seien nur drei Jahre! Wer bietet mehr? Dazu fallen Null-Aussagen, nach denen es zwar viele Unbekannte in der Einschätzung des zukünftigen russischen Handelns gebe – aber trotzdem gebe es „keinen Grund, nicht beunruhigt zu sein“. Nach jedem noch so absurden Strohhalm wird gegriffen: In die Aufzählung von mutmaßlicher russischer „Sabotage“ wird auch unwidersprochen die „Nord-Stream-2-Thematik“ integriert. Die Moderatorin fasst am Ende zusammen: „In anderen Worten – wir leben nicht mehr im Frieden.“
Nach „Meinung der meisten Experten …“
Nach „Meinung der meisten Experten“ müsse laut DLF als Reaktion auf all das vor allem eins folgen: „massiv aufrüsten“. Das Gute sei: Wir haben noch ein paar Jahre Zeit, um massenhaft Geld auf Basis von durchschaubarer Meinungsmache in Form von Waffenlieferungen und Hochrüstung zu vernichten. Zumindest hier hat der Deutschlandfunk recht: Für die Bürger bleibt dann die Frage, ob wir lieber die Bildung oder die Sozialausgaben für diesen Irrsinn kürzen wollen.
Am Ende wird der radikalen Meinungsmache von Pavel Luzin noch einmal viel Raum eingeräumt. Diese DLF-Sendung verletzt in ihrer krassen Einseitigkeit den „ausgewogenen“ Programmauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks massiv.
Solche Beiträge zeigen zweierlei: Zum einen lassen sich die „Argumente“ für Hochrüstung und dafür, Deutschland immer tiefer in einen US-russischen Stellvertreterkrieg zu verstricken, zugespitzt auf einen einzigen, nirgends konkret unterfütterten Satz konzentrieren: „Wenn Putin in der Ukraine nicht verliert, dann macht er einfach weiter.“ Zum anderen wird einmal mehr deutlich, dass dieser Mangel an Argumenten mit einer zunehmend schrillen Meinungsmache ausgeglichen wird.