Das Soziale in der Alterssicherung – Oder: Welches Alterssicherungssystem wollen wir?
Ein interessanter Redetext von Winfried Schmähl bei verdi in Berlin am 25. April 2006. Prof. Dr. Winfried Schmähl lehrt und forscht am Zentrum für Sozialpolitik in Bremen.
Das Soziale in der Alterssicherung – Oder: Welches Alterssicherungssystem wollen wir?
Winfried Schmähl
(Vortrag auf dem ver.di-Rentenkongress am 25. April 2006 in Berlin)
Mit dem Thema will ich mich in drei Schritten befassen:
- Ich beginne mit einigen Hinweisen auf soziale Aspekte in der deutschen Alterssicherung, wobei ich mich auf die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) – als dem quantitativ bedeutendsten Teil des deutschen Alterssicherungssystems – und auf die private Vorsorge, die ja jetzt besonders propagiert wird, beschränke. [1]
- Im zweiten Schritt skizziere ich Auswirkungen bereits politisch beschlossener Maßnahmen im Hinblick auf Leistungsniveau und -struktur des deutschen Alterssicherungssystems, um schließlich
- die Frage zu erörtern, ob es Argumente und Ansatzpunkte für eine Alternative zur politisch gewählten Strategie gibt und damit für eine Korrektur der sich sonst abzeichnenden Folgen.
Erstens: Die derzeitige Entwicklung bei uns ist gekennzeichnet durch ein Zurückdrängen der umlagefinanzierten Alterssicherung – insbesondere der gesetzlichen Rentenversicherung – und eine Ausweitung der über den Kapitalmarkt abgewickelten Alterssicherung. Dies ist ein Prozeß, auf den viele Akteure mit unterschiedlichem Interesse seit längerem hingearbeitet haben. Die veröffentlichte und politische Meinung wurde erfolgreich in diesem Sinne beeinflußt. Auf Kapitalansammlung beruhende individuelle Vorsorge wird als „Eigenvorsorge“ bezeichnet – während man durch die Beiträge zur umlagefinanzierten GRV ja nur die Renten der jetzt Alten finanziere. Diese gezielte Verengung des Begriffs „Eigenvorsorge“ auf kapitalfundierte Absicherung ist auch von vielen Politikern übernommen worden. Damit wird aber verdeckt, daß auch in einem umlagefinanzierten System durch Beitragszahlung ein dazu in einem angemessenen Verhältnis stehender Rentenanspruch erworben werden kann. Dies entspricht dem Grundgedanken der vor 50 Jahren grundlegend reformierten GRV. Damit wird auch in der GRV – wie bei der Privatvorsorge – Eigenvorsorge betrieben. Ob das allerdings in Zukunft so bleibt, ist eine wichtige Frage.
Zwischen individueller privater kapitalfundierter Absicherung und der heutigen gesetzlichen Rentenversicherung gibt es aber wichtige – soziale, gesellschaftliche Aspekte betreffende – Unterschiede. Dazu gehört,
- daß in der GRV die Beiträge nicht nach dem Risiko differenziert sind, also weder nach dem unterschiedlichen Invaliditätsrisiko, noch nach Vorerkrankungen oder unterschiedlicher Lebenserwartung von Männern und Frauen oder nach Einkommenslage, Beruf usw.,
- daß Rehabilitationsleistungen erfolgen und die Eingliederung gesundheitlich Beeinträchtigter in den Erwerbsprozeß gefördert wird und
- daß neben Alters- und Hinterbliebenenrenten auch Renten im Falle von Erwerbsminderung (Invalidität) gezahlt werden (was beim Vergleich der Vorteilhaftigkeit – im Sinne von „Renditen“ – der privaten Rentenversicherung, die sich allein auf Alterssicherung bezieht, und der gesetzlichen Rentenversicherung häufig übersehen wird).
Wichtige soziale Funktionen hat die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung in Zeiten tiefgreifenden politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Umbruchs erfüllt. Erinnert sei hier nur an zwei Phasen der jüngeren deutschen Geschichte:
In der Zeit nach dem Zusammenbruch Ende des Zweiten Weltkriegs nahm die Rentenversicherung in erstaunlich kurzer Zeit die Rentenzahlungen wieder auf und trug wenigstens in begrenztem Maße zur Finanzierung des Lebensunterhalts von Rentnern bei. Vor allem, es erfolgten auch Zahlungen an den riesigen Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen. Bei der Währungsreform des Jahres 1948 wurden Renten im Verhältnis 1:1 umgestellt, wie schließlich auch im Zuge der vor 16 Jahren erfolgten Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten. Die Integration der beiden Alterssicherungssysteme in Ost und West war nur im Umlageverfahren realisierbar. Oder hätte man die Bürger der früheren DDR auf Jahrzehnte vertrösten sollen und können, bis eine auf Vermögensansammlung beruhende private Altersrente zu einer Erhöhung der Renteneinkommen beitragen hätte? Von all denen, die einen grundlegenden Umbau der Alterssicherung im Hinblick auf Kapitaldeckung fordern – von Verbänden, Politikern und Wissenschaftlern – hat man seinerzeit nicht den Vorschlag vernommen, nun die „Gunst der Stunde“ für einen Neuanfang mit Kapitalfundierung zu nutzen.
Zu den sozialen Aspekten der gesetzlichen – im Unterschied zur privaten – Alterssicherung gehört auch, daß eine Absicherung für das Alter bei Eintritt bestimmter sozialer Risiken (wie Arbeitslosigkeit) oder im Zusammenhang mit bestimmten Tätigkeiten (Erziehung) erfolgt. So werden z.B. von der Bundesagentur für Arbeit für deren Leistungsempfänger Beiträge an die Rentenversicherung gezahlt; gleiches erfolgt durch Pflegekassen für Pflegepersonen. Und aus dem Bundeshaushalt werden Beiträge im Falle von Kindererziehung geleistet. Bei der nun einsetzenden generellen Reduzierung des Leistungsniveaus der GRV wird auch der Wert dieser sozialen Ausgleichsmaßnahmen abgebaut. Verstärkt wird dies z.B. noch dadurch, daß der Gesetzgeber z.B. die Beitragszahlungen der Bundesagentur an die Rentenversicherung deutlich reduzierte.
Eine wichtige Zielsetzung der GRV ist, daß sie nach bisheriger Konzeption eine Lohnersatzfunktion besitzt, durch die eine Verstetigung der Einkommens- und Konsumentwicklung im Lebensablauf angestrebt wird, und zwar nicht nur bei Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Vielmehr soll – durch die Rentenanpassungen – auch während der Rentenlaufzeit eine Teilhabe der Rentner an der allgemeinen Einkommensentwicklung erfolgen. Im Unterschied dazu sind private kapitalfundierte Altersrenten (bislang) in aller Regel nicht dynamisiert (also statisch), was dazu führt, daß die Einkommenslage des Rentenbeziehers während der Rentenlaufzeit umso stärker hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurückbleibt, je größer der Anteil statischer Privatrenten am Gesamteinkommen ist.
Bei der geförderten Privatvorsorge gibt es durch die Differenzierung z.B. nach dem Familienstand zwar auch eine soziale Komponente. Allerdings kommt es hier darauf an, wer die Förderung in Anspruch nimmt bzw. nehmen kann, aber auch, wer zur Finanzierung der Förderung herangezogen wird. Da im höheren Einkommensbereich mit erheblichen Mitnahmeeffekten durch Umschichtung von Vorsorgeaufwendungen in nun geförderte Formen zu rechnen ist, während im unteren Einkommensbereich die Möglichkeiten zur Inanspruchnahme oft nicht bestehen oder genutzt werden können, ist in sozial- und verteilungspolitischer Perspektive die gegenwärtige Ausgestaltung recht problematisch.
Damit ist bereits ein Aspekt der Auswirkungen der seit 2001 beschlossenen politischen Strategie angesprochen. Der auf breitem politischen Konsens basierende „Paradigmenwechsel“ in der deutschen Alterssicherungspolitik beruht auf Aussagen und Annahmen, die zwar immer wiederholt, aber nicht mehr überprüft, sondern als Tatsachen akzeptiert werden. Daß dies so ist, hat einen guten Grund, denn sie halten einer Überprüfung kaum stand. Zu diesen Aussagen gehört:
Wir können uns soziale Sicherung auf dem bisherigen Niveau nicht mehr leisten. Deshalb sei das Niveau der GRV zu reduzieren. Dies werde vorwiegend durch die demographische Entwicklung erzwungen, da die GRV davon weitaus mehr als die kapitalfundierte Privatvorsorge betroffen werde. [2] Ein weiterer entscheidender Grund für die Reduzierung der umlagefinanzierten GRV zugunsten die kapitalfundierten Privatvorsorge sei, daß sonst die Lohn(neben)kosten noch mehr steigen, was beschäftigungspolitisch negativ wirke. Schließlich werde insgesamt deutlich, daß die GRV ein marodes, fehlkonstruiertes und nicht zukunftsträchtiges System ist. Dies werde an den immer neuen Finanzierungsproblemen deutlich. Der einzige Ausweg – der ja dann auch eingeschlagen wurde – sei die Reduzierung der umlagefinanzierten Rente und deren teilweiser Ersatz durch kapitalfundierte private Alterssicherung. Dies sind allerdings einseitige – und, was nicht vergessen werden sollte, auch interessengeleitete – Begründungen.
Das Vertrauen in die GRV wurde gezielt unterminiert durch entsprechende Äußerungen von Interessenvertretern, Politikern, Wissenschaftlern wie auch durch immer neue Medienberichte, die diese Sichtweise transportieren und multiplizieren. Verwiesen wird dabei vor allem auf die hohe und steigende Finanzierungsbelastung in der umlagefinanzierten Rentenversicherung. In einer alternden Bevölkerung wird jedoch Alterssicherung unabhängig vom Finanzierungsverfahren (also ob umlagefinanziert oder kapitalfundiert) teurer, doch die Diskussion wurde allein auf die umlagefinanzierten Systeme, insbesondere die GRV konzentriert. [3] Wenn in der GRV z.B. wegen steigender Lebenserwartung der Beitragssatz steigt, so wird das als Beleg für ein nicht tragfähiges System dargestellt. Wenn aber z.B. in der Lebensversicherung aus gleichem Grunde Prämienanhebungen vorgenommen werden, findet sich kein entsprechender Aufschrei in den Medien, allenfalls ein kurzer Hinweis im hinteren Teil der Wirtschaftsnachrichten.
Zudem ist die Finanzbelastung in der GRV stark durch politische Entscheidungen gesteigert worden, und es wurden durch politische Entscheidungen akute Finanzierungsengpässe ausgelöst. Beispiele dafür sind:
- Vorzeitiger Rentenbezug ohne entsprechende Abschläge von der Rentenhöhe und („sozialverträgliche“) Maßnahmen zur Frühverrentung mit der Folge steigender Finanzbelastung;
- der Finanzausgleich zwischen West- und Ostdeutschland, der rd. 1,6 Beitragspunkte erfordert – ein Faktum, das bei der Beurteilung der Beitragshöhe in der GRV berücksichtigt werden sollte;
- die beitragsfreie Entgeltumwandlung, die die Finanzierungsbasis der GRV schmälert und den Beitragsbedarf erhöht;
- erhöhte Finanzbelastungen in der GRV entstehen auch dadurch, daß sich der Bund von Zahlungsverpflichtungen befreit. Das aktuelle Haushaltsbegleitgesetz bietet dafür wieder einmal Anschauungsmaterial: So werden die Beitragszahlungen für Bezieher von Arbeitslosengeld II reduziert, was allein einen um 0,2 Prozentpunkte höheren Beitragssatz in der GRV erfordert. Zudem wird der Bundeszuschuß in dem Maße herabgesetzt, in dem höhere Beiträge für Minijobs und durch die Begrenzung der Sozialversicherungsfreiheit für Sonn- und Feiertagsarbeiten der GRV zufließen. Es erfolgen also Beitragserhöhungen zugunsten der Entlastung des Bundeshaushalts. [4]
- Vertrauen wurde aber auch zerstört durch eine viel zu niedrige Mindestreserve der GRV (die nun sogar als „Nachhaltigkeitsrücklage“ bezeichnet wird!). Denn dadurch entsteht immer aufs Neue die Gefahr von kurzfristig eintretenden Finanzierungsengpässen, was dann wieder als Beleg für die Reformbedürftigkeit der GRV gewertet wird.
Ein zentrales Argument (und treibendes Motiv) in der Reformdebatte ist die Senkung bzw. Begrenzung der Arbeitgeberbeiträge als Teil der Lohnkosten. Hierzu tragen die Beiträge der GRV (z.B. im produzierenden Gewerbe) zwar nur etwa zu einem Zwölftel bei – alle Sozialversicherungsbeiträge etwa zu einem Sechstel –, doch in der öffentlichen Diskussion wird der Eindruck erweckt, als ob die Arbeitgeberbeiträge der dominierende Faktor für die Entwicklung der Lohnkosten seien. Die Höhe der Arbeitgeberbeiträge dient aber primär als Argument zur Begründung von Leistungsreduktionen in der GRV. Der ökonomischen Bedeutung steigender Beiträge für die Lohnkostenentwicklung wird in der Diskussion eine überzogene Bedeutung zugemessen. Denn selbst bei Verzicht auf alle seit dem Jahre 2000 ergriffenen Leistungsreduktionen in der Sozialversicherung würde eine im Durchschnitt um etwa 0,07 Prozentpunkte p.a. geringere Steigerung der Bruttolöhne ausreichen, um den lohnkostensteigernden Effekt von höheren Arbeitgeberbeiträgen im Zeitraum bis 2030 bzw. 2040 zu kompensieren. D.h., statt einer Bruttolohnsteigerung von z.B. 2% wären es dann 1,93%, durch die der lohnkostensteigernde Effekte höherer Sozialversicherungsbeiträge kompensiert werden könnte.
Außerdem ist darauf zu verweisen, daß steigende Beiträge – sofern ihnen eine entsprechende Gegenleistung gegenübersteht – bei Lohnverhandlungen in der Vergangenheit von den Gewerkschaften als den Verteilungsspielraum einschränkendes Element berücksichtigt wurden. Je weniger aber dem Beitrag eine als angemessen angesehene Gegenleistung gegenüber steht, die Abgabe also als Steuer empfunden wird, um so eher wird auch in Lohnverhandlungen eine Kompensation angestrebt werden, d.h., es wird primär über Netto- und nicht Bruttolöhne verhandelt.
Vor allem aber: Wenn der beschäftigungsfeindliche Aspekt der Arbeitgeberbeiträge solche politische Bedeutung besitzt, so hätte man schon seit langem die bekannte „Fehlfinanzierung“ in den Sozialversicherungszweigen von etwa 8 Beitragspunkten (also 4 Punkte für Arbeitgeberbeiträge) durch sachadäquate Finanzierung aus allgemeinen Haushaltsmitteln beseitigen können. Allein in der GRV besteht noch eine Fehlfinanzierung von rd. 3½ Beitragspunkten, so daß der GRV-Beitrag bei 16 % liegen könnte. (Dazu weiter unten Näheres.) Sowohl aus beschäftigungs- als auch verteilungspolitischen Gründen gehört eine sachadäquate Finanzierung von Aufgaben, die vom Gesetzgeber der Sozialversicherung übertragen wurden, auf die politische Tagesordnung und spielt ja jetzt auch in der aktuellen Diskussion eine Rolle. Allerdings gehen Beschlüsse der Großen Koalition in die entgegengesetzte Richtung, worauf oben schon hingewiesen wurde. Das wird auch daran deutlich, daß die erst jüngst in der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführte (recht geringe) Steuerfinanzierung familienorientierter Ausgaben nun wieder abgeschafft wird, während die damals zur Begründung der Zuweisungen steuerfinanzierter Mittel an die Krankenversicherung erhöhte Tabaksteuer unverändert bleibt.
Kennzeichnend für die politische Strategie der „rot-grünen“ wie auch jetzt der „schwarz-roten“ Koalition ist, daß in der GRV faktisch nicht mehr ein Leistungsziel dominiert, sondern ein Beitragsziel – 2020 nicht über 20 %, 2030 nicht über 22 %. [5] Das hat tiefgreifende Einschnitte in das Leistungsniveau der GRV zur Folge. Die nun speziell geförderte private Vorsorge – einschließlich der betrieblichen Alterssicherung – soll künftig einen Teil der GRV ersetzen und nicht mehr – wie früher – primär die GRV ergänzen.
Um die Ausgabenentwicklung der GRV zu bremsen, wurden neben der Entwicklung des (durchschnittlichen) Bruttoentgelts seit 2001 zwei Faktoren in die Rentenformel eingebaut:
a) Ein stufenweise steigender „Altersvorsorgeanteil“ (d.h., ein politisch vorgegebener Prozentsatz maximal potentiell geförderter Privatvorsorge).
b) Ein „Nachhaltigkeitsfaktor“, der trotz aller inhaltlichen Verbrämung ein zusätzlicher reiner Steuerungsfaktor ist, um den politisch vorgegebenen Beitragssatz in der GRV rechnerisch zu erreichen.
Beide Faktoren bewirken in den nächsten Jahren, daß es zu einem positiven Anstieg der Renten erst dann kommt, wenn das relevante durchschnittliche Bruttoentgelt um etwa 1,3 % pro Jahr steigt. Die Folgen sind durch die „Nullrunden“ bei der Rentenanpassung bereits erkennbar.
c) Ergänzend soll zudem ein „Nachholfaktor“ eingefügt werden, der solche faktorbedingten Minderungen der Rentenanpassung, die angesichts zu niedriger Lohnzuwächse nicht zum Tragen kamen, nachholen soll.
Daß hier von Transparenz keine Rede mehr sein kann, dürfte offenkundig sein. Vertrauen schafft man damit nicht. Die Gefahr besteht, daß für lange Zeit der Abschied von einer dynamischen Rente eingeläutet wird – mit der Folge, daß die Renten im Realwert und in Relation zum allgemeinen Einkommensniveau immer weiter zurückbleiben.
Durch die bislang bis 2008 befristete beitragsfreie Entgeltumwandlung von Lohnbestandteilen in Ansprüche auf betriebliche, allerdings vom Arbeitnehmer (im Prinzip) allein finanzierte Altersrenten, wird nicht nur die Einnahmebasis der Sozialversicherungsträger unterminiert, [6] sondern dies wirkt sich auch auf die Leistungen der GRV aus: Nicht nur, daß für diese Entgeltbestandteile keine GRV-Ansprüche erworben werden, ein Anstieg der Entgeltumwandlung mindert zudem auch die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Entgelte und reduziert damit – da an diese die Rentenanpassungen gekoppelt sind – auch noch Rentenanpassungen (sofern es überhaupt noch welche gibt). Es wird deutlich, daß über Privatvorsorge und Entgeltumwandlung auf direktem Wege die Leistungen der GRV reduziert werden – Ausdruck einer bewußten politischen Weichenstellung.
Die Folge ist, daß die Privathaushalte insgesamt nun stärker belastet werden, als dies bei vergleichbarem Sicherungsniveau allein durch den Beitrag zur GRV der Fall wäre. Dies wurde bereits 2001 deutlich, als ohne die dann beschlossenen Maßnahmen für 2030 ein Beitragssatz von 24 % in der GRV erwartet wurde – hälftig von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu zahlen –, während mit den Reformmaßnahmen ein GRV-Beitragssatz von 22 % eintreten soll, der aber zusätzlich einen Beitrag zur Privatvorsorge von 4 % erfordere, also insgesamt 26 %, wovon dann Arbeitnehmer 15 % (11 % + 4 %) zu zahlen hätten. [7]
Im vor kurzem vorgelegten „Alterssicherungsbericht“ der Bundesregierung wird nun deutlich, daß dann, wenn man das bisherige Absicherungsniveau erhalten will, die Mehrbelastung sogar noch höher sein muß. Bei den von der Regierung gewählten außerordentlich optimistischen Annahmen wurde unterstellt, daß auch die potentielle Entlastung durch geringere Besteuerung von Vorsorgeaufwendungen zusätzlich für private Vorsorge eingesetzt werden müßte.
Es geht also in der neuen deutschen Alterssicherungspolitik um die Begrenzung der Belastung insbesondere für Arbeitgeber (GRV-Beitrag) und für öffentliche Haushalte, nicht aber um die Belastung der Privathaushalte. Denn deren Gesamtbelastung wird vielmehr für lange Zeit durch die politischen Entscheidungen sogar noch gesteigert. Dies zeigt, daß die Aussage, „soziale Sicherung sei nicht mehr bezahlbar“, nur ein Vorwand ist, um die Leistungsreduktionen im öffentlichen Bereich zu rechtfertigen.
Die neue Alterssicherungspolitik hat tiefgreifende Folgen sowohl für die Einkommenslage und Einkommensverteilung im Alter als auch für den Charakter der gesetzlichen Rentenversicherung. Wären die Maßnahmen, die stufenweise ihre Wirkung entfalten sollen, bereits heute voll wirksam, so würde z.B. eine GRV-Rente von 1.200 Euro (was etwa der Eckrente entspricht) nur noch etwa 900 Euro betragen, also ein Viertel weniger.
Geht man davon aus, daß zur Armutsvermeidung – wie heute – ein Einkommen in Höhe von rd. 40 % des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts angemessen ist, dann benötigte ein Durchschnittsverdiener künftig (unter Berücksichtigung der vorgesehenen stufenweisen Anhebung des abschlagsfreien Rentenalters von 65 auf 67 Jahre) [8] nicht nur – wie heute – etwa 25 Beitragsjahre, sondern rd. 37 Beitragsjahre (also 37 Entgeltpunkte), um im Alter von 65 eine Rente in Höhe dieser „Armutsgrenze“ zu erhalten. Wer über den gesamten Versicherungsverlauf betrachtet im (lebenszeitlichen) Durchschnitt jedoch unterdurchschnittlich verdiente bzw. Entgeltpunkte ansammelte – der Regelfall z.B. bei Frauen –, wird dann z.B. bei einem Lohnniveau von etwas über 80% des Durchschnitts bereits 45 Jahre Beiträge zahlen müssen, [9] um eine Rente in Höhe einer armutsvermeidenden Sozialhilfe zu erhalten, auf die auch ohne jede Vorleistung Anspruch besteht. Nun wird von manchen eingewandt: Wenn die Sozialhilfe in gleichem relativen Umfange reduziert werde wie das Leistungsniveau in der GRV, dann bleibt der heutige Abstand zur Sozialhilfe bestehen – doch dann hat die Sozialhilfe mit Armutsvermeidung auch nichts mehr zu tun. Die künftige Entwicklung hinsichtlich des Leistungsniveaus der Sozialhilfe bzw. der bedürftigkeitsgeprüften „bedarfsorientierten Grundsicherung“ erfordert allerdings hohe Aufmerksamkeit.
Das sind bisher allein Folgen der generellen Reduktion des Leistungsniveaus in der GRV. Für den Einzelnen kommt es aber darauf an, was künftig individuell an Ansprüchen erreichbar ist. Künftige Alterseinkünfte werden weitaus mehr als die jetzigen Renten von den verschlechterten Arbeitsmarktbedingungen beeinflußt sein – was nicht nur Ansprüche auf GRV-Renten berührt, sondern auch die Möglichkeit zur Privatvorsorge. 2004 gingen in der westdeutschen Rentenversicherung 24 % der Neurentner nach Arbeitslosigkeit oder Altersteilzeit „in Rente“. In Ostdeutschland waren es fast 55 %. Die Abschläge von der vollen Rente betrugen in diesen Fällen beim Rentenzugang 2004 im gesamtdeutschen Durchschnitt gut 14 % (im Durchschnitt fast 175 € pro Monat). Der Effekt von Abschlägen dürfte für künftige Rentnerjahrgänge steigen, auch wegen steigenden Drucks auf Langzeitarbeitslose, frühestmöglich Rente mit Abschlägen in Anspruch zu nehmen. Vor allem aber kommt hinzu, daß bei den vielfach längeren Phasen der Arbeitslosigkeit die Möglichkeit zum Erwerb von Rentenansprüchen sinkt, da die maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes reduziert wird, was zu geringeren Rentenanwartschaften führt, und da die Rentenansprüche bei Arbeitslosengeld II nach neuen Beschlüssen der Großen Koalition nur noch 1/12 dessen erreichen, was ein Durchschnittsverdiener an Rentenansprüchen erwirbt. D.h., nach einem Jahr ALG-II-Bezug gibt es Rentenansprüche, die gerade denen entsprechen, die ein Durchschnittsverdiener in einem Monat erzielt. Dies macht deutlich, daß die sich ändernden Erwerbsbiographien zusätzlich zu den generellen Leistungsreduktionen vielfach zu erheblich niedrigeren Rentenansprüchen führen werden.
Wenn eine zur Armutsvermeidung ausreichende bedarfsorientierte Grundsicherung existiert – steuerfinanziert und erhältlich ohne Vorleistung –, dann ist offensichtlich, daß für einen Großteil der Versicherten selbst nach langer Versicherungsdauer der durch Beiträge erwerbbare Rentenanspruch kaum so hoch wird, daß er spürbar die Armutsgrenze übersteigt. Damit verliert aber eine beitragsfinanzierte Rentenversicherung ihre Legitimation, da die Gegenleistung für die Beitragszahlung in einem Großteil der Fälle (selbst bei langer Versicherungsdauer) unterhalb der vorleistungsunabhängigen Grundsicherung bleibt.
Wenn inzwischen von verschiedenen Seiten – gemäß einer neuen Sprachregelung – gesagt wird, die GRV-Rente könne in Zukunft nicht mehr als eine „Basisrente“ sein (was wohl besser klingt als „Grundrente“), so wird verschwiegen, daß eine solche Basisrente allenfalls für langjährig Versicherte dann armutsvermeidend ist, wenn diese kaum Phasen der Arbeitslosigkeit in ihrer Biographie haben und zumindest durchschnittlich verdienten. Für einen Großteil der Versicherten wäre die GRV-Rente also kaum eine hinreichende „Basis“.
Die neuerdings mitunter zu hörende Aussage, weitere Einschnitte in das Leistungsrecht dürften nicht mehr erfolgen, weil sonst der Abstand zur Sozialhilfe nicht mehr gewahrt bleibe, verkennt oder verdeckt, daß dieser Abstand auf Grund der bereits beschlossenen Maßnahmen für die Zukunft nicht mehr gewahrt sein wird. D.h., die jetzt politisch getroffenen Entscheidungen führen dazu, daß eine GRV mit Vorsorgecharakter – mit einem engen Verhältnis von Leistung und Gegenleistung und mit einem Beitrag als Preis für die Gegenleistung – ihre Akzeptanz in der Bevölkerung und ihre politische Legitimation verlieren würde. Es ist nicht unplausibel anzunehmen, daß dann eine Verschmelzung mit der sowieso schon bestehenden bedarfsorientierten Grundsicherung erfolgt, zumindest, daß das staatliche System stark umverteilenden Charakter erhält und letztlich aus Steuern zu finanzieren wäre. Das wäre also der Abschied von einem System, das über Jahrzehnte maßgebend zum Abbau von Altersarmut beigetragen hat und dem sich manche andere Länder mit ihren jüngsten Reformen gerade annähern, während es hier heimlich zu Grabe getragen wird.
Für die Frage, ob jemand sozialhilfebedürftig wird, ist allerdings nicht allein die Versichertenrente aus der GRV maßgebend, sondern dies hängt u.a. neben der Höhe von Hinterbliebenenrenten auch von Leistungen aus der privaten und betrieblichen Alterssicherung ab. Doch da im unteren Einkommensbereich auch die Sparfähigkeit sehr begrenzt ist und zudem dort die Vorsorgebereitschaft angesichts der Zukunftsperspektive (lohnt sich Vorsorge überhaupt?) negativ beeinflußt werden dürfte, ist die Gefahr steigender Altersarmut vorgezeichnet.
Zugleich ist absehbar, daß auch die Einkommensverteilung im Alter zunehmend ungleicher wird. Im höheren Einkommensbereich wird man mit nicht unbeträchtlichen Mitnahmeeffekten (und folglich keinem zusätzlichen Sparen) rechnen können, während diejenigen, die die Förderung nicht nutzen oder nicht nutzen können (wegen geringen Einkommens oder Überschuldung), dennoch an der Finanzierung der Förderung beteiligt sind, und zwar um so mehr, je stärker die Finanzierung der Staatsausgaben durch indirekte Steuern erfolgt.
Während Rentner und rentennahe Jahrgänge die Einbußen bei der GRV durch Privatvorsorge nicht oder kaum mehr kompensieren können, wird aber die Vorteilhaftigkeit des „Paradigmenwechsels“ in der Alterssicherungspolitik für jüngere Jahrgänge betont. Doch zeigt sich selbst bei überaus optimistischen Annahmen (z.B. durchgängige Erwerbsbeteiligung, volle Ausschöpfung der Förderung), daß vielfach die Nettoalterseinkünfte unter denen liegen werden, die ohne die jetzigen Reformmaßnahmen erreicht worden wären. Dazu trägt die höhere Besteuerung von Alterseinkünften bei mit ihrem während der Rentnerphase unverändert hohen Renten-Freibetrag wie auch die Tatsache, daß Privatrenten in der Regel nicht dynamisch sind (im Unterschied zur GRV-Rente). Daraus wird sich während der Rentenlaufzeit ein zunehmendes Zurückbleiben der Alterseinkünfte im Vergleich zur allgemeinen Einkommenslage ergeben (auch ein Kaufkraftverlust). Andererseits ist zu bedenken, daß die Ausgaben bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit mit zunehmendem Alter tendenziell steigen, also der Einkommensbedarf in höherem Alter zu- und nicht abnimmt, während die Alterseinkünfte ggf. sogar sinken, zumindest real.
Allerdings ist eine Gruppe von Gewinnern der neuen deutschen Alterssicherungspolitik eindeutig identifizierbar: die Anbieter von Finanzmarktprodukten.
Drittens: Die Frage ist nun, ob solche Folgen einer Verlagerung von der umlagefinanzierten sozialen Alterssicherung auf die kapitalfundierte Privatrente hingenommen werden sollen und müssen, Folgen, die zum Zeitpunkt, als dieser „Paradigmenwechsel“ erfolgte, der Bevölkerung nicht dargelegt wurden. Vielmehr wurde dieser Weg – wie ein Mantra – immer aufs Neue als alternativlos, geradezu zwangsläufig im Interesse einer „demographiefesten“ Alterssicherung beschworen. Daß es aber keine Alternative zu den politischen Entscheidungen gibt, das ist politische Rhetorik und keine ökonomische oder demographische Notwendigkeit. Entscheidend ist zunächst, was politisch gewollt wird, sowohl für die Struktur des Alterssicherungssystems insgesamt als auch für die Rolle und den Charakter der gesetzlichen Rentenversicherung, denn für diese wird deutlich, daß mit der vorgesehenen Niveaureduktion eine auf Beiträgen beruhende Rentenversicherung mit einem als fair angesehenen Verhältnis zur Gegenleistung nicht vereinbar sein wird.
Eine Alternative – die auch die Kommission für den 5. Altenbericht der Bundesregierung skizzierte (der Bericht wurde im August 2005 der Bundesregierung übergeben, ist aber immer noch nicht veröffentlicht) – geht von der Zielvorstellung aus, daß in der GRV bei längerer Versicherungsdauer weiterhin ein deutlich über die steuerfinanzierte bedürftigkeitsgeprüfte armutsvermeidende Mindestsicherung hinausreichendes Leistungsniveau erhalten bleiben soll und auch eine enge Beziehung zwischen dem Vorsorgebeitrag und der Rentenleistung. [10]
Zu einer engen Beitrags-Gegenleistungs-Beziehung würde eine sachgerechte Finanzierung von Umverteilungsaufgaben innerhalb der GRV beitragen. Ein quantitativ besonders gewichtiges Umfinanzierungspotential besteht bei der „bedarfsgeprüften“ Hinterbliebenenversorgung mit Kinderzuschlägen nach dem „Anrechnungsmodell“. Auf den Zahlbetrag der Hinterbliebenenrente werden inzwischen alle Einkünfte des überlebenden Ehegatten (mit Ausnahme der geförderten „Riester-Rente“) angerechnet. Das ist keine versicherungsmäßige Leistung, sondern eine bedarfsgeprüfte Transferzahlung. Das damit verknüpfte Umfinanzierungspotential beläuft sich derzeit auf rd. 3½ Beitragspunkte. Damit könnte die Beitragsbelastung (auch der Arbeitgeber) spürbar reduziert werden und der Beitrag würde stärker zu einem Preis für eine Gegenleistung. Diese Umfinanzierung (also Änderung der Finanzierungsstruktur bei unveränderter Abgabenquote) könnte realistischerweise stufenweise – im Zuge sonst erforderlicher Erhöhung des Beitragssatzes – erfolgen. Damit wäre erreichbar, daß in absehbarer Zukunft der Beitragssatz trotz höheren Leistungsniveaus in der GRV kaum höher läge, als dies gegenwärtig als Zielgröße postuliert wird.
Politisch sollte das Leistungsziel wieder in den Vordergrund rücken, und nicht ein Beitragssatz geradezu zum Fetisch erklärt werden, dem sich alles unterzuordnen habe. Zudem kommt es auf die Gesamtbelastung (aus Sozial- und Privatversicherungsbeiträgen) an und nicht allein auf den GRV-Beitrag. Diese Gesamtbelastung würde – wie erwähnt – bei Verzicht auf den vorgesehenen Ersatz der Umlagefinanzierung durch Kapitalfundierung für ein vergleichbares Absicherungsniveau sogar niedriger sein, verglichen mit dem jetzt eingeschlagenen Weg. Zudem wären damit positive sozial- und verteilungspolitische Wirkungen verbunden, so die bessere Vermeidung von Armut wie auch die einer immer ungleicher werdenden Einkommensverteilung im Alter.
Denn wenn immer wieder betont wird, die Demographie und ihre Folgen für die umlagefinanzierten Systeme stelle eine „tickende Zeitbombe“ dar, so ist es eher zutreffend, in den sich abzeichnenden tiefgreifenden sozial- und verteilungspolitischen Folgen eine gesellschaftspolitische „tickende Zeitbombe“ zu sehen.
Die oben erwähnte Alternativstrategie schließt eine Anpassung der Altersgrenze für die abschlagsfreie Altersrente an die Entwicklung der ferneren Lebenserwartung Älterer ein. Denn steigende Lebenserwartung (z.B. der 65-Jährigen) bedeutet ja bei unverändertem Alter zum Zeitpunkt des Rentenbeginns eine Leistungsverbesserung. Bei einem höheren Rentenniveau wäre eine Anhebung des abschlagsfreien Rentenalters auch verteilungspolitisch vertretbar, da selbst bei „Abschlägen“ die Gefahr unzureichender Ansprüche und damit von Altersarmut verringert würde.
Wie lange jemand im Erwerbsleben bleiben kann, hängt maßgeblich von der Arbeitsmarktlage und dem Gesundheitszustand ab. So wird zwar weithin davon ausgegangen, daß sich die Arbeitsmarktlage in Zukunft deutlich verbessern wird. Ob dies allerdings auch zu einer höheren Erwerbsbeteiligung Älterer führt, ist damit noch nicht gesagt. Es wäre wünschenswert, wenn der Zeitpunkt des tatsächlichen Eintretens der rentenrechtlichen Veränderungen von überprüfbaren Indikatoren (wie z.B. altersspezifischen Arbeitsmarktindikatoren) abhängig gemacht würde. Die Ankündigung jetzt ist sinnvoll, doch das faktische Wirksamwerden sollte von konkreten Bedingungen abhängen.
Erforderlich ist auch, die Weiterqualifizierung Älterer deutlich auszuweiten. Da in Deutschland für die künftige Produktivitäts- und Einkommensentwicklung das Humankapital von entscheidender Bedeutung ist, läge es nahe, Weiterqualifizierung finanziell zu fördern. Zur Finanzierung könnten zumindest Teile der Mittel, die jetzt zur Förderung von Finanzkapital (z.B. Riester-Rente) eingesetzt werden, für die Förderung der Humankapitalbildung umgewidmet werden. Denn die jetzige Förderung der Privatvorsorge dürfte in erheblichem Maße zu puren Mitnahmeeffekten führen durch diejenigen, die es sich leisten können zu sparen. Außerdem könnte bei höherem Leistungsniveau in der GRV das Fördervolumen reduziert und zielgenauer eingesetzt werden.
Verschiedentlich wurde jüngst gefordert, bei der „Rente mit 67“ je nach beruflicher Belastung Sonderregelungen einzuführen wie auch im unteren Einkommensbereich angesichts der dort niedrigeren Lebenserwartung und damit kürzeren Rentenbezugsdauer. Abgesehen von Abgrenzungsproblemen – so bei Veränderung der beruflichen Tätigkeit und der Einkommenslage im Lebensablauf – würde dies dem in der GRV realisierten umfassenden Risikoausgleich zuwiderlaufen. Warum sollte dann z.B. keine Differenzierung nach Männern und Frauen wegen unterschiedlicher Lebenserwartung erfolgen? Die Folge wäre der Weg in ein völlig anderes Rentensystem – mit risikoabhängigen Prämien (wie in der Privatversicherung) statt einkommensabhängigen Beiträgen und Ansprüchen.
Problematisch ist auch die von der Großen Koalition beschlossene Sonderregelung für Versicherte mit mindestens 45 Versicherungs- oder Beitragsjahren, die weiterhin die Altersrente ab 65 ohne Abschläge erhalten sollen. Damit würden im Lebensablauf erworbene Rentenansprüche („Entgeltpunkte“) unterschiedlich hoch bewertet. Dies widerspricht aber einem sinnvollen Grundgedanken des deutschen Rentenrechts (dem übrigens jetzt viele andere Länder folgen), keinen Unterschied in der Bewertung danach zu machen, wann der Anspruch erworben wird oder wie viele Ansprüche jemand hat. Zudem ist die Chance, 45 Versicherungsjahre zu erreichen, für Männer und Frauen höchst unterschiedlich. Dies wird wohl auch für längere Zeit noch so bleiben. [11] Diese Maßnahme wirkt also eindeutig zugunsten von Männern.
Wenn es darum geht, z.B. erschwerte Arbeitsbedingungen und gesundheitliche Belastungen zu berücksichtigen, dann ist nicht die Alters-, sondern die Erwerbsminderungsrente der geeignete Ansatzpunkt. Deren Höhe und Zugangsvoraussetzungen erfordern sorgfältige Überprüfung. [12]
Mit Blick auf eine Ausweitung des Personenkreises in der GRV halte ich die Einbeziehung all der Selbständigen in die GRV, die keinem obligatorischen Alterssicherungssystem angehören, für sinnvoll – nicht, um die Finanzlage der GRV zu beeinflussen, sondern um die Gefahr von Altersarmut zu vermeiden bei denjenigen, die längere Phasen solcher Formen von Selbständigkeit in ihrem Erwerbsleben durchlaufen.
Vermieden werden sollte ein Überfrachten der GRV mit Ausgleichs-(Umvertei-lungs)maßnahmen. Hier bietet es sich an, dies in anderen Institutionen durchzuführen (also auch eine Arbeitsteilung zwischen Institutionen zu praktizieren), die GRV aber so zu gestalten, daß – bei weitgehendem Erhalt des bisherigen Absicherungsniveaus – eine von den Versicherten als fair anzusehende Leistungs-Gegenleistungs-Beziehung erreicht wird.
Angesichts der gegenwärtig durch intensive und erfolgreiche Lobbyarbeit weitverbreiteten Auffassung, die GRV könne in Zukunft nur noch höchst unzulängliche Leistungen bieten, dürfte es allerdings sehr schwer sein, eine Korrektur des eingeschlagenen Weges zu erreichen. Doch dafür ist es im Prinzip noch nicht zu spät. Allerdings müßten sich dann einflußreiche Kräfte für eine Kurskorrektur einsetzen – was derzeit (zumindest noch nicht) erkennbar ist. Gelingen dürfte dies wohl nur dann, wenn deutlich gemacht wird, daß eine veränderte Strategie in der Alterssicherungspolitik für breite Bevölkerungsschichten Vorteile bietet, [13] eine Strategie, bei der die GRV weiterhin ihre sozialpolitischen Funktionen erfüllt bei einem Leistungsniveau ähnlich dem jetzigen, ergänzt, aber nicht zunehmend ersetzt, durch private und betriebliche Alterssicherung. [14]
Erfolgt dieses Umsteuern in der Alterssicherungspolitik jedoch nicht, so dürfte der Weg zu einer staatlichen Altersrente führen, die nur unter bestimmten Bedingungen – also allenfalls für langjährig Versicherte mit recht guter Entlohnung – zur Vermeidung von Altersarmut ausreicht, für einen Großteil der Versicherten aber nur noch unzureichendes Einkommen nach Bedürftigkeitsprüfung aufstockt. Damit würden wir wieder dort anlangen, wo die Geschichte der staatlichen Alterssicherung Ende des 19. Jahrhunderts begann. Die Reform des Jahres 2001 wurde von manchen als „Jahrhundertreform“ gefeiert – tatsächlich führt sie uns aber in der staatlichen Alterssicherung um ein Jahrhundert zurück. Dieser Weg kann aber für den Großteil der Bevölkerung nicht erstrebenswert sein.
Die Erfahrung zeigt zudem, daß es nicht bei einem staatlichen System mit niedrigem Niveau bleibt, sondern zusätzlich wird ein zweites – gesetzliches oder kollektivvertragliches – Obligatorium geschaffen. Das sollte zu denken geben. Denn was ist gewonnen, wenn das Demontieren der Rentenversicherung dann zu einem zweiten Obligatorium führt? Wer gewinnt und wer verliert im Vergleich zum Erhalt des jetzigen Systems?
Wenn jetzt ein zweites Obligatorium gefordert wird – wie jüngst, im April 2006, vom DGB –, so ist das eigentlich ein Zeichen dafür, daß man an dem politisch beschlossenen Abbau der GRV – und damit des Sozialen in der deutschen Alterssicherung – nichts mehr ändern will oder glaubt, ändern zu können, sich also damit arrangiert.
Eine offene Diskussion über das Für und Wider der jetzt nahezu unwidersprochen favorisierten politischen Strategie zur radikalen Umwälzung des deutschen Alterssicherungssystems fehlt bislang. Es ist höchste Zeit, daß diese Diskussion geführt wird.
[«1] Andere Facetten des vielgestaltigen deutschen Alterssicherungssystems – wie Beamtenversorgung, verschiedene Durchführungswege der betrieblichen Alterssicherung, Versorgungswerke der freien Berufe oder Landwirtschaftliche Alterssicherung – bleiben damit (aus Zeitgründen) ausgeklammert.
[«2] Dabei wird unterstellt, daß die Privatvorsorge eine weitaus höhere Rendite erbringt.
[«3] In der (gleichfalls umlagefinanzierten) Beamtenversorgung müsse man „wirkungsgleich“ eingreifen.
[«4] Dies ist auch ein Beispiel für eine für die Bürger schwerlich durchschaubare Gestaltung des Systems sozialer Sicherung. Dazu gehört übrigens auch, daß inzwischen die Rentenformel durch immer neue rententechnische „Faktoren“ mehr und mehr an Transparenz eingebüßt hat.
[«5] Auch wenn als Kompromiß im Gesetzgebungsverfahren noch ein – für die Bürger wenig aussagekräftiges – Leistungsziel (Rentenniveau vor Steuer) eingefügt wurde.
[«6] Übrigens weiß niemand bislang genau zu sagen, wieviel der Einnahmeschwäche in der GRV darauf zurückzuführen ist.
[«7] Die Förderung privater Vorsorge ändert an diesem Bild nichts Grundsätzliches, wohl aber sind – durch Inanspruchnahme und Finanzierung der Förderung – damit andere Verteilungswirkungen verbunden.
[«8] Bei unveränderter Höhe des jährlichen Abschlags von 3,6 %.
[«9] Genau: 82,2%. Bei 92,5% des Durchschnitts sind 40 Jahre erforderlich.
[«10] Dem würde übrigens widersprechen, wenn man in die Rentenversicherung Maßnahmen zur Armutsvermeidung integrieren würde und diese aus Beiträgen finanziert. Generell sollten keine weiteren Umverteilungsmaßnahmen in die GRV integriert werden.
[«11] So hatten von den neuen Altersrentnern des Jahres 2004 rd. 33% der westdeutschen bzw. 47% der ostdeutschen Männer 45 oder mehr Beitragsjahre, während es bei den Frauen nur knapp 4% (im Westen) bzw. knapp 12% (im Osten) waren.
[«12] Wird nach Inanspruchnahme der Altersrente ab der Regel-(Referenz)Altersgrenze eine Erwerbstätigkeit ausgeübt, so ist derzeit – um Wettbewerbsverzerrung zu vermeiden – vom Arbeitgeber der halbe Rentenversicherungsbeitrag zu entrichten. Allerdings führt diese Beitragszahlung zu keinem erhöhten Rentenanspruch. Dies ist mit dem Konzept der Rentenversicherung, nach dem Beitragszahlungen zu Rentenansprüchen führen sollen, nicht vereinbar. Deshalb sollte nach Beendigung der Erwerbstätigkeit des Rentners eine entsprechende Neuberechnung der Rente (also eine Rentenanhebung) erfolgen.
[«13] Und nicht nur die zunächst eher verschwiegenen Folgen der in jüngerer Zeit gefaßten Beschlüsse deutlich gemacht werden, denn neuerdings werden diese ja gerade von denen aufgegriffen, die die Notwendigkeit erheblich ausgeweiteter Privatvorsorge propagieren, und zwar als alleinigen Weg, um z.B. der Altersarmut zu entgehen.
[«14] Eine verantwortungsvolle Alterssicherungspolitik darf sich aber nicht allein auf die Alterssicherungssysteme (deren Finanzierung, Leistungen und Besteuerung) beschränken, sondern hat auch weitere für die (reale) Einkommenslage im Alter wichtige – und politisch gestaltbare – Entwicklungen zu berücksichtigen, wie insbesondere Höhe und Struktur von Sozialversicherungsleistungen im Falle von Krankheit und Pflegebedürftigkeit bzw. was (wegen Zuzahlungen, Begrenzungen des Leistungskatalogs etc.) aus den laufenden Alterseinkommen aufzuwenden ist. Eine derartige integrierte Sicht und Entscheidungsvorbereitung fehlt bislang. Und mit Blick auf die Alterssicherungssysteme ist inzwischen eine weithin uniforme öffentliche und veröffentlichte Meinung anzutreffen.