Bei einem Brand könnten die Tunnel von Stuttgart 21 für Tausende Menschen zur Todesfalle werden. Darauf weisen Kritiker seit vielen Jahren hin – vergeblich. Die Verantwortlichen mauern, vertuschen, täuschen und verschleudern Unsummen mit juristischen Spiegelfechtereien. Das Projekt sei aus Kostengründen gemeingefährlich, findet Dieter Reicherter vom Aktionsbündnis gegen S21. Die Prüfer prüften nicht richtig, keiner prüfe die Prüfer und die Justiz verschanze sich hinter Paragraphen, beklagt der ehemalige Richter im Interview mit den NachDenkSeiten. Dabei schreckten im Katastrophenfall selbst die Retter vor einem Einsatz zurück. Mit ihm sprach Ralf Wurzbacher.
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Zur Person
Dieter Reicherter, Jahrgang 1947, war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2010 an verschiedenen Stationen in Baden-Württemberg als Staatsanwalt und Richter tätig, zuletzt war er Vorsitzender Richter am Landgericht Stuttgart. Unter dem Eindruck eines brutalen Polizeieinsatzes bei einer Demonstration gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 im Herbst 2010 trat er dem Widerstand gegen S21 bei und ist heute Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21.
Herr Reicherter, vor knapp zwei Wochen hat die Deutsche Bahn (DB), in Gestalt der DB Projekt Stuttgart–Ulm GmbH (PSU), einen juristischen Sieg davongetragen. Das Verwaltungsgericht Stuttgart gab deren Klage gegen die von der Gegenseite verlangte Zwangsvollstreckung zur Freigabe einer Entfluchtungssimulation bezüglich eines Unglücksfalls im Fildertunnel – dem mit neun Kilometern längsten Zulauf zum künftigen Stuttgarter Tiefbahnhof – statt. Die Ingenieure22, eine dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 nahestehende Gruppe projektkritischer Fachleute unterschiedlichster Disziplinen, hatten fast acht Jahre lang vor Gericht um deren Herausgabe gekämpft. Man könnte sagen, das war für die Katz, weil das begehrte Material gar nicht existiert beziehungsweise nicht mehr. Deshalb auch der Richterspruch zugunsten der Bahn. Was ist da schiefgelaufen?
Die PSU selbst hatte die Simulationen nie und die von ihr beauftragte Schweizer Firma Gruner AG hatte sie mit ihrer Zustimmung schon gelöscht, bevor die Ingenieure22 überhaupt einen Antrag auf Einsichtnahme gestellt hatten. Wer nichts hat, kann nichts zeigen und muss nach dem Umweltinformationsgesetz die Einsichtnahme mit dieser Begründung ablehnen. Dagegen hat die PSU verstoßen und sinnlose Prozesse verursacht.
Was hat es mit dieser Simulation auf sich?
Nach den einschlägigen Vorschriften hätte die Bahn schon im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens nachweisen müssen, dass sie für die Evakuierung in den Tunnelröhren ein taugliches Rettungskonzept hat. Im Arbeitskreis Brandschutz, dem außer der Bahn das Regierungspräsidium Stuttgart und die Stuttgarter Feuerwehr angehören, geht es um solche Fragen. Dort berichtete die PSU am 22. Januar 2014, Simulationen der Firma Gruner hätten die Berechnungen der Bahn bestätigt. Demnach könnten 1.757 Menschen aus einem vollbesetzten Zug im Notfall in circa elf Minuten aus einer Tunnelröhre evakuiert werden. Tatsächlich gab es diese Simulationen noch gar nicht. Die Computerdurchläufe zogen sich bis März 2014 hin und der Bericht mit der Auswertung wurde erst Ende Juni 2014 fertiggestellt.
Allerdings wollte PSU nicht mit den Ergebnissen herausrücken, was schließlich jahrelang die Gerichte beschäftigte (siehe dazu NDS-Beitrag „Tunnel-Schummel“ vom 4. Februar 2022). Wie hat die Bahn ihr Vorgehen begründet?
Wie in allen derartigen Verfahren kam das Argument, eine Einsichtnahme gefährde die Sicherheit von Bahnanlagen. Dies wurde vor Gericht vertieft mit ausführlichen Darstellungen zu Terroranschlägen. Vereinfacht gesagt wurde unterstellt, die Ingenieure22 könnten Erkenntnisse an Terroristen weitergeben. Und immer ging es vornehmlich um Brände. Das alles lag total daneben, weil die PSU die ganzen Jahre gar keine Simulationen hatte. Mit ihren falschen Behauptungen hat sie jahrelang Richterinnen und Richter getäuscht. Das ging so weit, dass sie sich sogar beim Verwaltungsgerichtshof im Dezember 2019 verpflichtete, endlich Einsicht zu gewähren, und danach vier Jahre fälschlich behauptete, den Vergleich erfüllt zu haben. Die jetzige Klärung war für sie ein Pyrrhussieg, denn die Glaubwürdigkeit der Bahn ist dahin. Zudem hat sie selbst bewiesen, keinerlei Nachweise für eine erfolgreiche Evakuierung zu haben. Offenbar diente der falsche Prozessvortrag der Vertuschung.
Das alles nährt natürlich den Verdacht, die Simulation könnte die behaupteten Ergebnisse gar nicht geliefert haben, weshalb man sie der Öffentlichkeit auch nicht zumuten wollte. Woran machen Sie das fest?
Da wir die Simulationen nie zu Gesicht bekommen haben, kann man lediglich aufgrund des Berichts vom Juni 2014, in dem einige Parameter angegeben sind, Rückschlüsse ziehen. Demnach hat man unter anderem die Gehgeschwindigkeit der Flüchtenden zu schnell angesetzt und Mobilitätseingeschränkte, die auf den schmalen Rettungswegen nicht überholt werden können, nicht berücksichtigt. Realistische Parameter führen zum Ergebnis, dass sich bei schneller Rauchausbreitung die meisten Betroffenen nicht retten können und den Tod finden.
Wie sich später herausstellte, hat die ominöse Simulation einen ziemlich gewaltigen Haken mehr. Die Bahn musste nämlich selbst irgendwann einräumen, dass mit dieser lediglich ein Kaltereignis durchgespielt wurde. Wo liegen die Unterschiede?
Ein Kaltereignis bedeutet, dass ein Zug aufgrund irgendeiner technischen Ursache liegenbleibt. Wenn die Ursache nicht beseitigt werden kann, müssen die Menschen aus dem Zug evakuiert werden. Das ist aber nicht mit einem Brandereignis im Tunnel zu vergleichen. Da kommt es zur Rettung der Menschen tatsächlich auf jede Sekunde an. Denn das Hauptproblem sind die sich sehr schnell ausbreitenden tödlichen Rauchgase. Sobald die Tunnelröhre mit ihnen gefüllt ist, gibt es keine Überlebenschance mehr. Zusätzlich verursachen Flammen und Rauch Panik. Das macht im Gegensatz zum Kaltereignis eine geordnete Evakuierung unmöglich.
Beim Unglück der Gletscherbahn im österreichischen Kaprun im Jahr 2000 waren 155 Menschen ums Leben gekommen. Sie fürchten, derlei könnte sich in den S21-Tunneln wiederholen?
Es könnte noch schlimmer kommen. Aus Kostengründen sind die Tunnelröhren deutlich enger als bei anderen Tunneln im In- und Ausland. Deshalb steht bei S21 nur ein Drittel des Rauminhalts anderer Tunnel bei der Verrauchung zur Verfügung. Je enger der Querschnitt, desto schneller ist die Röhre verraucht. Dennoch hat man die Querschläge zur Flucht in die zweite Röhre nur im höchstzulässigen Abstand von 500 Metern geplant. Gleichzeitig hat man auch nur die minimal einzuhaltende Fluchtwegbreite von 120 Zentimetern vorgesehen und sogar Verengungen durch Einbauten bis auf 90 Zentimeter zugelassen. Insbesondere im steilen Fildertunnel werden sich die Rauchgase wegen des Kamineffekts besonders schnell nach oben ausbreiten. Zudem handelt es sich um ein weitverzweigtes System mit fast 60 Kilometern an Tunnelröhren.
Das Aktionsbündnis, die Ingenieure22 sowie das Faktencheckportal WikiReal.org sind vor zehn Tagen mit neuen Erkenntnissen an die Öffentlichkeit gegangen und haben im Rahmen einer Pressekonferenz klipp und klar gesagt, in der jetzigen Form sei eine Inbetriebnahme der Tunnel „ausgeschlossen“. Was macht Sie so sicher?
Die Ergebnisse der neuen Untersuchungen und Erkenntnisse sind so verheerend, dass nach unserer Überzeugung das zuständige Eisenbahn-Bundesamt keinen Bahnbetrieb zulassen darf. Die Einhaltung von Minimalanforderungen – „best case“ – genügt den Anforderungen nicht. Es muss immer der „worst case“ betrachtet werden. Die bisherigen Berechnungen zur Evakuierung setzen 1.757 Menschen in einem voll besetzten Zug an. Die bestellten neuen Züge werden aber mehr als doppelt so vielen Menschen Platz bieten. In keinem Fall kann die Evakuierung vor der schon nach sieben bis acht Minuten erfolgten vollständigen Verrauchung abgeschlossen werden. In vergleichbaren Tunneln sind die Querschnitte größer, fahren weit weniger Züge, in denen auch viel weniger Menschen befördert werden, sind die Abstände zwischen den Querschlägen deutlich geringer und die Rettungswege viel breiter.
Doof gefragt: Warum sollte die Bahn beim Bau des größten und ehrgeizigsten deutschen Bahnprojekts auf alle Sicherheitsstandards gepfiffen haben?
Stuttgart 21 ist ein politisch gewolltes Projekt, keine Idee der Bahn. Die Einhaltung der strengen Sicherheitsstandards hätte immense Kosten bedeutet. Nach wie vor vertuscht man das mit dem Hinweis, alle Regelungen würden eingehalten. Tatsächlich handelt es sich aber nur um Minimalanforderungen, die auch unter günstigsten Verhältnissen nicht unterschritten werden dürfen. Bei Stuttgart 21 haben wir jedoch sehr ungünstige Bedingungen, die weit höhere Vorkehrungen erfordern. Maßgeblich ist die Tunnelrichtlinie des Eisenbahn-Bundesamtes, in der es heißt: „Für Tunnel ist ein Rettungskonzept aufzustellen, das die Selbst- und Fremdrettung gewährleistet.“ Es muss also garantiert sein, dass die Menschen gerettet werden können.
Aber nun muss die PSU ja ein Brandschutzkonzept haben. Was sieht dieses für denkbare Notfälle vor?
Nach dem Brandschutzkonzept der PSU soll ein brennender Zug aus eigener Kraft aus dem Tunnel hinausfahren oder – in die andere Richtung – bis zum Tiefbahnhof weiterfahren. Erst außerhalb der Tunnel beziehungsweise im Tiefbahnhof soll evakuiert werden. Schon das würde ein völlig anderes Betriebskonzept als geplant erfordern und die Kapazität erheblich einschränken. Denn das funktioniert nur, wenn die Strecke vor jedem Zug freigehalten wird. Nur als absolute Ausnahme ist vorgesehen, im Brandfall einen Zug im Tunnel zu evakuieren. Dabei gibt es viele technische Gründe, dass ein in Brand geratener Zug nicht mehr weiterfahren kann. Jedenfalls müssen dann alle Menschen aus dem brennenden Zug sowie auch aus den nachfolgenden Zügen evakuiert werden. Dazu müssen sie zu den Querschlägen und durch diese in die Gegenröhre fliehen, sobald dort keine Züge mehr fahren.
Das klingt so, als wäre Rettung bestenfalls bei einem ganzen Blumenstrauß an Unwahrscheinlichkeiten möglich. Und für dieses Konzept hat das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) den Daumen gehoben?
Das EBA hat bislang nur die Baugenehmigung erteilt. Das bedeutet, bei der Ausgestaltung des Bauwerks mussten Belange des Brandschutzes berücksichtigt werden. Das EBA hat die von der Bahn dafür eingereichten Nachweise – keine Simulationen – für ausreichend gehalten. Die Feuerwehr musste lediglich angehört werden, ihre Einwände konnten unberücksichtigt bleiben. Oder sie wurde sogar getäuscht.
Inwiefern getäuscht?
Zum Vorwurf der Täuschung insbesondere der Feuerwehr liegen uns zahlreiche Hinweise auch von Insidern vor. Beispielhaft möchte ich die bereits geschilderte Irreführung mit noch nicht vorhandenen Simulationen in der Sitzung des Arbeitskreises Brandschutz erwähnen. Dennoch verweigern uns der Stuttgarter Branddirektor und die für Katastrophenschutz zuständige Regierungspräsidentin Gespräche. Hinter vorgehaltener Hand wird uns erklärt, Feuerwehr und Rettungskräfte würden zu ihrem eigenen Schutz im Brandfall erst gar nicht in den Tunnel einfahren.
Aha! Nun hat ja im November auch der Verwaltungsgerichtshof von Baden-Württemberg zwei Klagen gegen die Planfeststellungsbeschlüsse verworfen. Eine stammte von Ihnen selbst. Es scheint so, als stünden Sie mit Ihren Sorgen ziemlich allein auf weiter Flur.
Wenn sich der Verwaltungsgerichtshof inhaltlich mit den von uns behaupteten Mängeln des Brandschutzes hätte beschäftigen wollen, hätte das eine Menge Arbeit bedeutet. Einfacher war es, die Klage an angeblich fehlender Klagebefugnis scheitern zu lassen. Herhalten musste das Argument, es sei Aufgabe des EBA und nicht des Einzelnen, den Schutz von Leib und Leben der Reisenden zu prüfen. Mit anderen Worten, das Gericht vertraut darauf, dass das EBA seine Pflichten ernst genommen hat. Wir können aber belegen, dass das EBA die Baugenehmigung so gar nicht hätte erteilen dürfen, sondern zum Beispiel auf breitere Rettungswege und Querschläge in engerem Abstand hätte bestehen müssen.
Aber gibt es keinen, der die Prüfung der EBA überprüft?
Ob das EBA richtig geprüft hat, prüft niemand. Zwar könnten das Land oder die Stadt Stuttgart im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgaben klagen. Das tun sie aber wegen des politischen Interesses an dem Projekt nicht. Anders war es zum Beispiel beim Land Thüringen, das wegen eines unzureichenden Rettungsplatzes an einem Bahntunnel geklagt hat.
Muss es nicht wenigstens vor der Inbetriebnahme einen finalen Nachweis für die Sicherheit im Brandfall geben? Dann müssten Sie doch beruhigt sein, weil es nach Ihrer Darstellung dann ja keine Grünes Licht geben kann, von wegen „Inbetriebnahme ausgeschlossen“.
Wir bezweifeln, dass das EBA seine Verantwortung ernst nimmt. Es untersteht Weisungen des Bundesverkehrsministers und arbeitet intransparent. Auch mehr als ein Jahr nach Inbetriebnahme der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm ist es immer noch nicht gelungen, Einsicht in die Unterlagen zu bekommen. Die Prüfung hatte drei Jahre gedauert. Die Genehmigung wurde erst wenige Stunden vor Inbetriebnahme erteilt. Wer will da noch rechtzeitig eine Überprüfung durchsetzen?
Angenommen, Ihre Appelle werden doch noch erhört: Dann würde eine entsprechende Nachrüstung etliche Milliarden Euro mehr verschlingen, womit das ganze Irrwitzprojekt wohl endgültig nicht mehr vermittelbar wäre. Ist es diese Perspektive, die am Ende die Genehmigung sicherstellt?
Die Frage einer Nachrüstung stellt sich nicht. Beim Verwaltungsgerichtshof hat die Bahn plausibel vorgetragen, dass eine solche technisch unmöglich ist. Also wird das Projekt trotz aller Bedenken irgendwie durchgewunken – oder es ist gescheitert.
Noch einmal zurück zu dieser Simulation: Glauben Sie, die ist einfach verschwunden und wurde auf Nimmerwiedersehen gelöscht?
Die Firma Gruner AG hat den Auswertungsbericht sowie die für die Erstellung der Simulationen angewandten Parameter archiviert. Mit diesen Daten könnten jederzeit wieder Simulationen erstellt werden. Nur hat die Bahn daran kein Interesse. Es würde sich erweisen, dass die Parameter viel zu optimistisch angesetzt waren und die Ergebnisse untauglich sind.
Was muss passieren, damit der Brandschutz bei S21 nicht unter die Räder kommt?
Dr. Christoph Engelhardt, Gründer von WikiReal.org, hat in Zusammenarbeit mit uns den Vorstand der PSU in einem Offenen Brief vom 24. April 2024 aufgefordert, binnen einer Woche zu den neuen Forschungsergebnissen Stellung zu nehmen und die eigenen Untersuchungen offenzulegen. Dazu Engelhardt: „Als Faktencheck-Portal ist die Wahrheit unser Kapital. Wir stellen uns jederzeit der Diskussion mit den besten internationalen Experten. Wir fordern die Bahn zu einem professionellen Faktencheck heraus!” Wir werden deshalb beim EBA einen Baustopp fordern, falls durch die PSU keine Aufklärung erfolgt.
Und was, wenn S21 am Ende doch eröffnet wird, ohne echten Brandschutz?
Dann möchte ich nicht in der Haut der Verantwortlichen stecken. An denen wird, selbst wenn sie nicht mehr im Amt oder tot sein werden, im Fall eines Falles der Vorwurf hängenbleiben, ein Prestigeobjekt und die Einsparung von Kosten sei ihnen wichtiger als Leib und Leben unzähliger Menschen gewesen. Schon eine kleine Ursache – brennender Papierkorb, Kurzschluss im Zugbistro – kann eine Katastrophe auslösen, die der renommierte Brandexperte Hans-Joachim Keim, Sachverständiger beim Unglück von Kaprun, mit einem Krematorium verglichen hat. Wenn man bedenkt, welche Brandschutzauflagen zum Beispiel an Diskothekenbetreiber für ein paar hundert Personen gemacht werden, muss man verzweifeln, wie nachlässig mit dem Schicksal tausender Reisender umgegangen wird.
Titelbild: Screenshot YouTube