In einem aktuellen Offenen Brief legen sich Nobelpreisträger indirekt für eine Verlängerung des Ukrainekrieges ins Zeug. Das erinnert an den jüngsten „Brandbrief“ von Historikern an die SPD. Dass sich momentan so viele Wissenschaftler an die Militaristen anbiedern, ist bitter. Und weite Teile der Kulturszene schweigen. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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In einer öffentlichen Erklärung haben vor einigen Tagen mehrere Dutzend Nobelpreisträger eine „drastische Erhöhung der Hilfe für die Ukraine“ gefordert, denn die Ukraine müsse „gewinnen, nicht nur ‘nicht verlieren’“. Mit dieser Forderung plädieren die Wissenschaftler indirekt für eine Verlängerung des Sterbens in einem sinnlosen Stellungskrieg. Denn durch unrealistische Vorbedingungen wird die Aufnahme von Verhandlungen für einen Waffenstillstand erheblich erschwert.
Der Text kann an manchen Stellen meiner Meinung nach als radikal bezeichnet werden. Neben zahlreichen anderen Aspekten ist zusätzlich die mehrfache unkritische und unseriöse Bezugnahme auf Alexej Nawalny zu beklagen. Der Wortlaut des Offenen Briefes findet sich unter diesem Link. Darin heißt es etwa:
„Der Krieg in der Ukraine und der Mord an Alexej Nawalny betreffen nicht nur Russland und die Ukraine. Putins Regime hat gezeigt, dass es eine klare und unmittelbare Bedrohung für die Menschheit darstellt. Seit seiner Machtübernahme im Jahr 2000 hat Putin systematisch die demokratischen Institutionen im postsowjetischen Raum abgebaut und die Konflikte in den Staaten der ehemaligen UdSSR angeheizt. Die umfassende Aggression gegen die Ukraine und die Ermordung von Alexej Nawalny verdeutlichen die Eskalation der Bedrohung auf eine neue Stufe, da Putins Regime keine Einschränkungen mehr bei der Verletzung von Menschenrechten und internationalen Normen anerkennt.“
Unter anderem wird diese Forderung formuliert:
„Drastische Erhöhung der Hilfe für die Ukraine. Die Ukraine muss gewinnen, nicht nur ‘nicht verlieren’. Rechtzeitige Hilfe wird den Verlust von Menschenleben verringern und dazu beitragen, den Aggressor von ukrainischem Boden zu vertreiben. Putins Niederlage bei der militärischen Aggression wird von Millionen von Russen als moralischer Sieg betrachtet werden, der ihre Hoffnungen auf eine demokratische Zukunft stärkt und ihre Antikriegsbewegung mobilisiert.“
„Wir sind entschlossen, dass sich München 1938 nicht wiederholt!“
Unhaltbare historische Parallelen werden zur unseriösen Meinungsmache genutzt:
„Wir rufen die Staats- und Regierungschefs der Welt und alle Menschen guten Willens auf, jegliche Illusionen über Herrn Putin und sein verbrecherisches Regime abzulegen. Die Geschichte lehrt uns, dass die Beschwichtigung eines Aggressors weitere Verbrechen gegen die Menschheit begünstigt. Kein vorübergehender Nutzen kann dies rechtfertigen. Wir sind entschlossen, dass sich München 1938 nicht wiederholt!“
Inzwischen wurde der Brief, den ich als militaristisches Pamphlet bezeichnen würde, von mehreren Hundert weiteren Personen unterzeichnet, nach eigenen Angaben zahlreiche Wissenschaftler, darunter auch viele aus Deutschland. Auf den Offenen Brief der Nobelpreisträger hatte auch bereits Christian Müller auf „Globalbridge“ kritisch hingewiesen. In seinem Artikel fragt er:
„Wer startet einen ähnlich prominenten Aufruf, doch endlich Verhandlungen aufzunehmen, um mindestens einen Waffenstillstand zu erreichen, statt für nichts und wieder nichts weitere Hunderttausende von Soldaten und weitere Tausende von Zivilisten in den Tod zu schicken?“
Kein Widerspruch aus „der Wissenschaft“?
Der Brief erinnert (auch in seiner historischen Unseriosität) an den „Brandbrief“ von Historikern an die SPD vor einigen Tagen (wir haben hier darüber berichtet). Die Kombination der beiden Briefe „aus der Wissenschaft“ sowie zusätzlich das weitgehende Schweigen der Kulturszene zur Militarisierung erinnern wiederum an an einen der Punkte aus den von Anne Morelli 2001 formulierten zehn „Prinzipien der Kriegspropaganda“: Nämlich an Punkt Nr. 8, bei dem die jeweiligen Kriegspropagandisten sich darauf berufen, dass „anerkannte Kulturträger und Wissenschaftler“ ihr zerstörerisches Anliegen unterstützen würden.
Diese Behauptung kann nur glaubhaft verbreitet werden, wenn es (wie momentan) keinen hörbaren Widerspruch aus „der Wissenschaft“ gegen Offene Briefe wie den hier thematisierten gibt. Ein solcher Widerspruch wäre jetzt also dringend notwendig.
Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.
Titelbild: Studio Romantic / Shutterstock