Retrograde Amnesie

Retrograde Amnesie

Retrograde Amnesie

Ein Artikel von Georg Rammer

Unter dem Motto „Wir auch!“ unterstützen wir die Bemühung des Bundespräsidenten um einen neuen Patriotismus. Im Kampf gegen die Verzagtheit in der Gesellschaft wollen wir die Aufmerksamkeit auf erfolgreiche Projekte lenken – Projekte, die sonst im Verborgenen stattfinden. Es geht also darum, den Staat dabei zu unterstützen, die Demokratie zu festigen, Vertrauen zu stärken und seiner verfassungsrelevanten Delegitimierung entgegenzuwirken. Ein satirisches Wortprotokoll von Georg Rammer.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Unser heutiges Gespräch findet in der Psychiatrie statt. Im Vorgriff auf die Ausstrahlung des TV-Formats „Zusammenhalt in der Zeitenwende ZiZ“ drucken wir hier das Wortprotokoll ab.

Moderator: Herzlich willkommen allerseits. Unsere Gesprächspartner sind heute der Patient einer psychiatrischen Klinik, der nach zehn Jahren Therapie entlassen werden soll, und sein behandelnder Arzt. Vielen Dank für Ihre Bereitschaft zum Gespräch! Wir gehen ganz behutsam vor; denn nach der langen erfolgreichen Therapie in der geschlossenen forensischen Abteilung wollen wir ja keinen Rückfall riskieren. Nun, fangen wir bei Ihnen als Hauptperson an: Wie kam es denn, dass Sie in die Psychiatrie eingeliefert werden mussten?

Patient: Ja, warum? Weil ich die ganzen Jahre davor Stimmen gehört, oft Bilder gesehen hab, die mich ganz fertig gemacht haben. Es wurde immer schlimmer. Da fing ich dann an mit Mahnwachen und Leserbriefen. Hat aber nichts geholfen gegen die belastenden Eindrücke. Heute weiß ich Gott und Doktor Heil sei Dank, dass das alles nur meine Nerven gemacht haben, alles nur eingebildet, Halluzinationen. Also Wahn.

Moderator: Nun, ich möchte Sie ja keinesfalls triggern, die alten Symptome wieder provozieren: Können Sie kurz schildern, was das für Halluzinationen, Wahnbilder waren?

Patient: Schon ok, da bin ich inzwischen durch, hab das voll abgespalten. Also stellen Sie sich vor, ich hatte etwa die Einbildung, ein amerikanischer General erzählt vor Publikum, dass er auf dem Gang des Ministeriums erfahren hat, dass seine Regierung, also die Amis, planen, in den nächsten fünf Jahren sieben Länder zu überfallen, Krieg zu machen. Können Sie sich das vorstellen? Mich hat es total fertig gemacht.

Moderator: Aber das war doch …

Arzt: Stopp, bitte kein Aber, das könnte einen neuen Schub auslösen!

Moderator: O ja, natürlich. Aber schildern Sie bitte, wieso Sie dann gerichtlich eingewiesen werden mussten.

Patient: Schauen Sie, ich hatte richtige Horrorvorstellungen. Die Amis haben in fernen Ländern, also Afghanistan, Irak, Syrien …

Arzt: Ok, das reicht, nicht zu viele Details!

Patient: … also jedenfalls ganze Länder plattgemacht, und die Menschen sowieso. Ich hatte Schreckensbilder von Hunderttausenden Toten.

Moderator: Muss entsetzlich gewesen sein.

Patient: Ja, und dann hab ich wie im Film Folterszenen gesehen, ich will sie gar nicht ausmalen, und Soldaten, wie sie lachend aus dem Kampfhubschrauber Zivilisten abknallen. Was ist eigentlich aus dem geworden, der die Bilder veröff…

Arzt: Stopp, sonst müssen wir abbrechen!

Moderator: Aber heute wissen Sie ja, dass all das dem krankhaften Prozess geschuldet war.

Patient: Ja, ich war ganz durcheinander: Das sollen unsere besten Freunde und Beschützer sein? Stellen Sie sich vor, der Joe Biden nannte in meinem Kopf den ukrainischen Generalstaatsanwalt einen Hurensohn und ließ ihn ruckzuck absetzen. Verrückt, gell?

Moderator: Aber zum Glück hat die Therapie gut angeschlagen…

Arzt: Genau, eine radikale Remission.

Patient: Jedenfalls bin ich froh wegen der Entlassung. Irgendwie haben Sie es geschafft, meine Gedanken umzupolen, die krankhaften Phantasien einzuhegen, die Realität von den Füßen auf den Kopf …

Moderator: Sie meinen natürlich umgekehrt!

Patient: Klar, egal. Wissen Sie noch, Herr Doktor, ich hatte richtige Angstzustände, weil unser Verteidigungsbündnis Russland total umzingelt und Manöver an der Grenze durchgeführt hat. Heute weiß ich ja, dass der Russe der NATO immer mehr auf die Pelle gerückt ist.

Moderator: Hm, aber…

Arzt: …kein Aber!

Patient: Irgendwie hatte sich meine Moral verkehrt, die Werte schienen falsch zu sein, ich spürte überall Lügen und Heuchelei. Das hab ich nicht ausgehalten. Wissen Sie was? Ich bildete mir ein, der Präsident Bush, ich traue mich das kaum zu erzählen, also er habe gesagt: Unser oberstes Ziel ist, zu verhindern, dass irgendwo auf der Welt irgendeine Macht zum ebenbürtigen Konkurrenten der USA wird! Unfassbar, gell? Klar, inzwischen hab ich ja gelernt, dass eigentlich Putin der Imperialist ist. So war ich durch die schrecklichen Wahnbilder immer mehr verstört. So kam die Diagnose Selbst- und Fremdgefährdung, und da musste halt der Staat eingreifen, nicht wahr?

Moderator: Herr Doktor, gewiss mussten Sie eine Menge Arbeit in den therapeutischen Prozess investieren bei einem so verfestigten Krankheitsbild. Können Sie uns einen Blick in Ihren Werkzeugkoffer werfen lassen?

Arzt: Nun, bekanntlich ist es kontraindiziert, den krankhaften Phantasien argumentativ zu begegnen. Neben einer medikamentösen Therapie, die die Halluzinationen und alle Gedanken dämpft, quasi auflöst, besteht das Ziel darin, den Kopf mit allen Gedanken und Gefühlen neu zu formatieren – eine neue Realität schaffen.

Moderator: Und wie gehen Sie da vor?

Arzt: Das sind bewährte, komplexe Verfahren. Beginnend mit Suggestionstherapie, wenn nämlich eingängige standardisierte Formeln ständig wiederholt werden …

Patient: Ja, bis zum Erbrechen!

Arzt: … unter Einbeziehung des Alltags: Wir lassen den Patienten Nachrichten hören oder legen ihm einen Zeitungsbericht vor, in dem der Name Putin 30 Mal in negativem Zusammenhang genannt wird. Flooding, also Reizüberflutung. Verstehen Sie? Der Patient bildet automatisierte Assoziationen und lernt, Gut und Böse zu unterscheiden.

Moderator: Klingt interessant. Aber das ergibt doch noch keine neue Realität?

Arzt: Ja, neben Hypnotherapie und der sogenannten Paradoxen Intervention nutzen wir besonders gern das Neurolinguistische Programmieren. Da wird das Gehirn mit Hilfe sprachlicher Techniken umprogrammiert. Damit erzeugen wir eine selektive Amnesie: Alles, was der Patient früher aus Überzeugung vertreten hat, wird gelöscht und durch die Verstärkung positiver, erwünschter Gegenbilder ersetzt: Freiheit, Demokratie, westliche Wertegemeinschaft sind solche Suggestionen, die frühere kritische Gedanken substituieren.

Moderator: Phänomenal! Das Ergebnis ist dann ein neues Denken mit neuen staatstragenden Werten und neuen Gefühlen! Quasi ein neuer Mensch!

Patient: Ich frag mich nur, warum mich die anderen auf der Station Dr. Seltsam genannt haben. Da erzähl ich lieber nicht, dass ich inzwischen als Nebenwirkung eine libidinöse Beziehung zu Taurusraketen und Frau Strack-Zimmermann und Herrn Hofreiter entwickelt hab! Ob das gesund ist?

Abblende

Leider hat man vergessen, den Ton abzuschalten. So hört man den Moderator zum Kameramann flüstern:

Moderator: Du, Volker. Ich bin ganz fertig. Was der Patient da erzählt hat, die ganzen Wahnvorstellungen und Halluzinationen: Ich kann mich an die auch genau erinnern! General Wesley Clark und der Krieg gegen sieben Länder, NATO-Osterweiterung, Folter in Guantanamo, Assange und das Video „Collateral Murder“, Bush und das Zitat mit der Weltherrschaft, Biden mit seinem Hurensohnzitat – das war doch so! Übrigens auch an 30 Mal Putin in einem Artikel der Frankfurter Allgemeine! Du, das sind alles Fakten und keine Halluzinationen!

Kameramann: Psst, sei ja still! Einige der Doku-Aufnahmen hab ich damals selbst gedreht, für „Die Anstalt“ und die Tagesthemen! Ich will aber nicht in die Klapse. Du etwa?

Titelbild: Prostock-studio / Shutterstock

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