Ganz Russland trauerte am Wochenende um die Toten des Terroraktes vom Freitag. Viele Menschen brachten Blumen und Stofftiere zu spontan errichteten Gedenkstätten. Die russischen Sicherheitskräfte fassten die vier Täter und sieben vermutliche Helfer schon am Sonnabendvormittag. Russische Medien vermuten, dass der Terroranschlag auf die Crocus City Hall, am westlichen Stadtrand von Moskau, von angelsächsischen Geheimdiensten erdacht und unter Mitwirkung von Kiew und islamistischen Zellen in Zentralasien ausgeführt wurde. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.
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Die vier Terroristen, die am Freitag den Anschlag auf die Moskauer Konzerthalle Crocus City Hall verübt hatten (Video), wurden am Sonntagabend im Moskauer Basmani-Gericht vorgeführt (Video). Zahlreiche Journalisten wohnten den Urteilsverkündigungen bei. Die vier Terroristen, vermutlich Tadschiken, bekamen zunächst Haftstrafen von wenigen Monaten. Allen Vier drohen lebenslängliche Haftstrafen wegen der gemeinsamen Ausführung eines Terroraktes.
Im Zuge des Terroraktes in der Crocus City Hall waren am Freitagabend 137 Menschen getötet und 182 verletzt worden. Von den Toten konnten erst 29 namentlich identifiziert werden. Am Sonntag sägten (Video) Mitarbeiter des Katastrophenschutzes noch die zusammengestürzte Metallkonstruktion der ausgebrannten Halle auf der Suche nach Toten auf.
Im russischen Internet waren nach dem Terrorakt Rufe nach der Todesstrafe laut geworden. Die Todesstrafe ist in Russland seit 1996 durch ein Moratorium ausgesetzt. Das war damals die Vorbedingung für die Aufnahme Russlands in den Europarat.
Politiker und Medien versuchen, die Emotionen zu bremsen
Noch am Freitagabend wurde von den russischen Sicherheitskräften nach einem weißen Renault gefahndet. Mit dem Auto sollen die vier Terroristen geflüchtet sein. Das Auto fiel am Sonnabendvormittag 350 Kilometer südwestlich von Moskau Polizisten nahe der Stadt Brjansk auf. Sie brachten das Fahrzeug zum Stehen und verhafteten die Insassen.
Kaum waren die vier Terroristen und sieben ihrer vermutlichen Helfer verhaftet, hielt der russische Präsident Wladimir Putin am Sonnabendmittag eine Fernsehansprache, in der er erklärte, die Terroristen hätten offenbar in die nahegelegene Ukraine flüchten wollen. Kiew habe für die Terroristen einen Übergang auf ukrainisches Territorium vorbereitet.
Die Chefredakteurin von Russia Today, Margerita Simonjan, erklärte am Sonnabend via Telegram, die Organisatoren des Terroraktes seien von ihren Auftraggebern absichtlich so ausgewählt worden, dass man der internationalen Öffentlichkeit erklären könne, dass der Terrorakt vom „Islamischen Staat“ ausgeführt wurde.
RT-Chefin Simonjan veröffentlichte ein Video von einem Verhör eines der verhafteten Terroristen. Der 25 Jahre alte Mann, ein Bürger Tadschikistans, sagte mit zitternder Stimme in gebrochenem Russisch, er sei von dem Assistenten eines Predigers angeworben worden. Er habe den Auftrag erhalten, „Menschen niederzuschießen“. Man habe ihm dafür umgerechnet 10.000 Euro versprochen. 5.000 seien ihm schon auf seine Kreditkarte überwiesen worden. Die Kreditkarte habe er aber verloren. Fotos und Videos von den verhafteten angeblichen Terroristen zeigen, dass sie alle in einem sehr zerschundenen Zustand waren. Auf der Gerichtsverhandlung in Moskau sah man einen der Angeklagten mit einem dicken Verband über dem Ohr. Aufgrund dieses Fotos gab es im russischen Internet Spekulationen darüber, ob die vermutlichen Terroristen nach ihrer Verhaftung von russischen Sicherheitskräften gefoltert wurden. Sollte es zu Folterungen gekommen sein, hätten die Aussagen der Verhafteten nur einen eingeschränkten Wahrheitswert.
Der Gouverneur der Krim, Sergej Aksjonow, erklärte, das Attentat in Moskau gehe auf das Konto des ukrainischen Geheimdienstes, der vom britischen Geheimdienst angeleitet werde. Ein Ziel des Terroranschlages sei es, Russland zu destabilisieren, indem man die Russen gegen die Millionen Arbeitsmigranten aus Zentralasien, die in Russland leben, aufbringt. Dabei versuche man es sich zunutze zu machen, dass es in der russischen Migrationspolitik zahlreiche Probleme gibt.
Tage der Trauer
Sonnabend und Sonntag glich Moskau einer fast menschenleeren Stadt. Wer noch auf den Straßen unterwegs war, ging mit gesenktem Blick. In Moskau und im Moskauer Umland waren alle Veranstaltungen in Konzerthallen und Theatern abgesagt worden.
Doch vor dem Botinskaja-Krankenhaus, wo viele der weit über 100 Verletzten des Massakers vom Freitag liegen, gab es am Sonnabend eine 600 Meter lange Schlange. Hunderte waren gekommen, um Blut zu spenden. 5.000 Menschen seien am Wochenende zum Blutspenden gekommen, berichtete eine Vertreterin des Krankenhauses. Eine Tonne Blut sei gespendet worden.
Vor die ausgebrannte Crocus City Hall kamen am Wochenende viele Menschen, um ihre Anteilnahme zu zeigen. Zu improvisierten Gedenkstellen (Video) brachten sie rote Nelken und Plüschtiere. Rote Kerzenlichter verbreiteten ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Das Wetter war regnerisch, der Himmel grau. Auch der Himmel schien zu trauern.
Blumen, Kraniche und Tränen
Am Sonntagabend fand vor der ausgebrannten Konzerthalle eine Trauerveranstaltung statt. Zu der Veranstaltung kamen auch die vier Musiker der Rockgruppe Piknik, die den Terroranschlag überlebt hatten.
Während aus den Lautsprechern das berühmte Kranich-Lied aus dem Zweiten Weltkrieg zu hören war, flogen auf eine Wand projizierte Kraniche in den Himmel. Die Kraniche symbolisieren die Seelen der im „Großen Vaterländischen Krieg“ gefallenen Sowjetsoldaten. Viele Teilnehmer weinten. Die ersten Zeilen des Kranich-Liedes lauten: „Mir scheint, als ob die Soldaten, von blutigen Feldern nicht kommend, und nicht einst in unseren Boden gesunken, sich jäh in Kraniche verwandelten.“
Im russischen Internet tauchte am Sonntag ein neues Lied des jungen, populären Sängers „Shaman“ auf. Er singt, „Ich glaube nicht, dass es so sein kann, einfach nehmen und brutal töten. Leben wie eine Kerze löschen. Ich glaube es nicht… Diesen Schmerz in der Seele kann man nicht wegnehmen. Aber ich weiß, dass man uns nicht brechen kann. Und wir dürfen nicht mehr zurückweichen. Von nun an ist in jedem Herzen Russlands der 22.03.24.“
Nach dem Terrorakt waren die Russen geschockt. Aber ziemlich schnell hatten sie sich wieder gefasst. Niemand in meiner Umgebung brach in Panik aus. Die Leute blieben ruhig. In den letzten 20 Jahren hat es in Moskau schon häufig Terroranschläge islamistischer Terroristen aus dem Nordkaukasus gegeben.
Ein Überraschungsangriff
Und die großen deutschen Medien? Übergehen konnten sie die Trauer der Russen nicht. Die Tagesschau der ARD kam nicht umhin, dieses Mal einmal ganz normale, trauernde Russen zu zeigen. Es kam sogar eine Moskauer Passantin zu Wort, die sinngemäß sagte, ´weil die Ukrainer uns auf dem Schlachtfeld nicht besiegen können, kommen sie jetzt mit Terroristen´.
Erstaunlich, dass diese Aussage von der Tagesschau-Redaktion nicht „eingeordnet“ wurde, sondern einfach unkommentiert stehenblieb. Hat da jemand in der Chefredaktion geschlafen?
Doch an anderer Stelle wurde in der Tagesschau wie auch in anderen großen deutschen Medien darauf herumgeritten, dass Russland Anfang März aus den USA eine Warnung über in Moskau geplante Terrorakte bekommen hat. Diese Warnungen seien vom Kreml „in den Wind geschlagen“ worden. Beweise für das „in den Wind Schlagen“ wurden nicht genannt. Übrigens hatte die USA den Russen nicht verraten, wo die Terroristen zuschlagen wollten.
Medien: Russland „selbst schuld“
Man wollte es sich nicht nehmen lassen, Russland wieder an den Pranger zu stellen. Die Russen waren also doch nicht Opfer, sondern hatten sich ihren Schlamassel selbst eingebrockt.
Aber warum soll Moskau überhaupt öffentlich erklären, dass man Warnungen aus den USA beherzigt? Ist diese Vorstellung nicht geradezu abenteuerlich? Die USA liefern Waffen, mit denen auf Russen geschossen wird, und verhängen Sanktionen, und Russland soll öffentlich erklären, dass es Terror-Warnungen der USA beherzigt?
Kaltblütige Mörder und Helden
Wie lief der Terrorakt ab? Am Freitagabend – das Konzert hatte noch nicht begonnen – begannen die Terroristen im Foyer der Konzerthalle Menschen niederzuschießen. Augenzeugen berichteten, dass die vier Terroristen dann in den Konzertsaal kamen und dort willkürlich in die Sitzreihen schossen.
Eine Frau erzählte, die Konzertbesucher hätten schnell begriffen, dass man nur eine Überlebenschance hatte, wenn man sich totstellte. Das Ziel der Attentäter sei offensichtlich gewesen, so viele Menschen wie möglich zu töten oder zu verletzen.
Nach den Schüssen hätten die Terroristen mit einer brennbaren Flüssigkeit einen Brand entfacht, sich dann schnell umgezogen und sich anschließend unter die Menschenmenge gemischt. Dann seien die Terroristen mit einem weißen Renault geflüchtet.
Es gab während des Terroranschlags auch Helden, die den Menschen während der Schießerei halfen, den Ausgang aus dem Gebäude zu finden. Die russische Video-Agentur Ruptly veröffentlichte ein Video von Islam Chalilow, einem jungen Kirgisen, der in der Crocus City Hall arbeitete. Der junge Mann warnte Konzertbesucher, die noch nicht wussten, dass scharf geschossen wurde, und zeigte ihnen den Fluchtweg in ein Nachbargebäude.
Verletzte und Tote gab es nicht nur aufgrund von Schüssen, sondern auch durch Rauchvergiftungen. Besonders viele Tote fand man auf einer Toilette, wohin sich viele Menschen geflüchtet hatten. Sie alle starben an Rauchvergiftung.
Die Russen fragen sich natürlich, warum die Crocus City Hall nicht besser gesichert war. Moskau hat doch seit zwanzig Jahren Erfahrungen mit Terrorakten islamistischer Gewalttäter aus dem Nordkaukasus gesammelt.
Viele Kontrollen wurden seitdem eingerichtet. Aber den hundertprozentigen Schutz gibt es offenbar nicht. Die Moskauer U-Bahn-Stationen kann man nur durch Metalldetektoren betreten. Zusätzlich im Eingang der U-Bahn stehen noch Sicherheitsbeamte, welche stichprobenartig die Taschen der U-Bahn-Benutzer kontrollieren.
Die vier Terroristen kamen offenbar in Kampfkleidung in das Foyer der Konzerthalle. Die Wache wurde vermutlich niedergeschossen. Offenbar konnte das Personal der Konzerthalle noch nicht einmal einen Alarmknopf drücken. Und falls sie ihn drückten, kam Hilfe zu spät.
Titelbild: GAlexS/shutterstock.com