Der Ukraine-Konflikt dauert noch immer an, und es sieht nicht danach aus, als könnte er in absehbarer Zeit beendet werden. Priorität haben nicht Friedensverhandlungen, sondern Waffenlieferungen. In Europa ist allenthalben von „Wehrfähigkeit“ und „Kriegstüchtigkeit“ die Rede. Eigentlich müsste allen klar sein, dass Aufrüstung die Eskalationsspirale nur weiter und schneller drehen lässt. In der gegenwärtig aufgeheizten Stimmung folgt auf Gewalt Gegengewalt, auf Kriegsverbrechen Gegenverbrechen. Die Fronten verhärten sich; ein Ausweg rückt in immer weitere Ferne. Dabei gibt es durchaus Möglichkeiten auf Frieden und Versöhnung. Einen Weg skizziert Clivia von Dewitz in ihrem Essay „Gerechtigkeit durch Wiedergutmachung?“. Eine Rezension von Eugen Zentner.
Die Juristin schlägt darin vor, eine Friedenskommission nach Vorbild der südafrikanischen Truth and Reconciliation Commission (TRC) zu etablieren. Die im Deutschen als „Wahrheitskommission“ bezeichnete Institution leistete in den 1990er-Jahren nach Ende der Apartheid einen enormen Beitrag zur Aussöhnung zwischen Opfern und Tätern. Ihr ist es zu verdanken, dass die südafrikanische Gesellschaft ihre Spaltung überwindet und Stück für Stück zusammenwächst. Von Dewitz, die heute als Richterin am Amtsgericht Bad Segeberg arbeitet, kennt die Wahrheitskommission von innen. 1997 hospitierte sie dort für zwei Monate. Auf der Grundlage dieser Erfahrung zeichnet sie in ihrem Essay eine Art Roadmap für die Übertragung der Grundprinzipien auf den Ukraine-Konflikt, damit die Aufklärung des Geschehens in den Vordergrund rückt.
Das Konzept des „Restorative Justice“
In ihrem Wesen basierte die südafrikanische Wahrheitskommission auf dem Konzept des „Restorative Justice”, was im Deutschen mit Täter-Opfer-Ausgleich übersetzt werden kann. Beide Seiten kommen zusammen, um schonungslos offen über die begangenen Verbrechen und deren Hintergründe zu sprechen. Von Dewitz betont in diesem Zusammenhang, dass es Opfern laut Studien weniger um Sühne geht als darum, die Wahrheit zu erfahren. Darin liegen zugleich die Vorteile des Restorative-Justice-Konzepts: Die Opfer erlangen eine Befriedigung und können mit der Tat besser abschließen. Die Tatverantwortlichen hingegen werden seltener rückfällig, weil sie eine Amnestie erhalten und nicht den Prozess der Strafverfolgung durchlaufen müssen.
In Anbetracht dieser Erkenntnisse fragt von Dewitz daher, inwieweit „Restorative Justice“ auch nach dem Ende von kriegerischen Auseinandersetzungen angewendet werden könnte oder sogar sollte. Im Hinblick auf den Ukraine-Konflikt spricht sie sich klar dafür aus, und ihre Argumentation ist durchaus einleuchtend: Beide Seiten haben bereits so viele Straftaten begangen, dass nicht alle geahndet werden können. Bevor die Autorin aber erläutert, wie eine Friedenskommission nach dem Ukraine-Krieg ausgestaltet werden könnte, beschreibt sie die Funktionsweise des südafrikanischen Vorbilds. Das Ziel der Wahrheitskommission „bestand darin, schwere Menschenrechtsverletzungen aufzuklären“, schreibt von Dewitz, ebenso „Amnestieanträge zu prüfen und bei Vorliegen der Voraussetzungen Amnestie zu gewähren sowie Vorschläge für die Entschädigung der Opfer zu erarbeiten und der Regierung vorzulegen.“
Damit akzentuiert von Dewitz die Besonderheit der Wahrheitskommission. Einzelne Täter wurden unter bestimmten Bedingungen sowohl strafrechtlich als auch zivilrechtlich entlastet – allerdings nur dann, wenn sie vorher Amnestie beantragt hatten. Ohne diese Klausel hätte es keine Motivation gegeben, die Wahrheit zu offenbaren. Viele Verbrechen wären nicht aufgeklärt worden. Das ist unter anderem einer Ausweitung der Anhörungen auf Repräsentanten aus Presse, Wirtschaft, Militär, Kirchen und politischen Parteien zu verdanken. Darin sei die umfassende Verantwortlichkeit dieser Institutionen für das Klima adressiert, in welchem die individuellen Menschenrechtsverletzungen geschehen konnten, so von Dewitz.
Negative Aspekte nicht ausgeblendet
Obwohl die Autorin die Zusammensetzung und Arbeit der Wahrheitskommission nur schemenhaft beschreibt, vermittelt die Lektüre einen guten Eindruck davon, was diese Institution ausmachte. Dazu trägt unter anderem das Geleitwort der südafrikanischen Aktivistin Mary Burton bei, einer der 17 Kommissare der Wahrheitskommission. Sie ergänzt den Essay genauso mit einigen wenigen Details wie der ehemalige Verfassungsrichter Ablie Sachs im Epilog. Die Ausführungen zeichnen sich besonders dadurch aus, dass die negativen Aspekte nicht verheimlicht werden. Die Wahrheitskommission machte auch Fehler. Sie konnte zum Beispiel nicht alle Täter dazu ermutigen, ihre Verbrechen zu offenbaren. Und einige Opfer warten bis heute auf die versprochenen Entschädigungen.
Trotz dieser unangenehmen Erfahrungen wird doch ziemlich deutlich, dass die Wahrheitskommission mehr Vor- als Nachteile zeitigte. Ausschließliches Bestrafen führt nicht zu einem friedlichen Miteinander, wie von Dewitz betont. Sie stützt sich dabei auf neue Erkenntnisse aus der Forschung und zieht Überlegungen ihrer Fachkollegen heran, um ihre Ausführungen auch rechtsphilosophisch zu untermauern. So plädiert sie unter anderem dafür, dass nationalen und internationalen Strafgerichten künftig die Aufgabe zukommen sollte, wie ein Auffangnetz für diejenigen bereit zu stehen, „die ihre Chance, ihre Verantwortung vor einer Wahrheitskommission gegen die Gewährung von Amnestien zu übernehmen, nicht genutzt haben“.
Kein Sondertribunal à la Nürnberg
In der zweiten Hälfte des Essays geht es dann schließlich um die Ausgestaltung der Friedenskommission nach dem Ukraine-Krieg. Dass diese Institution nicht „Wahrheitskommission“ heißen kann, erklärt die Richterin mit der Beteiligung zweier unabhängiger und souveräner Staaten. Zwar spielt auch hier die Wahrheitsfindung eine entscheidende Rolle, am Ende steht jedoch das Ziel eines dauerhaften Friedens. Ein Sondertribunal à la Nürnberg, wie es international gefordert wird, lehnt die Autorin kategorisch ab. Dessen Errichtung erfordere am Ende einen Sieger und einen Besiegten. „Dies widerspricht dem Kern von Restorative Justice, bei dem es um Heilung von Beziehungsbrüchen geht“, so von Dewitz. Was die Richterin aus Schleswig-Holstein ebenfalls ausschließt, ist eine Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), dem sie vorwirft, genauso wenig unabhängig zu sein wie die Justiz in den beiden Konflikt-Ländern.
Die einzige Lösung für eine Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahre stellt für die Autorin eine Friedenskommission dar. Diese sollte ihrer Meinung nach aus zwei Ausschüssen bestehen: einem Opferausschuss und einem Amnestieausschuss. Als Mitglieder der Institution schlägt sie sowohl ukrainische und russische Staatsangehörige als auch internationale Experten vor. Von Dewitz geht teilweise sehr ins Detail und macht Angaben zum Sitz der Friedenskommission sowie zu deren Dauer. Als besonders erforderlich erachtet sie die Sicherstellung, dass ein umfassendes Geständnis abgegeben worden ist. Ebenso müsse mitbedacht werden, „dass Menschen, denen Amnestie gewährt wird, eine Entschädigung an die Opfer zu leisten haben, um das Unrecht wiedergutzumachen“.
Den Erfolg einer solchen Friedenskommission bindet die Autorin an weitreichende strafprozessuale Befugnisse. Diese müssen vorhanden sein, um auch hochrangige Personen wie Präsidenten vorladen und vernehmen zu können. Damit sollten Befugnisse einhergehen, Räume zu durchsuchen – „inklusive Ministerien, Polizeidirektionen, Militärbasen“. Trotz der Möglichkeit von Amnestien sollte nicht vergessen werden, dass die Friedenskommission einer juristischen Aufarbeitung nur vorangestellt wäre, so von Dewitz.
Die Lektüre ermöglicht einen großen Erkenntnisgewinn, zumal die südafrikanische Wahrheitskommission und deren Errungenschaften hierzulande wenig bekannt sind. Die darauf basierenden Vorschläge für eine Friedenskommission nach dem Ende des Ukraine-Konflikts wirken deshalb sehr originell. Sie inspirieren und regen zum Nachdenken an. Sie lenken den Blick auf alternative Lösungsansätze in der Frage nach Schuld und Sühne. Es lässt sich zweifellos viel lernen aus diesem Buch, sowohl in geschichtlicher als auch in juristischer Hinsicht. Es betrachtet bereits Probleme, die noch gar nicht sichtbar sind, weil sie von anderen überlagert werden.
Allerdings muss es zunächst die Aussicht auf Frieden geben. Danach sieht es aber derzeit nicht aus. Im Gegenteil: Der Westen bereitet sich auf einen langen Konflikt vor, genauer gesagt: er redet ihn herbei. Die Rüstungsproduktion läuft auf Hochtouren; das Geld ist bereits investiert, mit großen Renditeerwartungen. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Machbarkeit, danach, ob sich die Situation in Südafrika mit derjenigen des Ukraine-Kriegs vergleichen lässt, um nach dem Vorbild der Wahrheitskommission vorzugehen.
Anders als in Südafrika gibt es nicht nur zwei Seiten. Die Zahl der Beteiligten ist weitaus größer. Verbrechen wurden sowohl in der Ukraine als auch in Russland begangen. Die Opfer und Täter stehen sich somit in zwei Ländern gegenüber – so wie diese sich als Subjekte gegenüberstehen. Wer von ihnen ist der Täter, wer das Opfer? Gleiches gilt für Staaten, die an dem Krieg indirekt beteiligt sind und möglicherweise Verbrechen begangen haben. Müssten nicht auch sie dann einen Amnestieantrag stellen? Wären sie dazu überhaupt bereit? Die Angelegenheit ist weitaus komplexer, weil sie einen geopolitischen Rahmen hat. Über den Erfolg einer Friedenskommission lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren. Momentan wirkt die Etablierung einer solchen Institution eher utopisch, aber irgendwo muss man ja anfangen.