Es ist wieder so weit. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine acht Mitgliedsgewerkschaften rufen am „Tag der Arbeit“ bundesweit zu Demonstrationen, Kundgebungen und Festen unter der Losung „Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit” auf. Der DGB rechnet auf rund 400 Veranstaltungen mit mehr als 300.000 Teilnehmern. Von Rainer Balcerowiak.
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Seit 1886 ist der 1. Mai eine Art Fixpunkt für die internationale Arbeiterbewegung. Damals streikten eine halbe Million US-Amerikaner für die Einführung des Achtstundentags. In den folgenden Tagen eskalierte die Auseinandersetzung vor allem in Chicago, es gab zahlreiche Tote und Verletzte. Acht Streikführer wurden inhaftiert und später hingerichtet. 1889 beschlossen Gewerkschaften und Arbeiterparteien auf dem Zweiten Internationalen Arbeiterkongress in Paris, zum Gedenken an die Opfer von Chicago am 1. Mai zu einer internationalen Demonstration aufzurufen. Zentrale Forderungen waren auch hier der Achtstundentag, außerdem höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. 1890 erklärte die SPD den 1. Mai offiziell zum „Kampftag der Arbeiterklasse“, und 1919 wurde er als „Tag der Arbeit“ von der Weimarer Nationalversammlung per Gesetz zum offiziellen Feiertag erklärt.
In den vergangenen Jahren war der 1. Mai für den DGB vor allem ein Tag für die identitätsstiftende Selbstvergewisserung der schrumpfenden Mitgliedschaft. Und für viele Teilnehmer war es auch einfach eine große Party: Das Bier floss in Strömen, dazu kam der manchmal etwas strenge Geruch von angekokelten Bratwürsten. Auch für Kinderbespaßung – etwa mit Hüpfburgen – war gesorgt, und auf den Bühnen versuchten Kulturschaffende aller Couleur, gute Laune zu verbreiten.
„Kampftag der Arbeiter“ zum Ritual verkommen
Wirklich zu feiern gab es allerdings eher wenig. Die vergangenen Jahre waren von empfindlichen Reallohnverlusten, einer erodierenden Tarifbindung und einem wuchernden Niedriglohnsektor geprägt, verbunden mit einem deutlichen Mitgliederrückgang der DGB-Gewerkschaften. 500.000 Mitglieder verloren sie zwischen 2013 und 2023, jetzt sind es noch 5,65 Millionen, davon 2,1 Millionen bei der IG Metall und 1,9 Millionen bei ver.di. Noch drastischer stellt sich dieser Schrumpfungsprozess in einem längeren Zeithorizont dar: 1991 waren es noch fast zwölf Millionen Mitglieder.
Es gab Jahr für Jahr die ewig gleichen „kämpferischen Reden“ von DGB-Funktionären und Polit-Prominenz, zumeist mit SPD-Parteibuch. Dieser fast schon symbiotischen Bindung der DGB-Führung an die SPD hat auch der massivste soziale Kahlschlag der bundesdeutschen Geschichte, die von einer sozialdemokratisch geführten Regierung exekutierten Agenda-2010-Reformen, kaum etwas anhaben können.
Das ist diesmal nicht anders. Auf den größeren Kundgebungen werden neben der DGB-Prominenz auch die SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil, der Generalsekretär Kevin Kühnert, die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und die EU-Spitzenkandidatin Katarina Barley ans Mikrofon treten. Wobei stets mit mehr oder weniger lautstarken Protesten etlicher Teilnehmer zu rechnen ist, denn diese Politiker stehen nicht nur für eine aggressive Rüstungs- und Sanktionspolitik gegen Russland, sondern auch für sozial-, klima- und wirtschaftspolitische Geisterfahrten, die auch vielen Gewerkschaftsmitgliedern schwer im Magen liegen.
Erfreuliche Erfolge bei Tarifkämpfen
Dennoch gibt es in diesem Jahr für die Gewerkschaften durchaus etwas zu feiern. Vor allem als Reaktion auf die Inflation in den vergangenen zwei Jahren ging man recht offensiv in die Tarifrunden und konnte in einigen Branchen, teilweise begleitet von Streiks, ansehnliche Abschlüsse erzielen. Das betraf zum einen den öffentlichen Dienst und – besonders „publikumswirksam“ – alle Verkehrssektoren, also die Luftfahrt, den Schienenverkehr und den kommunalen Nahverkehr.
So bekommen die Beschäftigten der Luftsicherheitsunternehmen zwischen 13,1 und 15,1 Prozent mehr, bei einer Laufzeit von 15 Monaten. Beim Bodenpersonal der Lufthansa beläuft sich die durchschnittliche Erhöhung auf 12,5 Prozent, wobei es eine Mindesterhöhung von 280 Euro pro Monat gibt, wodurch die Entgelte bei unteren und mittleren Gehaltsgruppen überproportional steigen. Auch im kommunalen Nahverkehr gab es teilweise kräftige Lohnerhöhungen mit Mindestbeträgen – und obendrauf dann stets noch als Leckerli die einmalige, steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichsprämie von 3.000 Euro.
Kräftig zugelangt haben auch zwei Spartengewerkschaften, die nicht dem DGB angehören. Bei der Unabhängigen Flugbegleiterorganisation (UFO) reichte ein ganztägiger Streik, um die Lufthansa in der folgenden Schlichtung zum Einlenken zu bewegen. Neben der steuerfreien Einmalzahlung bekommt das Kabinenpersonal eine dreistufige Lohnerhöhung um insgesamt 16,5 Prozent, bei einer Laufzeit bis Ende 2026.
Den Vogel abgeschossen hat diesmal allerdings die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die bei der Deutschen Bahn mit massiven Streiks ihr Hauptziel durchsetzen konnte: Die stufenweise Absenkung der Wochenarbeitszeit für Schichtarbeiter von 38 auf 35 Stunden mit vollem Lohnausgleich. Dazu auch hier die Einmalzahlung sowie eine einheitliche, zweistufige Lohnerhöhung um 420 Euro pro Monat. Und das gilt eben nicht nur für den bundeseigenen Konzern, sondern auch für fast alle privaten Konkurrenzunternehmen. Und es ist bereits abzusehen, dass die Frage der Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich, die jetzt von der GDL wieder nachdrücklich auf die Tagesordnung gesetzt wurde, auch in kommenden Tarifrunden anderer Gewerkschaften eine wichtige Rolle spielen wird.
Die in diesen Branchen erfolgreichen Tarifkämpfe hatten allerdings auch recht günstige Rahmenbedingungen. Denn die Gewerkschaften sind dort traditionell gut organisiert, und Arbeitskämpfe im Verkehrsbereich üben erheblichen Druck auf die Arbeitgeber aus. Ferner spielen dort die generell im Sinne abhängig Beschäftigter (noch) relativ entspannte Lage auf dem Arbeitsmarkt und der in einigen Branchen große Arbeitskräftemangel eine Rolle. Wenn keiner mehr Bock hat, im Schichtdienst Lokomotiven oder Busse zu fahren oder den Fluggästen die Koffer abzufertigen, weil es derzeit auch andere Jobs mit besseren Arbeitsbedingungen und besserer Entlohnung gibt, dann wird das ein ziemlich großes Problem.
Immer mehr tariffreie Zonen
Dieses Druckpotenzial gibt es in anderen Branchen offenbar nicht. So gestaltet sich die Tarifrunde im Einzelhandel seit über einem Jahr als Hängepartie. Die Forderungen der Gewerkschaft und das Angebot der Arbeitgeber liegen meilenweit auseinander. Doch die sitzen die gelegentlichen, nur von wenigen Beschäftigen getragenen Warnstreiks bislang schulterzuckend aus. Und generell sinkt der Geltungsbereich vieler Tarifverträge erheblich. Waren 1995 noch mehr als 80 Prozent der Beschäftigten bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt, so sind es heute nur noch knapp die Hälfte. Nur noch jeder vierte Betrieb ist an einen Tarifvertrag gebunden. Das betrifft nicht nur Kleinbetriebe und Branchen mit sehr schwachem gewerkschaftlichen Organisationsgrad, sondern auch „Leuchttürme“ der Industrie und der Handelslogistik, wie z.B. Tesla und Amazon.
Auch der von der „rot-grünen“ Bundesregierung unter Gerhard Schröder massiv beförderte Niedriglohnsektor hat sich verfestigt. Rund ein Viertel aller Beschäftigten verdient weniger als 14 Euro pro Stunde, wobei die große Grauzone von Subunternehmen und Scheinselbstständigen noch gar nicht erfasst ist. Gelöst werden könnte das Problem wenigstens teilweise durch die Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen auf alle oder wenigstens die meisten Branchen, was in den meisten westeuropäischen Ländern auch längst Standard ist. Doch politische Mehrheiten für so ein Vorhaben sind in Deutschland nicht in Sicht, und die Gewerkschaften sind offensichtlich zu schwach bzw. nicht willens, in dieser Frage entsprechend Druck aufzubauen. Auf die Pauke hauen dagegen jetzt Unternehmerverbände und ihre Parteien. Sie nehmen die – im europäischen Vergleich eher harmlose – Streikwelle im Verkehrssektor zum Anlass, massive Einschränkungen des Streikrechts zu fordern. Aber bei aller Verkommenheit: Das kann sich die SPD nun wirklich nicht leisten.
In Tarifauseinandersetzungen sind die Gewerkschaften also nach wie vor ein Faktor, vor allem für ihre traditionellen Kernklientele. Politisch sind sie dagegen weitgehend verzwergt und faktisch nicht mehr kampagnenfähig. Zur SPD-Treue gehört für große Teile des Apparats auch die prinzipielle Unterstützung der Aufrüstung, der Waffenlieferungen an die Ukraine und der Sanktionen gegen Russland. Einen entsprechenden Leitantrag beschloss auch der ver.di-Bundeskongress im September 2023 mit großer Mehrheit. Gegen diese Positionierungen gibt es allerdings viel innergewerkschaftlichen Widerstand – bis hin zu ganzen Landesverbänden.
Aber wie bereits gesagt: Ein bisschen was zu feiern gibt es trotzdem. Man kann also ruhig auf eine Maifeier gehen und dort ein – hoffentlich nicht lauwarmes – Bier auf die Lokführer, Busfahrer, Flugsicherheitsmitarbeiter und andere trinken, die sich ein kräftiges Lohnplus erkämpft haben. Und wenn dann anschließend Esken, Klingbeil, Kühnert, Barley & Co. ans Rednerpult treten, kann man um so kräftiger buhen und pfeifen.
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