Nur wenn wir die Suche nach der Wahrheit fortsetzen, haben wir eine Chance, den Frieden zu finden. George Orwell hat in seinem berühmten Roman „1984″ vorausgesagt, welche Folgen die Informationskriege unserer Zeit haben werden: „Und wenn alle anderen die von der Partei [den Kriegsparteien und Medien] verbreitete Lüge glaubten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten –, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde zur Wahrheit.” Von Oskar Lafontaine mit freundlicher Genehmigung der Weltwoche.
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Während ich diesen Artikel schreibe, lese ich: „Israel weist den Vorwurf zurück, für den Nahrungsmittelmangel in Gaza verantwortlich zu sein, und beschuldigt die UNO, bei der Versorgung der Menschen zu versagen.” Hatte nicht einer der Faschisten in der Regierung Netanjahu, der Verteidigungsminister Yoav Gallant, gesagt: „Kein Strom, kein Essen, kein Sprit. Alles wird abgeriegelt. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend”? Der Kriegsverbrecher Netanjahu ist für die Hungersnot im Gazastreifen verantwortlich.
2018 wurde der Einsatz von Hunger als Kriegswaffe im UNO-Sicherheitsrat mit der Resolution 2417 geächtet. Sie verurteilt „entschieden das nach dem humanitären Völkerrecht verbotene Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegsführung”.
Chor der Uneinsichtigen
Selbst der an vorderster Front der deutschen Kriegshetzer stehende Spiegel hat etwas bemerkt und schreibt: „Aus der legitimen Selbstverteidigung Israels ist ein Vernichtungsfeldzug geworden. Die deutsche Politik verschließt davor die Augen. Das ist falsch und gefährlich. [. . .] Bomben und Brot, die USA machen es vor. Zynischer kann Außenpolitik kaum daherkommen.”
Wenn die Lüge zur Wahrheit wird, wird auch das Handeln zur Lüge. Wie gerne würde man dankbar anerkennen, dass westliche Staaten, darunter die USA und Deutschland, jetzt Nahrungsmittel im Gazastreifen abwerfen. Aber wenn sie gleichzeitig Waffen liefern, mit denen die Palästinenser ermordet werden und mit denen ihr Land immer unbewohnbarer gemacht wird, dann ist diese Heuchelei und Verlogenheit kaum noch zu überbieten. Außerhalb der NATO-Staaten erntet die deutsche Außenpolitik, zu Zeiten des Bundeskanzlers und Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt in aller Welt hochgeschätzt, nur noch Verachtung.
Unehrlichkeit und Unwahrhaftigkeit triumphierten auch, als Papst Franziskus die Ukraine aufforderte, die weiße Fahne zu hissen und Verhandlungen aufzunehmen, um das Morden in der Ukraine zu beenden. Vergeblich wies das Kirchenoberhaupt darauf hin, dass verhandeln nicht kapitulieren heiße. Die Kriegstreiber in Deutschland schäumten, und auch die Deutsche Bischofskonferenz machte ihre Verbeugung vor dem Kriegsgott.
Aus dem Chor der Uneinsichtigen, die durch ihr Plädoyer für Waffenlieferungen und die Verlängerung des Krieges täglich junge Ukrainer und Russen in den Tod schicken, ragen in Deutschland nicht nur die Ampelpolitiker Strack-Zimmermann, Hofreiter und Roth, sondern auch die beiden Parteichristen Röttgen und Kiesewetter hervor. Der außenpolitische Sprecher der CDU Norbert Röttgen gab zum Besten, der Papst sei in politischen Fragen nicht unfehlbar. Er hält Putin für einen Kriegsverbrecher, den US-Präsidenten George W. Bush, der eine Million Tote im Irak durch einen völkerrechtswidrigen Krieg zu verantworten hat, aber nicht.
Der „Verteidigungsexperte” der CDU Roderich Kiesewetter fand die Aufforderung des Papstes, Friedensverhandlungen zu beginnen, „unglaublich” und warf Franziskus vor, er stelle sich auf die Seite des Aggressors. Er ist der Überzeugung, dass die Raketenbasen der USA in der Nähe der russischen Grenze nicht gegen Russland, sondern gegen den Iran gerichtet sind, und er warb dafür, mit deutschen Taurus-Raketen russische Ministerien zu zerstören. Er erfüllt damit den Tatbestand des Paragrafen 13 Absatz 2 des Völkerstrafgesetzbuches: „Wer einen Angriffskrieg oder eine sonstige Angriffshandlung im Sinne des Absatzes 1 plant, vorbereitet oder einleitet, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft.” Kiesewetter läuft immer noch frei und von der deutschen Justiz unbehelligt herum, obwohl – zu Ende gedacht – von ihm die Gefahr eines Weltkrieges ausgeht.
Napoleon wird das Zitat zugeschrieben, dass die Geschichte die Summe der Lügen ist, auf die sich die Mehrheit verständigt hat. Die Lügen, auf die sich die USA mit ihren Vasallen und die deutschen Kriegsbefürworter im Ukraine-Krieg verständigt haben, beruhen auf der Leugnung von Tatsachen, deren Wahrheitsgehalt jeder überprüfen kann. Seit den Neunzigerjahren haben die amerikanischen Strategen Zbigniew Brzezinski, Henry Kissinger und George Friedman dafür geworben, die osteuropäischen Staaten einschliesslich der Ukraine zu US-Vasallen zu machen und ein Zusammengehen deutscher Technik mit russischen Rohstoffen zu verhindern, um die Vorherrschaft der USA in Europa und Asien zu sichern.
Die NATO-Osterweiterung, also das Vorrücken militärischer Einrichtungen der USA an die Grenzen Russlands, haben Gorbatschow, Jelzin und Putin unisono als mit den Sicherheitsinteressen Russlands unvereinbar abgelehnt, und die USA hatten in Person ihres damaligen Außenministers James Baker versprochen, die NATO nicht über die Grenzen Deutschlands auszuweiten. „Not an inch”, so wörtlich auch mir gegenüber, als ich ihn 1990 als Kanzlerkandidat der SPD besuchte.
Artilleriefeuer in Schlafzimmer
Ebenso wenig, wie die USA russische Raketen an ihren Grenzen mit Mexiko und Kanada oder auf Kuba akzeptieren würden, können die Russen US-Raketen an ihren Grenzen dulden, die in wenigen Minuten Moskau zerstören können. Weil sie das eingesehen haben, liefern die USA der Ukraine bisher keine weitreichenden Raketen. Einer der klügsten amerikanischen Politiker, George Kennan, hat Ende der Neunzigerjahre die NATO-Osterweiterung als den verhängnisvollsten Fehler der US-Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet und Militarismus und Nationalismus als Folge dieser falschen Entscheidung vorausgesagt. 30 Jahre lang haben die Russen darum gebettelt, ihre Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen. Aber die amerikanische Waffenindustrie, die – wie Präsident Eisenhower richtig vorausgesehen hatte – mittlerweile den Kongress und den Senat steuert, wollte das nicht und finanzierte ein Komitee zur NATO-Osterweiterung. Sie sicherte sich so Milliardenaufträge zur Aufrüstung der US-Vasallen in Europa.
Spätestens mit dem Putsch 2014 in Kiew, den der damalige US-Vizepräsident Joe Biden und die Russenhasserin Victoria Nuland mit fünf Milliarden Dollar finanzierten und organisierten, begann der Krieg in der Ukraine. Auf Drängen der USA wählte das ukrainische Parlament am 27. Februar 2014 den von Victoria Nuland vorgeschlagenen Arsenij Jazenjuk zum Ministerpräsidenten. In seiner Regierung sassen auch drei Minister der rechtsextremen Swoboda-Partei. Deren Vorsitzender Oleh Tjahnybok hatte die Marschrichtung vorgegeben: „Schnappt euch die Gewehre, bekämpft die Russensäue, die Deutschen, die Judenschweine und anderen Unrat.” Am 18. März 2014 annektierte Russland völkerrechtswidrig die Krim.
Das berüchtigte Asow-Regiment terrorisierte danach in zunehmendem Masse die russischsprachige Bevölkerung in der Ostukraine, und das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte berichtete immer wieder über die Gräueltaten dieser Truppe, über Erschießungen, Folter und Vergewaltigungen, also über Kriegsverbrechen, die heute auch der russischen Armee vorgeworfen werden. Und die ARD war noch nicht in die Lügenpropaganda eingebunden und kommentierte in der Tagesschau: „Auch das ukrainische Militär terrorisiert die Zivilbevölkerung. Es trägt den Krieg mit Artilleriefeuer in die Wohn- und Schlafzimmer.” 14.000 Menschen verloren gemäß UNO in den acht Kriegsjahren in der Ostukraine ihr Leben. Im März 2021 unterzeichnete Selenskyj ein Dekret zur Rückeroberung der Krim. In der Folge kam es zu einem massiven ukrainischen Truppenaufmarsch im Südosten des Landes, ab dem 16. Februar 2022 registrierte die OSZE einen starken Anstieg des Artilleriebeschusses des Donbass durch die ukrainische Armee. Am 24. Februar 2022 befahl Putin der russischen Armee den trotz allem völkerrechtswidrigen Einmarsch in die Ukraine, den er als gelernter Informationskrieger als Spezialoperation bezeichnete. Die New York Times räumte zu Beginn des Monats März 2024 ein, dass die CIA seit acht Jahren zwölf Spionagebunker an der ukrainischen Grenze zu Russland vorhält, und Victoria Nuland musste schon 2022 zugeben, dass die USA vom Pentagon finanzierte biologische Forschungslabore in der Ukraine eingerichtet hatten.
Diese von jedem leicht überprüfbaren Entwicklungen und Tatsachen zeigen, dass die Erzählung vom unprovozierten russischen Angriffskrieg eine schamlose Kriegslüge ist. Solange die USA und ihre europäischen Verbündeten daran festhalten, wird es keinen Frieden geben, weil alle diese Lügen einer fairen Berücksichtigung der russischen Sicherheitsinteressen entgegenstehen. Wem die Vorgeschichte des amerikanischen Krieges in der Ukraine gegen Russland zu kompliziert ist, der könnte doch eine simple Tatsache zur Kenntnis nehmen: Es stehen nicht russische Truppen an der Grenze zur USA, sondern US-Truppen an der russischen Grenze. Die Frage, wer der Aggressor ist, wäre dann leichter zu beantworten.
Dass die westlichen Kriegsbefürworter lügen, zeigt auch ihre Sprache. Sprache ist oft verräterisch. Nur der Krieg in der Ukraine ist ein unprovozierter, verbrecherischer „Angriffskrieg”, während die vielen Kriege der USA in Jugoslawien, Afghanistan, Syrien, Libyen, im Irak und die weniger bekannten in vielen anderen Ländern der Welt so gut wie nie Angriffskriege genannt werden. Auch um den alleinigen Schurken zu brandmarken, sind es immer Putins Truppen, Putins Raketen, Putins Flugzeuge, Putins Panzer, Putins Schiffe, Putins Kriegsverbrechen und so weiter, während in den Propagandamedien nie von Bidens Truppen, Bidens Raketen, Bidens Flugzeugen, Bidens Panzern, Bidens Schiffen, Bidens Drohnen oder Bidens Kriegsverbrechen die Rede ist. Und es heisst selbstverständlich nie, Netanjahus Bomben, Netanjahus Flugzeuge oder Netanjahus Panzer hätten den Gazastreifen unbewohnbar gemacht und über 30.000 Palästinenser ermordet.
„Haben Sie Misstrauen”
Und die Zerstörung von Energieversorgungseinrichtungen in der Ukraine ist natürlich ein Kriegsverbrechen, während die vom US-Präsidenten Biden angekündigte Sprengung der zentralen Energieversorgungsleitung Nord Stream durch die USA kein Kriegsverbrechen ist. Und auch wenn es Ukrainer waren, wie deutsche Investigativmedien herausgefunden haben wollen, ist die Zerstörung unserer wichtigsten Gasleitung kein Kriegsverbrechen, und deshalb versorgen wir die Ukraine dankbar und unterwürfig weiterhin mit Waffen und Geld.
Der Starregisseur Werner Herzog hat ein Buch mit dem Titel „Die Zukunft der Wahrheit” vorgelegt. In einem Interview sagte er kürzlich: „Wenn Sie im Politischen genauer hinsehen, dann sehen Sie: Alles, was im Politischen an Berichterstattung vor sich geht, folgt einem bestimmten Narrativ. Und in der Regel hat das Narrativ auch mit Propaganda zu tun. Deswegen rate ich dringend, wenn es um wichtige politische Sachen geht: Schauen Sie auf der Stelle parallele Quellen an [. . .] jeder einzelne von uns ist zur Wachsamkeit aufgerufen [. . .]. Wir können heute im Internet schnell vieles herausfinden durch die divergierenden Meinungen, durch Medien anderer Länder [. . .]. [Haben Sie] Misstrauen, allen gegenüber, viel mehr als früher.” Der letzte Satz seines Buches lautet: „Die Wahrheit hat keine Zukunft, aber Wahrheit hat auch keine Vergangenheit. Wir wollen, wir können, wir werden, wir dürfen die Suche danach nicht aufgeben.”
Täglich erleben wir: Im Krieg ist die Wahrheit immer und überall das erste Opfer. Aber nur, wenn wir die Suche nach der Wahrheit fortsetzen, wenn wir Lügen und Kriegspropaganda entlarven und wahrhaftig bleiben, haben wir eine Chance, den Frieden zu finden.
Titelbild: fran_kie/shutterstock.com