Anfang März hat Nicaragua vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag den Antrag gestellt, gegen Deutschland ein Verfahren wegen der Unterstützung Israels einzuleiten. Deutschland verstoße damit gegen seine Verpflichtung aus dem Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, der Genfer Konventionen von 1949 und ihrer Zusatzprotokolle, gegen die „unüberwindbaren Grundsätze des humanitären internationalen Rechts“ und andere Normen des allgemeinen internationalen Rechts in Bezug auf die besetzten palästinensischen Gebiete, insbesondere den Gazastreifen. Am 8. und 9. April war nun die Anhörung in Den Haag. Von Karin Leukefeld.
Gleichzeitig mit dem Antrag, ein Verfahren gegen Deutschland einzuleiten, beantragte Nicaragua, „vorläufige Maßnahmen“ zu erlassen. Es müsse alles getan werden, um die „Begehung von Völkermord zu verhindern“, so Nicaragua. Seit Oktober 2023 bestehe „eine anerkannte Gefahr des Völkermords am palästinensischen Volk, die sich vor allem gegen die Bevölkerung des Gazastreifens“ richte. Dadurch, dass Deutschland politische, finanzielle und militärische Unterstützung für Israel leiste und die Zahlung von Hilfsgeldern an das UN-Hilfswerk für die palästinensischen Flüchtlinge (UNRWA) ausgesetzt habe, habe Deutschlands nichts getan, „um die Begehung von Völkermord zu verhindern“, so Nicaragua.
Konkret nennt Nicaragua fünf vorläufige Maßnahmen, über die das Gericht in einem Eilverfahren entscheiden soll. Erstens soll Deutschland insbesondere seine Militärhilfe, einschließlich militärischer Ausrüstung aussetzen. Zweitens soll Deutschland unverzüglich sicherstellen, „dass die bereits an Israel gelieferten Waffen nicht zur Begehung von Völkermord verwendet werden, nicht zu Völkermord beitragen oder in einer Weise eingesetzt werden (…), die gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt.” Drittens soll Deutschland „unverzüglich alles tun, um seinen Verpflichtungen aus dem humanitären internationalen Recht nachzukommen.” Viertens soll Deutschland seine Entscheidung, die Finanzierung des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) auszusetzen, zurücknehmen und sicherstellen, „dass die humanitäre Hilfe das palästinensische Volk erreicht, insbesondere in Gaza“. Fünftens soll Deutschland die Lieferung von militärischer Ausrüstung an Israel einstellen, damit diese nicht weiter zur „Begehung schwerer Verbrechen gegen das Völkerrecht verwendet werden können“.
Die Anhörungen
Am 8. und 9. April fanden in Den Haag nun die Anhörungen statt, in denen es – der Dringlichkeit halber – zunächst um die vorläufigen Maßnahmen ging. Am Montag hatte Nicaragua zwei Stunden, um seinen Antrag zu erläutern, am Dienstag war Deutschland an der Reihe. Im „globalen Süden“ fanden die Vorträge große Aufmerksamkeit und wurden vor allem in arabischen Ländern in den Medien teilweise live übertragen und vielfach kommentiert. In Deutschland gingen alle Medien mehr oder weniger ausführlich auf den Fall ein, strahlten Interviews und Hintergrundsendungen aus, in denen Rechtsexperten zu Wort kamen. Schlagzeilen wie „Nicaragua zerrt Deutschland wegen Gazakrieg vor das Haager Welt-Gericht“ (RP-Online) „Deutschland vor Gericht: Völkermord-Vorwürfe haltlos“ (Kölner Stadtanzeiger) oder „Völkermord-Klage: Deutschland stellt sich dem IGH“ (Deutsche Welle) bestimmten die Medien. Ganz allgemein war – nicht nur zwischen den Zeilen – ein Ton zu vernehmen, den ein ZDF-Reporter so auf den Punkt brachte:
„Ausgerechnet Nicaragua. Ausgerechnet Daniel Ortega. Dem Machthaber von Managua werfen die Vereinten Nationen vor, er verletze selbst die Menschenrechte. Der 78-Jährige war erst Dschungel-Kämpfer, dann demokratisch gewählter Präsident und ist heute Diktator mit guten Kontakten nach Moskau – und alten Banden zu Palästinensern. Ausgerechnet also Nicaragua nutzt Den Haag, das Welt-Gericht, als Welt-Bühne für den Konflikt in Gaza.“
In einer Hintergrundsendung des Deutschlandfunks hieß es, der Antrag sei von Nicaragua eingereicht worden, um von einem kritischen Bericht des UN-Menschenrechtsrates über die Lage der Menschenrechte in Nicaragua abzulenken. Auch wurde die Frage gestellt, wer die anwaltliche Tätigkeit Nicaraguas eigentlich bezahle, um gleich darauf auf Moskau zu verweisen, das Deutschland – salopp gesagt in den Worten der Autorin – eins auswischen wolle wegen der mehr als 16.500 Sanktionen, die unter Führung Deutschlands von der EU zusammen mit den USA, Großbritannien, Australien, Kanada und Japan in den letzten zwei Jahren gegen Russland verhängt wurden.
Das vom DLF zur Sendung gelieferte Foto zeigt allerdings, was die aus den USA und Deutschland gelieferten und von Israel eingesetzten Waffen im Gazastreifen angerichtet haben: eine Spur der Verwüstung menschlicher Lebensräume – und das ist nur ein Ausschnitt. Deutschland begründet seine Waffenlieferungen und unverbrüchliche Solidarität namens „Staatsräson“ damit, dass Israel ein „Recht auf Selbstverteidigung“ habe.
Die moralische Verfasstheit der israelischen Truppen, wie sie auf dem folgenden AP-Foto „Weibliche Soldaten machen ein Selfie an der Grenze zu Gaza“ dokumentiert ist – und von solchen Selfies gibt es Hunderte – kommt in der Anklage gegen Deutschland gar nicht vor.
Die Streitschrift
In einem 43 Seiten umfassenden Schriftsatz hat Nicaragua in 104 Punkten seine Anklage gegenüber Deutschland vorgebracht.
Darin geht es um die juristischen Voraussetzungen für jeden IGH-Disput, der nur möglich ist, wenn die betroffenen Staaten den IGH anerkannt haben. Das von Nicaragua angestrengte Verfahren sollte eigentlich auch Kanada, Großbritannien und die Niederlande betreffen. Da Kanada und Großbritannien den IGH nicht anerkennen und die Niederlande einen Dialog mit Nicaragua aufgenommen haben, blieb nur Deutschland übrig.
Ausdrücklich bezog Nicaragua sich auf die Anklage Südafrikas gegen Israel. In einer Eilentscheidung hatte der IGH angeordnet, dass Israel alles unternehmen müsse, um Völkermord an den Palästinensern zu verhindern, um die Grundversorgung und humanitäre Hilfe sicherzustellen, um Zerstörungen der palästinensischen Lebensgrundlagen zu unterbinden. Israel wies alle Vorwürfe zurück und hielt sich nicht an die IGH-Anordnungen.
In der nicaraguanischen Streitschrift wird ausführlich und chronologisch das Verhalten Deutschlands gegenüber Israel seit Beginn des Krieges im Oktober 2023 aufgelistet. Dabei wird deutlich, dass Deutschland die zahlreichen Berichte der UN, Debatten im Sicherheitsrat, die Vorträge zahlreicher Experten von UN, IKRK und internationalen Hilfsorganisationen über Art und Auswirkungen des israelischen Krieges gegen Gaza ignoriert und weitere Lieferungen von Waffen, Munition und Ausrüstung an Israel zugesagt hat. Gleichzeitig stellte die Bundesregierung die humanitäre und entwicklungspolitische Hilfe für die besetzten palästinensischen Gebiete und Gaza „auf den Prüfstand“ und kündigte an, bis zu einem Ende der Prüfung keine weiteren Projekte mehr zu unterstützen. Die (freiwillig von Staaten gezahlten) Hilfsgelder für UNRWA – die größte und wichtigste UN-Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge – wurden ausgesetzt, nachdem Israel der Organisation Unterwanderung durch die Hamas und Beteiligung an dem Angriff am 7. Oktober 2023 vorgeworfen hatte.
Während Länder, die zunächst wie die USA und Deutschland der Forderung Israels nach Aussetzung der Finanzierung von UNRWA folgten, ihre Unterstützung wiederaufgenommen haben, hält Deutschland bis heute an dem Zahlungsstopp für Gaza – wo die Hilfe besonders dringend und immens notwendig ist – fest. Berlin hat gleichwohl zugesagt, die Zahlungen für die anderen Gebiete, in denen UNRWA tätig ist (Westjordanland, Ostjerusalem, Jordanien, Syrien, Libanon) wiederaufzunehmen.
Die nicaraguanische Streitschrift vor dem IGH zeigt nicht nur schonungslos auf, welche Folgen vor allem für die palästinensische Bevölkerung die Bundesregierung mit ihrer finanziellen, politischen und militärischen Unterstützung für die israelische Regierung und Armee in Kauf nimmt, sie zeigt auch das Versagen von Politik und Medien in Deutschland, die zahlreichen und dokumentierten Kriegsverbrechen Israels nicht genau und umfassend genug sowie in aller Öffentlichkeit dargestellt und politische Konsequenzen gezogen zu haben.
Beispielhaft sei hier auf das Auftreten einer Sprecherin des Auswärtigen Amtes verwiesen, die in der Bundespressekonferenz am 7. Februar auf die Fragen der NachDenkSeiten zu der beabsichtigten Klage Nicaraguas und der in einer Verbal-Note vorgebrachten Forderung, Waffenlieferungen an Israel sofort einzustellen, ungehalten reagierte. Man kenne eine Presseerklärung und weise die darin gemachten Angaben natürlich zurück, so die Sprecherin.
Auf die Frage nach dem Erhalt der Verbal-Note ging die Sprecherin nicht ein. In der Streitschrift für den IGH heißt es in Punkt 27: „Nicaragua informierte Deutschland über seinen Antrag in einer Verbal-Note mit Datum vom 2. Februar 2024, die vom nicaraguanischen Außenministerium an das deutsche Außenministerium durch ihre jeweiligen ständigen Vertretungen in New York geschickt worden sei.
Deutschland weist Vorwürfe zurück
Tania von Uslar-Gleichen, die Völkerrechtsbeauftragte im Auswärtigen Amt, äußerte sich offiziell nach dem Vortrag der nicaraguanischen Rechtsvertreter vor dem IGH. Die Juristin erklärte – auf den Stufen vor dem „Friedenspalast”, dem Sitz des IGH –, Deutschland verletze „weder die Völkermordkonvention noch humanitäres Völkerrecht, weder direkt noch indirekt“, berichtet das ZDF. Das Gegenteil sei der Fall, da Deutschland sich der „Wahrung und des Schutzes des Völkerrechts verpflichtet“ habe und dafür international arbeite.
Unter den Mikrophonen, die sich der deutschen Völkerrechtsexpertin entgegenrecken, ist auch ein Mikrophon des katarischen Nachrichtensenders Al Jazeera. Der hat seit Gründung 1996 über Kriegsverbrechen der USA und seiner Verbündeten in zahlreichen Kriegen von Afghanistan über Irak bis Libyen berichtet. Aus Gaza und aus dem besetzten palästinensischen Westjordanland berichtet der Sender täglich, so auch seit Beginn des Krieges vor sechs Monaten (7. Oktober 2023) unter großem – oft lebensgefährlichem – Einsatz der Mitarbeiter vor Ort über die Verwüstung aller menschlicher Lebensgrundlagen in Gaza und über den Tod von mehr 33.300 Menschen (Stand 9. April 2024).
„Ganz klar und entschieden“ weise man die Vorhaltungen Nicaraguas zurück, erklärte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin. Völkerrechtler räumten schon vor Beginn der Anhörung dem Verfahren „geringe Aussichten auf Erfolg“ ein und verwiesen darauf, dass der IGH schon in dem Verfahren Südafrika versus Israel „keinen Waffenstillstand“ gefordert habe.
In der Anhörung erklärte der Vertreter Deutschlands, man setze sich gleichermaßen für das Selbstverteidigungsrecht Israels und für den Schutz der Zivilbevölkerung im Gazastreifen ein. Zudem liefere man keine Waffen, die direkt in Kampfhandlungen eingesetzt werden könnten, sondern nur „allgemeine Rüstungsgüter“.
Waffen für Israels Kriege
Rechtzeitig zum Ende des Fastenmonats Ramadan hat Israel angekündigt, Rafah im Süden des Gazastreifens anzugreifen. Den Termin habe man schon festgelegt, so der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Die israelische Armee bereitet sich derweil auf weitere Kriege gegen den Libanon, Iran und Syrien vor.
Das Internationale Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) hatte bereits Anfang des Jahres mitgeteilt, dass Deutschland nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant an Israel sei. In der Zeit von 2019 bis 2023 habe Berlin 30 Prozent der von Israel importierten Waffen gebilligt. Die USA lieferten im gleichen Zeitraum 69 Prozent der von Israel importierten Rüstungsgüter. USA und Deutschland zusammen liefern demnach 99 Prozent aller Waffen, die Israel einsetzt.
Seit dem 7. Oktober 2023 verzehnfachte sich in Berlin die Anzahl der Waffenausfuhrgenehmigungen an Israel. Die USA lieferte zuletzt – ohne Zustimmung des Kongresses – neben Kampfjets auch 1.500 Bomben mit einem Gewicht von 2.000 Pfund und weitere 500 Bomben mit einem Gewicht von 1.000 Pfund. Israel verfügt auch über Munition mit weißem Phosphor und Uranmunition und setzt beides im Gazastreifen und im Libanon ein.
Titelbild: Südafrikas Völkermordklage gegen Israel am Freitag, den 12. Januar 2024, vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag – Quelle: icj-cij.org