Man hätte die Uhr danach stellen können. Am Dienstag veröffentlichte der Schauspieler und Theaterleiter Dieter Hallervorden das Gedicht „GAZA GAZA“ als Video, in dem er die israelische Kriegsführung in Gaza scharf kritisiert. Keinen Tag später war nahezu die gesamte deutsche Medienlandschaft vom Neuen Deutschland bis zu Julian Reichelts rechtem Krawallportal Nius außer sich. Es hagelte Antisemitismusvorwürfe, von Verschwörungstheorien und „perfidem Israel-Hass“ war die Rede. Was ist nur mit den deutschen Medien los? Man muss nur aufs Knöpfchen drücken und schon geifern die Kommentatoren. Dem Video hat der ebenso irre wie absehbare Sturm im Wasserglas zumindest genutzt. Auch dank des kollektiven medialen Aufschreis kommt das Video mittlerweile auf über eine Million Abrufe und die Zuschauer können sich so zum Glück ihr eigenes Bild machen. Von Jens Berger.
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Ist es antisemitisch, Israel schwere Vorwürfe wegen des Tötens von 13.800 Kindern im Gazastreifen zu machen? Ja, meint Simone Rafael in ihrem Artikel „So nicht!“ auf T-Online, in dem sie mit Hallervorden hart ins Gericht geht. Die Kritik am Töten palästinensischer Kinder sei ein „antisemitisches Klischee, das seit dem Mittelalter verwendet wird: dass Juden, jetzt benannt als Israel, Kindermörder seien“. Das ist eine interessante Sichtweise. Demnach bin ich auch ein Antisemit, da ich ja am Dienstag just zu diesem Thema einen kritischen Artikel veröffentlicht hatte. Die von mir zitierten hochrangigen UN-Vertreter, inklusive des UN-Generalsekretärs Guterres, der warnte, dass „Gaza zum Friedhof der Kinder werde“, sind dann freilich auch Antisemiten. Und auch ein großer Teil des intellektuellen Israels wäre nach dieser Definition antisemitisch.
Was hierzulande kaum wer weiß – die schärfste Kritik an der inhumanen Kriegsführung Israels kommt keinesfalls aus Deutschland, sondern aus Israel selbst. Seit Beginn des Bombardements von Gaza verging beispielsweise keine Woche, in der die linksliberale israelische Zeitung Haaretz nicht sehr scharf das Töten der Kinder in Gaza kritisiert hätte (z.B. hier, hier, hier oder hier). Ähnlich verhält es sich mit dem Vorwurf, Israel betreibe eine Apartheids-Politik. In Deutschland unsagbar und angeblich antisemitisch, in Israel selbst ein durchaus gängiger Vorwurf kritischer Intellektueller (z.B. hier, hier, hier oder hier). Aber was wissen schon die Israelis über Israel?! Sind Israels Intellektuelle etwa Antisemiten? Ist die Haaretz womöglich das israelische Pendant des Stürmers?
De facto ist es eher so, dass in keinem Land der Welt die Kritik an der israelischen Kriegsführung ein derartiges Schattendasein führt wie in Deutschland. Das hat sicherlich auch etwas mit dem hierzulande mittlerweile inflationär benutzten Antisemitismusvorwurf zu tun. Aber wen wundert es? T-Online-Autorin Rafael ist schließlich seit mehr als zwanzig Jahren Mitarbeiterin der Amadeu Antonio Stiftung und Chefredakteurin des stiftungseigenen Magazins „Belltower News“, das sogar den NachDenkSeiten schon einmal skurrilerweise Antisemitismus vorgeworfen hatte. Dass für Rafael auch Hallervordens Gedicht „drei Minuten antisemitisches Raunen“ ist … geschenkt. Frei nach William Shakespeare: Die Medienwelt ist ein Theater und wir alle sind bloße Spieler. Simone Rafael kennt ihre Rolle.
Auch die Autoren der BILD kennen natürlich ihre Rolle in diesem Theater. Es gibt wohl kein deutsches Blatt, das sich kompromissloser hinter die Politik der rechtsextremen israelischen Regierung stellt. So ist es nicht wirklich überraschend, dass die BILD Hallervordens Kritik als „wirre […] Wahnvorstellung“ bezeichnet, „mit der einige der übelsten Verschwörungstheorien der Welt beginnen“. Man lässt bei Springer den Israel-Lobbyisten Volker Beck in Zitatform von einem „Schuldabwehr-Antisemitismus in Zusammenhang mit Täter-Opferumkehr“ raunen. Zugespitzt muss das dann im Umkehrschluss wohl heißen, dass die getöteten Kinder in Gaza Täter und die israelischen Bomberpiloten Opfer sind. Und wer es anders sieht, ist Antisemit. So einfach ist das. Simone Rafael würde das sicher so unterstreichen.
„Perfide“ findet das alles Julia Rathcke, ihres Zeichens Redakteurin der Rheinischen Post. Und damit meint sie natürlich nicht die in der Tat perfiden Reaktionen ihrer Kollegen, sondern das Gedicht selbst. Dies sei „perfider Israel-Hass“ und eine „perfide Verdrehung der Fakten“. Der BZ-Kolumnist Gunnar Schupelius ernennt Hallervorden gar zum „Helfer der Heiligen Krieger“, der „die Propaganda der Hamas-Terroristen [vollzieht]“. Schupelius fragt sich, ob Hallervorden „dumm“ oder „bösartig“ ist, kommt dann aber zum Schluss, dass er „einfach mit dem Zeitgeist [ginge], der Ressentiments gegen Israels Juden [pflegte]“. Eine ungewöhnliche Sichtweise, denn ein wie auch immer israel-kritischer „Zeitgeist“ ist in den deutschen Medienstimmen, die ja wohl den Zeitgeist bestimmen, nun wirklich nirgends zu finden. Dafür meint Schupelius zu wissen, dass der „Brandstifter“ Hallervorden seine Kritik „genauso [wie] die Propaganda der Nationalsozialisten“ aufzieht. Dümmer geht’s wirklich nicht. Oder doch? In der rechtskrakelerischen Reichelt-Postille Nius bezeichnet man das Gedicht als „antisemitische Schwulst-Lyrik“ eines „linksextremen Antisemiten“. Ufff.
Aber nun ja, wer hätte ernsthaft andere Reaktionen erwartet? Dieter Hallervorden zumindest nicht. Und ein Gutes haben die Pawlow’schen Reflexe der schreibenden Zunft ja auch – sehr viele Menschen dürften erst durch die Schmähkritik der Edelfedern auf Hallervordens Gedicht aufmerksam gemacht worden sein. Das Video hat nun auf allen Plattformen zusammen schon mehr als eine Million Abrufe. Und ob die Million Zuschauer das Gedicht genauso antisemitisch, perfide und wirr finden wie Deutschlands Journalisten, darf getrost bezweifelt werden.