Der Aufstieg des Individualismus im Zuge des neoliberalen Marktmantras scheint zum Niedergang der Gesellschaft zu führen. Die Fähigkeiten, die die Menschen menschlich machen, schwinden – und damit die Grundlage der Zivilisation. Man kennt nur noch Familien und Individuen: „There is no such thing like society.”[1] Der Gemeinsinn schwindet wie auch die Übernahme von Verantwortung. Von Brigitte Pick.
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Der Mensch sieht sich heute ständig genötigt, Autonomie und die Fähigkeit zur Initiative zu demonstrieren. Er muss, um erfolgreich zu sein, handlungs- und entscheidungsstark sein. So predigt es die neoliberale Ideologie. Muße gilt nicht. So lautete 1998 das Buch des französischen Soziologen Alain Ehrenberg, das 2004 auch auf Deutsch erschien, „Das erschöpfte Selbst.“
Die Idee des sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaates bröckelt und bildet gleichzeitig den Humus für die verunsicherte Mittelschicht, die die Furcht vor dem sozialen Abstieg umtreibt. Nur wer etwas hat, kann sich sorgen, dass er es verliert. So wird den Schwachen der Gesellschaft die Solidarität aufgekündigt, sie gelten fürderhin als Schmarotzer. Man beklagt die ausufernde Bürokratie, die Globalisierung, die bereits Marx und Engels im Kommunistischen Manifest 1848 beschrieben haben: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.“[2]
Man sieht glasklar: Die Produktion verlagert sich dorthin, wo der Profit am höchsten ist und die Energiekosten günstig. Wir leben in einer Konkurrenzgesellschaft, in der jeder der Konkurrent des anderen ist. Dazu kommt der Anerkennungswahn.
Der schleichende Tod der Empathie
Der Privatisierungswahn führt auf der einen Seite zu erheblichen Verantwortungsdefiziten und auf der anderen Seite zu einer wachsenden Zahl von Menschen aus der Mittelschicht, die sich als Ehrenamtler zur Verfügung stellen, um sich ein gutes Gewissen zu verschaffen. Die Oberschicht stellt sich gönnerhaft im Stiftungswesen und in Bürgernetzwerken dar, versucht, Einfluss zu nehmen, und verschweigt dabei ihre Steuervorteile. Es hat sich so etwas wie ein moralischer Ablasshandel etabliert.
Sicher sind Ehrenämter ehrenhaft, sie sind jedoch nicht die Lösung der Probleme, die sich flächendeckend in der Gesellschaft auftun und dem System geschuldet sind. Sind sie in einen Verbund eingegliedert, entstehen oft bürokratische Hürden, die ich am eigenen Leib erfahren habe. Behörden reagieren weder flexibel noch schnell. Sie lassen qua Definition keine Ausnahmen zu. Meine Hilfe findet inzwischen auf der privaten Ebene, außerhalb des Zugriffs von Bürokraten statt. Ich kann gezielt und unbürokratisch helfen – ob nachhaltig, bleibt dahingestellt. Man hilft aus einer Not – z.B. finanziell –, und die nächste Situation steht für die Betroffenen schon vor der Tür.
Sperrmüll kann jeder Bürger bei der Stadtreinigung umsonst entsorgen oder gegen geringes Entgelt abholen lassen. Trotzdem wimmelt die Stadt Berlin von Dreckecken. Kein Schutzmann mehr an der Ecke, kein Kontaktbereichsbeamter, der seinen Kiez kennt, einen Bezug zu den Menschen aufbauen, Freund und Helfer sein kann. In den Bussen und auf den Bahnhöfen keine Schaffner mehr weit und breit, Automaten statt Fahrkartenverkauf, Überwachungskameras statt vernünftig bezahlten Personals.
In Berlin will man nun wieder Parkwächter für größere Grünanlagen einstellen, denn die Vermüllung öffentlicher Flächen wächst unerträglich. Die sollen heute Parkmanager heißen oder noch besser Ranger, um die künftigen Billiglöhner semantisch aufzuwerten. In meiner Kindheit gehörten der Schutzmann und der Parkwächter zum Alltagsbild.
Es gibt eine Zersplitterung von Aufgaben und Zuständigkeiten, die sowohl Umsicht als auch Verantwortung verhindern und das Wegschauen befördern. Der Bürger tritt eher auf das Gaspedal als zu bremsen, und das in jeder Hinsicht. Rücksichtnahme, Solidarität, Einstehen für Schwächere? Fehlanzeige.
Neulich erschrak mich ein hupendes Auto. Zwei etwa zehnjährige Kinder hampelten an einer Ampel herum. Die Fußgängerampel schaltete auf Rot. Ein Kind wollte noch rennen. Ein links abbiegendes Auto hupte angesichts der Gefahr und gab kräftig Gas, statt zu bremsen. Der kleine Junge reagierte paradox und rannte erst recht los. Nur mit Not und einem kräftigen Sprung nach vorn konnte er verhindern, auf der Kühlerhaube des Autos zu landen. Der Autofahrer fuhr rasant weiter.
Der Mensch wird des Menschen Krebsgeschwür. Der Mensch wird immer älter, und der „Demographie-Faktor“ dräut als Apokalypse. So liegt der Verdacht nahe, dass der Prozess des Sterbens nach vorne verlagert wird. In der Klemme zwischen Überlebenshoffnung und Angst wird der Mensch regierbar und gewinnträchtig. Musste man einst vor der Armut in den Tod flüchten, so heißt es nun weiterleben, denn man kann sich das Sterben nicht leisten. Die Armenbegräbnisse von 2.500 Euro, die ein Empfänger von staatlichen Hilfen bekommt, sind im Zeitraum von 2006 bis 2010 um 64 Prozent gestiegen.
Immobilienmarkt außer Kontrolle
Alte Leute werden oft unsichtbar, und ihre Interessen wie anständige auskömmliche Renten zählen nicht. Auf dem Wohnungs- und Gesundheitsmarkt wird das besonders sichtbar. Ältere Leute sollen ihre vermeintlich zu großen Wohnungen aufgeben, die sie als jahrzehntelange Mieter noch gut bezahlen können. Der Wohnungstausch gelingt selten, denn die angebotenen kleinen Wohnungen junger Leute sind oft teurer als die alte größere. Gelingt das nicht per Freiwilligkeit, ist der Markt durchaus erfinderisch und brutal.
Laut einer Studie der Investitionsbank Berlin wurden 2022 in Berlin mehr möblierte Wohnungen auf Zeit angeboten als unbefristete normale Mietwohnungen. So verdient man mehr Geld und umgeht jeden Mieterschutz.
Jede Bundes- und Landesregierung verspricht, für die Lösung der Wohnungsfrage zu sorgen, aber es ändert sich nichts. In Berlin-Mitte wird 2024 die teuerste Mietwohnung für 22.500 Euro im Monat angeboten.
In Berlin kann man nicht mehr kostengünstig bauen, denn die Bodenpreise sind explodiert und haben sich in den letzten zehn Jahren vertausendfacht. Bei Grundstückspreisen von 4.000 Euro pro Quadratmeter ist bezahlbarer Wohnraum im Neubau nicht mehr darstellbar. In Prenzlauer Berg und Weißensee werden inzwischen 5.000 Euro verlangt (460 Euro waren es im Jahr 2008). In Eigentum verwandelt, werden die Wohnungen für 6.500 Euro weiterverkauft – ein lohnendes Geschäftsmodell, das nicht nach Moral fragt. „Sieht man allein die Entwicklung der Bodenpreise in den Ballungszentren der Welt an, kann man doch nur zu der Überzeugung gelangen, dass Grund und Boden nicht in Privathand gehören, sondern nur als Pachtland auf Zeit vergeben werden dürften.“[3]
1927 tat sich die Avantgarde der damaligen Architekten mehrerer Nationen zu der Plattform Congrès Internationauxd’Architecture Moderne (CIAM) (dt.: Internationale Kongresse Moderner Architektur) zusammen, um gemeinsam Lösungen zur prekären Wohnungsfrage zu entwickeln. Schon damals wurde die Wohnfrage zur Systemfrage, und die Forderung nach Enteignung des Bodens stand im Raum.
Die Abschaffung der Gemeinnützigkeit des Wohnungsbaus im Jahr 1988, die Steuervorteile und Einschränkungen bei Miete und Gewinn für die Eigentümer bedeutete, hat diese Entwicklung angeschoben. Diese Wohnungen waren oft Eigentum der Kommunen oder Werkswohnungen von großen Betrieben. In Berlin wurden allein 200.000 Wohnungen versilbert, ein sehr kurzsichtiger Gedanke.
„Wien ist ein Sonderfall. Die Stadt hat selbst in der Hochphase des Neoliberalismus den gemeinnützigen Wohnbau erhalten. Heute wohnen 60 Prozent der Wiener und Wienerinnen in geförderten Wohnungen. Dort sind die Mieten begrenzt und die Verträge unbefristet. Das dämpft auch die Preise am freien Markt.“[4]
Das gilt es auch bei uns wieder zu installieren und damit die Ursachen der Wohnungsfrage zu lösen und nicht ihre Symptome zu bekämpfen. Der soziale Wohnungsbau ist vom Staat zu finanzieren und ist öffentliches Eigentum, von dem private Akteure auszuschließen sind.
„Ich glaube, wir müssen uns davon verabschieden, dass Berlin für alle bezahlbar bleibt. Wenn ich es mir nicht mehr leisten kann, egal, ob wegen wirtschaftlicher Einbußen oder einer Mieterhöhung, dann muss ich das akzeptieren. Es gibt kein Naturgesetz, das mir das Recht gibt, für immer in meiner vertrauten Umgebung zu bleiben. Und es ist noch eine ganz andere Frage, ob die zu berücksichtigen sind, die noch zusätzlich in die Stadt kommen. Die können sicher keinen Anspruch auf niedrige Mieten erheben.“ So schnörkellos und zynisch äußert sich der 51-jährige Dr. Carsten Brückner, Fachanwalt für Miet-und Wohnungseigentumsrecht und Vorsitzender des Landesverbandes Haus&Grund Berlin, im Interview mit dem Tagesspiegel.
Der 88-jährige US-Milliardär Warren Buffett, der erst bei einer Rendite von 20 Prozent zu investieren beginnt, ist nun auch am Berliner Markt aktiv. Er konzentriert sich auf das Segment studentisches Wohnen. Durch Mieten kann er die Rendite nicht erzielen, sondern das Geschäftsmodell lautet, Wohnungen zu bauen oder umzuwandeln und als Eigentum weiterzuverkaufen. Chinesen und Asiaten kaufen gerne in Berlin und wähnen ihr Geld sicher in Deutschland. Ein sogenanntes studentisches Wohnprojekt in Berlin-Schöneberg verlangt von den Mietern für 17 Quadratmeter 599 Euro. Für das Wintersemester beträgt der geplante BAföG-Satz 843 Euro (bisher 735 Euro), die Wohnpauschale soll von 250 auf 325 Euro erhöht werden.
Im Jahr wechseln Eigentumswohnungen doppelt so oft den Besitzer wie umgewandelt werden. Spekulation und Geldwäsche sind hier die treibenden Kräfte. Die italienische und russische Mafia ist auf dem Berliner Immobilienmarkt zunehmend tätig. Man schätzt, dass zehn Prozent der jährlich auf dem deutschen Immobilienmarkt umgesetzten 250 Milliarden Euro zu Geldwäschezwecken dienen.
Es gibt keine vernünftigen Regulierungen für Finanzakteure. Riesige Steuerschlupflöcher wie Share Deals ermöglichen Steuerfreiheit und heizen die Spekulation an. Es fehlt ein Immobilienregister, in dem ersichtlich wird, welche Personen hinter Unternehmen und Gesellschaften stehen. Das Grundbuch in Deutschland erfordert bei juristischen Personen nur die Namen der Gesellschaft, die dann wieder einer Gesellschaft gehören können.
Das Schicksal der Alten
Hier einige Schlaglichter auf persönliche Schicksale aus meinem Nahfeld, die ich 2019 notierte.
Eine 88-jährige Frau trainiert mit mir fast täglich in einem Sportclub, geht aufs Laufband, zum Schwimmen oder Aquatraining. Sie wirkt fit, fährt noch Auto, bremst auch für Kinder und genießt ihren Ruhestand. Sie lebt seit nunmehr 50 Jahren in einer 70-Quadratmeter-Wohnung im bürgerlichen Tempelhof. Der Mann ist lange verstorben, die Kinder aus dem Haus, sie ist allein in einem gewohnten Umfeld. Einst gehörte das Haus dem Senat von Berlin, was früher günstige Mieten und lebenslanges Wohnrecht garantierte. Es fehlte das neoliberale Diktat der Betriebswirtschaftlichkeit.
Nun wurde das Haus verkauft, und nach den herrschenden Marktgesetzen verspricht nur Gewinn, wenn man die Wohnungen in Eigentum umwandelt, nachdem man sie luxusmodernisiert hat. Die alte Dame hat zwar das Anrecht, dort weiter zu wohnen, aber die Miete steigt so extrem, dass sie sich diesen Luxus nicht mehr leisten kann. Die Mietpreisbremse ist ein stumpfes Schwert. Die vielen Ausnahmeregelungen machen es wertlos. Gezielte Modernisierungen sind weiterhin möglich. Der neue Verwalter – der Eigentümer bleibt anonym – gibt deutlich zu erkennen, dass er weder alte Leute noch Mieter mit kleinen Kindern wünsche. Kleinere Wohnungen im Haus sind bereits umgebaut und verkauft. Sie werden offensichtlich als Ferienwohnungen vermietet. Das bringt noch mehr Profit, oder die neuen Eigentümer bezahlen so ihre Kreditrate günstig ab. Die neue Gesetzeslage greift mitnichten. Auf dem Markt der Ferienwohnungen ändert sich in Berlin nichts, 90 Prozent der Wohnungen werden weiter ohne Genehmigung und ohne Folgen betrieben. Man schätzt die Anzahl auf 25.000.
Der Verwalter möchte telefonisch mit der alten Dame den Auszug und die Konditionen verhandeln. Die legt jedes Mal auf, in der Hoffnung, den Termin hinausschieben zu können. Sie möchte das dem Rechtsanwalt ihres Mietervereins überlassen, an den sie sich sofort gewendet hat. Sie hat auch ihren gesamten Hausrat reduziert, monatelang, sich von Erinnerungsstücken getrennt, ein schmerzhafter Prozess. „Ich verliere mein Leben und meinen Lebenswillen“, sagt sie. Auch eine neue Wohnung in einem Seniorenheim hat sie in Aussicht, sich gekümmert. Die Miete dort kann sie sich noch leisten, kommen jedoch Pflegeleistungen hinzu, wird es kritisch. Die Heimleitung verbirgt ihre Skepsis nicht. Die Wohnung im Altenheim ist eine Wohn-Klo-Küche, das Bad ohne Fenster, die Küche eine winzige Kochzeile. Miniwohnungen sind im Kommen, acht Quadratmeter sollen reichen, so der neue Trend. Im Tempelhofer Haus sind vier alte Mieter betroffen, die fertig mit dem Leben sind und die Aktion vielleicht nicht überleben. Wen interessiert das schon? Zwei Tage später erfährt die 88-Jährige von einer ehemaligen Kollegin, dass die im hippen Neukölln gerade genau dasselbe erlebt.
Eine andere Sportfreundin berichtet von einem Horrorerlebnis in einer Reha-Einrichtung. Die Frau ist etwa 75 Jahre alt, pflegt mit ihrer Schwester ihre nunmehr 100-jährige Mutter, die noch in ihren eigenen Wänden lebt. Ein Pflegedienst unterstützt sie. Die Frau ist fast täglich beim Sport, ist fit, beweglich, neugierig und reist gerne mit ihrem Mann, der ganz allmählich sein Gedächtnis verliert. Sie steht mit beiden Beinen im Leben und klagt nicht. Als sie starke Bauchschmerzen plagen, wird sie erst falsch behandelt, eine Darmgrippe vermutet, bis sie den Notarzt bestellt, der sehr schnell eine Not-OP veranlasst und sie ins Krankenhaus einweist: Darmverschluss. Es geht auf Leben und Tod. Nach der OP ist sie schwach auf den Beinen. Ihr wird eine Reha angeboten, die sie dankend annimmt, da sie in ihrem Zustand kaum die drei Treppen bis in ihre Wohnung bewerkstelligen kann. In der Reha angekommen, stellt sie fest, dass sie in der Geriatrie gelandet ist, in einem Dreibettzimmer mit zwei dementen Frauen, von denen die eine Kot an die Tapeten schmiert. Sie ist schockiert, beschwert sich. Die Antwort: „Sie sind doch über 70, da müssen sie sich nicht wundern.“ Sie fährt sofort wieder nach Hause und trainiert täglich zu Haus, eine halbe Treppe zu laufen, bis sie wieder fit für den Alltag ist und ihren Sport treiben kann. Eine Ausnahme? Als ich die Geschichte anderen erzähle, höre ich von ähnlichen Erlebnissen älterer Menschen.
Die Situation an den Schulen
Ein Kulturwandel in den Schulen bleibt trotz Strukturreformen aus. Kinder müssen Erfahrungen sammeln, aus denen sie lernen, und müssen selbst gestalten können. Dazu brauchen sie empathische Lehrer, die am Lernen der ihnen Anvertrauten interessiert sind und die Zeit dafür haben. Diesen Prozess kann man nicht verordnen, er muss von allen gewollt sein und von unten kommen. Wir brauchen kein Fach „Glück“, aber wir müssen unser Gegenüber zu verstehen suchen. Nur wer versteht, kann etwas ändern. In Berlin wird für das letzte Schuljahr vermeldet, dass die Zahl der Schüler ohne Schulabschluss von zehn auf 13 Prozent gestiegen ist, in Zahlen von 1.250 auf 1.750.
30 Jahre nach seiner Schulentlassung schreibt mir ein Schüler folgende Zeilen:
Ein nettes Hallo, ich lebe noch, habe geheiratet und eine kleine süße Tochter, bin endlich angekommen! War neulich in meinem alten Heim und habe Unterlagen bekommen! Krass, was da stand! Aber ich habe mich verändert, ein Glück! Dank solcher Menschen wie du, Menschen, die es gut mit mir meinten und meine Ausraster nicht abschreckten, ich danke dir für deine Geduld, Fürsorge und einfach ein Freund zu sein! Meine Worte können nicht ausdrücken, was du alles für mich gemacht hast in der Zeit, wo kaum einer bei mir war, außer danke, danke, danke! Gruß M.
M. war ein intelligenter Schüler, der zu ungezügelten Wutausbrüchen neigte. Er hatte viele demütigende Erfahrungen in seinem jungen Leben sammeln müssen. Die Mutter zeigte sich als erziehungsunfähig, gab das Kind in ein Heim. Zeitweise wurde er von einer Psychologen-Familie aufgenommen, wo ihm täglich klargemacht wurde, dass er nicht dazugehört. Nicht einmal am selben Tisch durfte er essen, was ihn demütigte. Er wurde Drehtürpatient in der geschlossenen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort war er gemeinsam mit kriminell gewordenen Jugendlichen auf der forensischen Station. Auch dort war er widerständig, durchschaute die manchmal doch seltsamen Behandlungsmethoden. Er kam in eine Isolationszelle, wurde mit starken Medikamenten ruhiggestellt.
Er gab nicht auf. Ich besuchte ihn dort oft, um ihm Ausgang zu verschaffen. Wir gingen gemeinsam essen, diskutierten. Im November 1989 standen wir gemeinsam am Brandenburger Tor, um die Maueröffnung zu erleben. Jetzt ist er verheiratet, hat Familie, hat sich durch erfolgreiche Therapien aus der Drogensucht befreit. Dort lernte er auch seine Frau kennen, Tochter eines Lehrers. Die beiden scheinen sich gegenseitig stützen zu können, haben eine gemeinsame Tochter. M. wurde der Arbeitsmarkt immer verwehrt, er gilt als psychisch krank. Er wäre so gerne Tischler geworden, niemand zeigte ihm den Weg dorthin. Nun arbeitet er für die SPD kommunalpolitisch.
Wenig später meldet sich ein vor knapp 40 Jahren entlassener Schüler S., der von seiner alleinerziehenden Mutter nie Liebe erfahren hatte. Zu Hause verschloss sie alle Zimmer. S. hatte nur Zutritt zur Küche und Toilette. Das war trostlos und demütigend. Sie schickte ihn wegen knapper Kassen oft zum Stehlen in den Supermarkt, später ins Heim. Oft schwänzte er die Schule, die Mutter kümmerte sich nicht. Ich suchte S. mit den Klassensprechern, fand ihn, wir gingen gemeinsam essen und reden. Darauf der Anruf der Mutter in der Schule, denn S. erzählte ihr davon. „Ick will sie mal wat fragen, is det jetzt ihr Sohn oder wie soll ick det vastehen?“ Ich ignorierte sowohl den Vorwurf als auch ihr schlechtes Gewissen und lud sie zu einem Glas Bier ein. Nun kam der Junge öfter, landete aber wegen Diebstahls von BVG-Fahrkarten bald im Jugendgefängnis. Er hatte im Heim das gelernt, was er noch nicht wusste. Im Knast besuchte ich ihn mit Kollegen. Das hatte er nicht vergessen, diese Form der Zuneigung nie erlebt. Nun wollte er endlich danke sagen, nach fast 40 Jahren. Heute ist er Hausmeister in einer großen Wohnanlage, wird gebraucht.
Armutsgefährdung im Alter
Im Jahr 2024 hat sich die Lage weiter zugespitzt. In Deutschland leben knapp fünf Millionen Menschen von einer Rente knapp unter 1.000 Euro, wobei der Anteil der Frauen viel höher ist. Jeder vierte Tafelkunde ist Rentner. Insgesamt gibt es knapp 26 Millionen Rentenbezieher. In meinem näheren Umfeld gibt es alte Menschen, die ihre Wohnung aus finanzieller Not nicht mehr heizen können, es aber klaglos hinnehmen. Die Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentum nehmen in meinem Wohnumfeld bedrohliche Ausmaße an. Ein Rentnerpaar wird von seinem solventen Sohn gerettet, der die Wohnung kauft, um seinen Eltern zu ermöglichen, dort ihren Lebensabend zu beschließen.
Eine andere wirkt suizidal, da sie keinen Ersatz für ihre wegen Eigenbedarf gekündigte Einliegerwohnung in einer Friedenauer Stadtvilla findet. Sie ist 75 Jahre alt und arbeitet weiter als selbstständige Fußpflegerin, da ihre Rente weniger als 800 Euro beträgt. Die alte Dame, die die Villa besaß, hatte ihr die kleine Wohnung für eine annehmbare Miete angeboten, und sie lebt seit 15 Jahren dort. Sie hat sich um die Frau gekümmert und war für ihre Fußpflege zuständig. Nun ist die alte Dame verstorben, und die Erben haben die Einliegerwohnung umgehend gekündigt. Man bescheinigt ihr, eine angenehme Mieterin gewesen zu sein, die stets pünktlich ihre Miete gezahlt habe, aber nun brauche der ehemalige Richter die kleine Wohnung für seinen 25-jährigen Neffen. Dass für den gerade ein Dachgeschoss in einem anderen Bezirk ausgebaut wurde, wie Nachbarn zu berichten wissen, verschweigt der Jurist. Alter oder die soziale Lage interessieren nicht. In den Medien wird das Thema immer wieder aufgegriffen, gleichwohl ändert sich nichts. Der allgemeine Mietschutz bei Eigenbedarf in Berlin gilt für sogenannte Villen wie diese nicht.
Im RBB läuft am 9. April 2024 um 20.15 Uhr ein Beitrag des WDR aus Köln: Eigenbedarf: Familie Weiser muss raus. Die sechsköpfige Familie Weiser muss die Wohnung verlassen. Sie lebt dort seit vielen Jahren in sozial gebundenem Wohnraum. Der gilt für 30 Jahre. Die Zeit ist abgelaufen, und das Haus steht zum Verkauf. Der private Käufer, der noch andere Häuser in Köln besitzt, wo er ähnlich verfahren ist, besteht auf Eigenbedarf. Die Familie Weiser bekommt vor Gericht keine Chance, der Vermieter darf zwei Wohnungen für sich umbauen. Eine andere Mietpartei darf bleiben, sie hat eine andere Richterin, die der Argumentation des neuen Eigentümers nicht folgt, der die Wohnung für seinen Sohn reklamiert. Die Filmemacher möchten vom FDP-Justizminister ein Statement zum Problem der Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentum. Das Problem wäre für den Minister zu klein, kommentiert ein Sprecher in der Abmoderation. Betroffen sind Zehntausende, und es werden täglich mehr. Im Zeitraum 2011 bis 2020 wurden in Berlin insgesamt 124.421 Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt.
Die Politik hat sich augenfällig völlig von der Realität entfernt
Es gingen Hunderttausende auf die Straße, um gegen Rechts zu demonstrieren, Seit an Seit mit den Regierenden wie Scholz und Baerbock in Potsdam.
Wir sollten schauen, was wirklich unserer Demokratie schadet, denn wir werden nicht regiert, sondern beherrscht. Die Meinung der Mehrheit folgt der Macht. Es wird ein Herrschaftsdiskurs geführt, der andere Sichtweisen versucht auszuschließen. Es ist das Gegenteil des Habermas‘schen Postulats nach einem herrschaftsfreien Diskurs.
Die Masse sucht in Umbruchszeiten eine Richtung, und die augenblickliche Richtung läuft auf einen dritten Weltkrieg hinaus.
Freundlich könnte man es betreutes Denken nennen, die Realität erinnert jedoch eher an Orwells Wahrheitsministerium. Die Bevölkerung ist einer anhaltenden Propagandaflut ausgesetzt, die aus historischen Fakten und Statistiken besteht, die besagtes Ministerium produziert. Gewisse Wahrheiten können nur wahr werden, wenn man sie erfindet. Moralismus bestimmt die Debatten. Moralismus führt jedoch zum Gesinnungsdiktat. Die herrschenden Eliten scheinen Orwells „1984“ nicht als Dystopie, sondern als Handlungsanweisung zu sehen. Robert Habeck fühlte sich kürzlich von der Realität umzingelt. Logisches Denken braucht man, um die Realität zu erfassen und Zusammenhänge zu erkennen. Diese Fähigkeit gerät zunehmend unter Beschuss, alles scheint unprovoziert zu geschehen, wird als alternativlos dargestellt. Einzelne Dinge sollen sich nicht mehr zu einem größeren Bild zusammenfügen. Die Hinnahme von Logiklöchern und behelfsmäßigen, aus der Luft gegriffenen Noterklärungen führt zu einem konditionierten Umdenken, das einem Nichtdenken gleicht. Die Logik der Andersdenkenden wird so als irgendwie verworren wahrgenommen. Eine allumfassende Konfusion wird allgegenwärtig. Es gibt keine Verbindlichkeit mehr, und wer nicht mehr an die Wirklichkeit gebunden ist, kann sich auch nicht wie Robert Habeck von ihr umzingelt sehen.
Angstkampagnen sind inzwischen ein beliebtes Regierungsinstrument, um über Notrechte demokratische Prozesse auszuhebeln. Die Wissenschaft wird ideologisch imprägniert. Skeptiker werden geächtet und beruflich beschädigt. Es wird Zeit, sie an den runden Tisch der Zukunft zu holen. Es braucht eine ergebnisoffene Debatte. Trotzdem.
Bei mir führt das dazu, dass die Zündschnur immer kürzer wird, ich immer schneller explodiere. Meine Wut zeigt mir jedoch, dass ich noch lebe.
Wo lauern die wirklichen Gefahren?
Die Stimmen von Kiesewetter, Strack-Zimmermann und Hofreiter für den Krieg gegen Russland verstoßen gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag, der das vereinigte Deutschland zum Frieden verpflichtet, und sind weit gefährlicher als die AfD, die sich einst mit ihren Gründungsmitgliedern (Alexander Gauland, Bernd Lucke, Konrad Adam und Gerd Robanus) von der CDU abgewandt hatte. Wer solche Fakten benennt, könnte „schädliche Informationen“ verbreiten und sich strafbar machen.
Die Politik macht uns gerade klar, dass wir nachgerade eine Blüte der Demokratie erleben, gefördert durch abstruse Gesetze wie das der Demokratieförderung oder das der Strafbarkeit bei Ansichten, die den Staat delegitimieren, eine bislang nicht bekannte Wortschöpfung. Demokratieförderung bedeutet, dass der Regierung sympathische Nichtregierungsorganisationen staatliche Unterstützung erhalten und z.B. die oben genannten Demonstrationen gegen Rechts organisieren.
Rechts wird gleichgesetzt mit rechtsextrem und gleichzeitig mit Nazis. Was kennzeichnet Rechtsextremismus: Gleichschaltung, Diskriminierung von Andersdenkenden, ein moralisches Überlegenheitsgefühl etc. – und Kriegstreiberei.
Ein marxistischer Veteran beschreibt mir kurz und knapp: Rechte sind konservativ, wertebasiert, Rechtsextreme hingegen reaktionär, gegen die Interessen der Mehrheit, und Faschismus ist gleich Krieg.
Oskar Lafontaine meint, gegen den Krieg zu sein ist ein originärer linker Standpunkt.
Im April 2024 machen die wachsenden Zahlen der Kriminalstatistik Schlagzeilen. Verschwiegen wird dabei, dass es sich um Anzeigen bei der Polizei handelt, nicht um Überführte und bei Gericht Verurteilte. Das Zahlenwerk dient dazu, das Problem der unkontrollierten Einwanderung als kriminalitätstreibend zu identifizieren und so der AfD-Argumentation in Konkurrenz zu treten.
Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund ist überpräsentiert. Die Diskussion um die Problematik, speziell die der Jugendgewalt, hat mich mein Berufsleben lang von 1969 bis 2005 begleitet. Die Lösungsversuche und Angebote waren zweifelhaft bis hilflos, auf keinen Fall nachhaltig.
In diesen Zeiten der zusehenden Verarmung eines Viertels der Bürger unserer Republik, in Krisen- und Kriegszeiten und Zeiten der Diffamierung von Friedensfreunden, der Verrohung der Sprache gerade während Corona wachsen die Aggressionen unter prekären Jugendlichen besonders. Ich nannte sie einst die „Überflüssigen“, und diese spüren das, werden immer wieder gedemütigt und wehren sich mit untauglichen Mitteln, die sie immer mehr ins Abseits führen.
Deshalb brauchen wir eine Politik, die die soziale und politische Lage versteht, um zu realistischen Lösungen im Interesse der Allgemeinheit zu kommen.
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Titelbild: Kiselev Andrey Valerevich/shutterstock.com
[«1] „They are casting their problems at society. And, you know, there’s no such thing as society. There are individual men and women and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look after themselves first. It is our duty to look after ourselves and then, also, to look after our neighbours.” – Margaret Thatcher in an interview in Women’s Own in 1987
Quelle: theguardian.com
[«2] Karl Marx, Friedrich Engels: Das Kommunistische Manifest: Kapitel 1: Bourgeois und Proletarier, aus dem Text der letzten von Friedrich Engels besorgten deutschen Ausgabe von 1890, S. 465
[«3] Ralf Schönball: 1000 Prozent in zehn Jahren, im Tagesspiegel vom 14. März 2018
[«4] https://kontrast.at/wien-mietpreise-gefoerderte-wohnungen/ von Patricia Huber vom 27. November 2018