Leserbriefe zu „Alle reden vom neuen, bunten Deutschland. War das alte Deutschland etwa grau?“
In diesem Essay bekundet Jens Berger, sich zu fragen, was am heutigen Deutschland so neu, so bunt sein soll. Sein Eindruck sei „vielmehr, dass nicht die Gesellschaft, sondern das Gesellschaftsbild sich vor allem an den Rändern deutlich verändert hat“. Er wolle in einer Welt leben, in der Geschlecht und Herkunft keine Rolle spielen, die sexuelle Orientierung Privatsache sei und in der man sich über Gemeinsamkeiten und nicht über Unterschiede definiere. Nur gemeinsam könne man an den echten Problemen etwas ändern. Wir danken für die interessanten Leserbriefe. Hier nun eine Auswahl. Christian Reimann hat sie für Sie zusammengestellt.
1. Leserbrief
Lieber Jens Berger,
Toll !! Das habe Sie großartig beschrieben, wie ich finde. Genauso ist auch meine Erfahrung, ist auch mein Empfinden, sind auch meine Gedanken.
Danke und alles Gute
A. Gußmann
2. Leserbrief
Sehr geehrte Nachdenkseiten,
ein prima Artikel von Herrn Berger! Besonders gefallen mir die letzten zwei Sätze!
Es stellt sich die Frage: warum wird hier die Gesellschaft mutwillig gespalten? Ist das ein Effekt der Elitenherrschaft und, etwas kondensiert, der notwendige Pfad des Kapitalismus? Wo lernen unsere Herrscher das Ganze? Bei Herrn Schwab, oder Bill Gates?
Auf der Suche nach Antworten ist sicher das Buch von Rainer Mausfeld hilfreich.
Weiter so, liebe Nachdenkseiten, aber es sieht leider nicht gut aus.
Freundliche Grüße, Wolfgang Blendinger
Literatur: Mausfeld, R. (2023) Hybris und Nemesis. Westend-Verlag, 512S.
3. Leserbrief
Lieber Herr Berger,
Sie sprechen mir aus der Seele. Wie soll zueinander kommen, wenn man sich nur über Unterschiede definiert. Das ist das immanente Problem dieser ganzen Debatte. Auch der Hinweis, dass wir bisher eben nicht Indianer völlig faschistisch unterwanderten Gesellschaft gelebt haben und doch eigentlich schon auf einem sehr guten Weg unterwegs waren, sprechen Sie richtigerweise an.
Wieder mal ein herrlicher Artikel von Ihnen, in dem Sie genau auf den Punkt kommen.
vielen Dank
Frank Pilhofer
4. Leserbrief
Lieber Jens Berger,
wieder ein für mich guter Beitrag, der auch einen Nachdenker animiert darüber nachzudenken. Auch ich hatte eine Jugend und danach bis heute ein langes Leben. Schon immer habe ich die Menschen in meinem Umfeld beobachtet und dabei auch die Unterschiedlichkeiten der Menschen gesehen. Nur eines hatten wir nicht, das Internet. Es war also nicht möglich die, teils kruden, Äußerungen in Sekundenschnelle über das Netz zu verbreiten. Aus meiner Sicht wären viele der heute sichtbaren Äußerungen auch schon damals abgesondert worden.
Nun einige Fragen, zu den ich auch gerne Ihre Meinung in dem Artikel gelesen hätte:
- Welchen Anteil haben die Regierenden in Berlin und die Leitmedien seit März 2020 ihrer Spaltung der Gesellschaft in Solidarische und Unsolidarische, in Klimaretter und -leugner, in Kriegsbefürworter und Pazifisten?
- Ist nicht auch das Geschichtsbewusstsein bei den Nutzern äußerst mangelhaft oder überhaupt nicht vorhanden? Bei den Medienprofis scheint mir der Mangel Vorsatz zu sein.
- Ist nicht unsere Demokratie in höchster Gefahr, wenn fast täglich grundgesetzwidrige Meinungseinschränkungen geplant werden und nur die Meinungen in den ÖRR die Wahrheit sind?
Lieber Jens Berger, mir fallen eine große Zahl Gründe ein, die die heutige Meinungsvielfalt bestimmen, aber das führt jetzt zu weit.
Halten Sie und die NDS bitte weiter Kurs, denn hier erfährt der Leser mit Sicherheit, dass es wichtigere Dinge gibt, als die Farbe der Kicker Leibchen.
Ganz herzliche Grüße an die ganze Mannschaft,
Ihr Volker Spuhn
5. Leserbrief
Hallo Herr Berger,
wie immer ein hervorragender Artikel. Da ich einem ähnlichen Jahrgang entsprungen bin, blicke ich genau so verwundert auf die aktuellen Entwicklungen. Früher war alles zu einem geringerem Grad Teil der öffentlichen Meinungsmache.
Das liegt wohl daran, dass die Politik sich auf autokratische oder gar (queer)faschistische Weise steuernd in die Gesellschaft einmischt, und dieser Eifer erfasst auch jene, die sich gar nichts haben zu Schulden kommen lassen. Alles muss sauber durchdefiniert, separiert (geteilt?), behütet und/oder verwaltet werden. Man kennt diese Ansätze, selbst wenn die stets aus irgendeinem Blickwinkel gut gemeint sind auch aus dunkleren Zeiten. Daher habe ich diesen Absatz einleitend etwas drastischer formuliert.
Was wir also wohl beide suchen, ist nichts anderes als die frühere Selbstverständlichkeit oder gar Freiheit, welche dabei immer weiter den Bach runter geht.
Und natürlich, gerade Online geht es schon mal ziemlich rund. Man muss aber auch dazu sagen, dass Politik und Medien dieses Verhalten offenkundig vorleben und geradezu befeuern. Dies muss man halt aushalten, oder die Politik wird sich auch darum verschärft kümmern, bis auch dort „Ordnung“ herrscht.
Mit freundlichen Grüßen
Kai P.
6. Leserbrief
Sehr geehrter Herr Berger !
Es mag Zufall sein, dass ich gerade Neil Postmans “Keine Götter mehr” von 1995 lese – der von Ihnen verwendete Begriff “multikulti” wird dort wie folgt beschrieben: “Multikulturalismus halte ich für eine psychopathische Form des kulturellen Pluralismus”. Er führe zum Ende der Idee einer öffentlichen Schulerziehung, so Postman. Der ebenfalls in Ihrem Artikel auftauchende Begriff “woke” wird hier und heute im Sinne von “aufgewacht, wachsam” verwendet. Also mit anderen Worten: “Deutschland erwache”. Sind wir tatsächlich schon wieder so weit ?
Fragt fassungslos, mit freundlichen Grüßen Harald Schulz
7. Leserbrief
Lieber Jens Berger,
Ihr Artikel hat meinen Nerv ziemlich gut getroffen. Sehr klasse, auch weil Ihre Anekdoten ziemlich deckungsgleich mit den meinen sind. Und wie man der müßigen, aktuellen Kulturkampfdebatte momentan am besten begegnen sollte.
Meine Erfahrung anhand eines Beispiels aus meiner Schulzeit mag ich dem noch hinzu addieren: Als in der dritten Klasse ein farbiger Schüler hinzukam (hellbrauner Teint, also ein Elternteil schwarz, der andere weiß), haben ein paar Schüler damit zuerst gefremdelt gehabt, alleine wegen der Hautfarbe. Ich zugegebenermaßen auch, jedoch mehr aus meinem Denken heraus, dass man mir offenbar zutraute, neue Schüler nebenan zu setzen, dabei war ich allem Neuem gegenüber etwas grantelig eingestellt gewesen. Hautfarbe egal, eher dem Umstand geschuldet, dass ich persönlichkeitsbedingt Schwierigkeiten mit “Neuem” hatte umzugehen. Nur Wochen später und ein paar miteinander gewechselte Worte später wurden wir gute Freunde, besuchten uns regelmäßig.
Später war ich mehr oder weniger bei den Antifa-Leuten unterwegs. Fühlte mich jetzt nicht vollends ihnen zugehörig, aber zumindest verstanden wie akzeptiert und lernte, dass sie in gewisser Weise aufgeschlossen für alle waren. Außer für Nazis (damals noch eindeutig optisch zu identifizieren), aber in der Zeit (Mitte/Ende 90er) warfen Linke in meinem Wirkkreis zumindest nie den ersten Stein, wenn es mal brenzlig wurde. Die “Normalen” nahmen das eher nebenbei zur Kenntnis, wenn sich Rechte und Linke die Köpfe einschlugen; das war ein Randphänomen, auf das man nur reagierte, wenn Unbeteiligte und Material in Mitleidenschaft gezogen wurden. Also völlig anders und vor allem besonnener.
“Egal” – das wäre die für mich einzig richtige Einstellung, und das nicht im rhetorisch schwierigen “Interessiert mich nicht”-Sinne, sondern lieber, wenn man “Ist doch okay” sagt. Nur muss man bestimmte Dinge in diesem Anspruch nach einem Zusammenleben mitdenken: “Egal” ist ja heute auch ein vergifteter Begriff geworden. Und wenn die Deutungsmacht (aktuell linksliberal) autoritär darüber befindet, dass einem heute nicht mal die kleinste, unbedeutendste Banalität “egal” sein darf und das unbedingt politisiert werden müsse, ist der Wunsch nach einem unbeschwerten Zusammenleben hinfällig geworden.
Nicht die Visionen, Ideen und Ideale sind das Gefährliche daran, sondern der Umgang damit. Einerseits das Maßgebliche in den (sozialen) Medien, dieses ständige Plakatieren von Buntheit, Vielfalt, dieser Überhöhung von Dingen, die in unserer Jugend “normal” oder eben “egal” waren. Und wie das unweigerlich zu Trotzreaktionen führt und auch wieder nicht egal ist, weil man über das Stöckchen springt. Und das ideologisch verengt, Angriff und Verteidigung im ständigen Wechsel.
Wenn ich mir die Debatte heute anschaue, scheinen weder die Traditionalisten noch die “Progressiven” gewillt, sich von anderen etwas sagen zu lassen oder sich neuen Situationen zu stellen und diese vorurteilsfrei zu verarbeiten. Stattdessen bewegen wir uns ständig zwischen den Extremen hin und her. Wird eine Entwicklung bedenklich, steuert man extrem dagegen. Alle, die dann differenziert an Dinge gehen, geraten in dieser Dynamik immer wieder unter die Räder. Mit Smartphone und Co. ist das natürlich noch weit schlimmer geworden.
Mit besonnenen Grüßen,
Sascha Wuttke
8. Leserbrief
Lieber Herr Berger,
Sie schreiben:
“Ignorieren Sie einfach diese Debatten, so gut es nur geht.”
Kein Problem, ich mache es wie Onkel Hinnerk. Wir haben noch zusammen seinen 96sten Geburtstag gefeiert. Er war gut drauf und wir, Onkel Hinnerk und ich, haben mit Genuss und nicht wenig, mit einem schweren, dunklen, roten Bordeaux angestoßen. Einer von Hinnerks Sprüchen war: “Lass doch die Nase durch die Erde schimmern, gar nicht um kümmern!”
“Heute definiert man sich „offenbar“ über Unterschiede. Identitätspolitik nennt sich das. Wie soll man aber zueinanderfinden und miteinander harmonieren, wenn man sich über die Unterschiede definiert? Ganz ehrlich, ich verstehe das nicht.”
Vielleicht verstehe ich das ja. Ein Mensch ohne feste, innere Identität (vgl. “Die narzisstische Gesellschaft”, Hans-Joachim Maaz), bastelt sich eine im Äußeren. Und je weniger die mit der Realität zu tun hat, um so unangreifbarer wird sie. Wichtig ist nur, dass man selbst dabei als etwas (scheinbar) Herausragendes, Besseres, Gutes da steht. “Übermensch” oder “Herrenmensch” hat man das vor 90 Jahren genannt. Vor 90 Jahren waren in Deutschland jüdische Menschen und jüdische Kultur nichts Besonderes, aber ein selbstverständlicher und bereichernder Bestandteil Deutschlands. Bis dann die Idioten von damals sich Juden als Gegenüber zum Abreagieren ausgesucht haben. Sie suchen sich immer eine Minderheit. Heute besteht diese Minderheit aus “Querdenkern”, “Coronaleugnern”, “Putinverstehern” oder einfach nur aus Menschen die wissen, dass Kriege führen irre und ein Verbrechen ist.
“Ja, wir befinden uns anscheinend in einem virtuellen Kulturkampf.”
Der Deutsche befindet sich offenbar ständig im Kampf gegen irgend etwas, gegen Fußpilz, “Russische Propaganda”, Diarrhö, “Rechts”, Unkraut im Garten, FC Liverpool und den bösen Nachbarn von Gegenüber. Wenn ich “Kampf” oder “bekämpfen” lese, werde ich inzwischen misstrauisch. Geht es nicht auch friedlich? Der Deutsche (viele) braucht diese “Kampf”, um von seiner inneren Leere abzulenken.
“Ich will in einer Welt leben, in der Geschlecht und Herkunft keine Rolle spielen, die sexuelle Orientierung Privatsache ist und in der man sich über Gemeinsamkeiten und nicht über Unterschiede definiert.”
So sollte es sein. Während des Studiums war mein bester Freund schwul und ich habe es nicht einmal gemerkt (erst später, als ich ihn aus den Augen verloren hatte, an Indizien rekonstruiert).
“Sobald ich ins Netz gehe, ändert sich das jedoch diametral.”
Deshalb gehe ich auch nicht ins Netz. Beschränkt man sich auf echte, reale Freundschaften, dann schrumpft der Freundeskreis natürlich enorm zusammen. Aber dafür sind die Beziehungen dann echt.
Danke für Ihren Bericht über das normale Leben. Ich selbst habe kurz vor dem Abitur noch die 68er mitbekommen und mich schon damals über ideologisierte Weltbilder gewundert. Für die “Bürgerlichen” war ich ein Kommunist und die Linken schimpften mich einen “liberalen Sch…”. In Deutschland muss man wissen, mit wem man marschiert. Ein eigener Weg erweckt Misstrauen. Dabei gehört “eigener Weg” zur natürlichen Entwicklung, alles andere ist pathologisch.
Herzlichen Gruß,
Rolf Henze
9. Leserbrief
Sehr geehrtes Team der NachDenkSeiten,
anbei eine Anmerkung zu Herrn Bergers “Alle reden vom neuen, bunten Deutschland. War das alte Deutschland etwa grau?”, vom 18. März 2024.
Ich könnte nun mit der Frage einleiten, an welcher Stelle genau, sich die gender und diversity Kämpen mit ihrem autoritären Ablenkgewitter, mit Recht als links bezeichnen könnten? Aber das hebe ich mir für die nächsten zehn Gelegenheiten dieses Dauerbrenners der politischen Orientierungslosigkeit auf.
Statt dessen verweise ich auf Caitlin Johnstone, die den Punkt trifft:
Erscheint es Ihnen nicht seltsam, dass die eine Hälfte der herrschenden Klasse die Hälfte der Bevölkerung dazu gebracht hat, sich auf Identitätspolitik zu fixieren, während die andere Hälfte die Hälfte der Bevölkerung zunehmend in Panik über “Wokeness” versetzt hat? Erscheint es Ihnen nicht ein wenig zu bequem, dass alle Politiker des rechten Mainstreams den Anti-Wokeismus zu einem Hauptbestandteil ihrer Programme machen, dass alle Experten des rechten Mainstreams alles tun, was sie können, um ihr Publikum noch mehr in Panik darüber zu versetzen, wie “woke” alles wird, und dass Elon Musk über den “Virus des woken Geistes” spricht, und zwar auf genau die gleiche Weise, wie liberalere Oligarchen für soziale Gerechtigkeit eintreten?
Das liegt daran, dass sowohl der Anti-Wokeismus als auch die Identitätspolitik denselben Zielen des Establishments dienen, und zwar ganz bewusst. Je mehr die Menschen auf den Mainstream-Kulturkrieg fixiert sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie sich dazu entschließen, Dinge zu tun wie dem Pentagon die Finanzierung zu entziehen oder alles zurückzunehmen, was die Reichen ihnen gestohlen haben. Die Zeit, die man damit verbringt, die andere Seite der kulturellen Kluft anzuschreien, ist Zeit, die man nicht damit verbringt, seinen Vermieter zu essen, wie Gott und die Natur es vorgesehen haben.
Aus:
The Ruling Class Promotes Identity Politics And ‘Anti-Wokeism’ For The
Exact Same Reasons
Mit freundlichen Grüßen
Mike Holstein
10. Leserbrief
Sehr geehrter Herr Berger,
zu Ihrem Beitrag auf den Nachdenkseiten: „Alle reden vom neuen, bunten Deutschland. War das alte Deutschland etwa grau?“ meine persönliche Erfahrung.
Sie sind Jahrgang 1972 (wie meine Frau), ich bin Jahrgang 1966, also nicht SO weit auseinander. Schauplatz ab 1970 ist eine Großstadt im nördlichen Ruhrgebiet, ab 1991 eine Nachbarstadt.
In der Grundschule war ich in einer komplett biodeutschen Klasse. Die ersten „Gastarbeiter“-Kinder kamen in die 1. Klasse, da war ich in der 4. Aus dieser Zeit stammt eines meiner definierenden oder auch prägenden Erlebnisse: die Rektorin kam eines Tages in die Klasse, fragte wer Volker X. ist, packte ihn am Ohr und stauchte ihn vor versammelter Klasse zusammen: So, kleine Türkenjungen verprügeln, das kannst Du? Weißt Du, daß der kleine XY drei große Brüder hat? Was machst Du, wenn der die holt?
Ich weiß nicht, ob sie das beabsichtigt hatte, aber bei mir – 10 Jahre alt, Einzelkind! – kam an: Halt Dich fern von diesem Volk, die sind viele, und Du bist allein, wenn es drauf ankommt!
Auf dem Gymnasium war ich fast bis zur Oberstufe wiederum in einer komplett biodeutschen Klasse, in der 10. kam ein Österreicher hinzu, in der Oberstufe hatten wir dann 1 Halb-Italiener. Den hätten wir diskriminieren können, aber auf eigene Gefahr, denn der war 1,90 Meter groß und (gefühlt!) genau so breit, eine Seele von Mensch, und hatte keinen größeren Wunsch als mal bei der Bundeswehr(!) einen Panzer zu fahren. Schwule, Lesben…über ein paar Leute wurde hier und da mal geredet, aber niemand hat sich geoutet, und aus meiner Sicht hat niemandem was gefehlt. Mir jedenfalls nicht.
Nach der Schule bin in den Vorbereitungsdienst für den gehobenen kommunalen Beamtendienst eingetreten. Also auch hier ein komplett biodeutsches Umfeld. Da bin ich vor ca. 15 Jahren beruflich mit dem ersten „bunten“ zusammengetroffen, Sohn oder Enkel palästinensischer Einwanderer, der hatte eine Nase wie aus einer „Stürmer“-Judenkarikatur, und sprach akzentfrei genau den gleichen Ruhrpott-Slang, den auch ich sprechen kann, wenn mir danach ist. „Bunt“? Wirklich?
Ich bin also in einem fast komplett kulturell-/bio-deutschen Umfeld aufgewachsen, habe/hatte nur kulturell-/bio-deutsche Freunde und Umgang, alle (meines Wissens) hetero, und ganz ehrlich: ich habe nichts vermißt und vermisse nichts. Ich habe – inzwischen – geschäftliche Beziehungen zu „bunten“. Meine türkisch-deutsche Friseurin mit deutschem Meisterbrief, die fast akzentfrei Deutsch spricht. Meinen Umzugsunternehmer vor ein paar Jahren, der das Schnörkel-C in seinem Namen durch ein „sch“ ersetzt und gar keinen Akzent hat. Meinen Gebrauchtwagenhändler vor einigen Jahren, der mir für einen klasse Kurs ein gutes Auto verkauft hat, das ich immer noch fahre.
Also Leute, die aus meiner Sicht eigentlich nicht „bunt“ sind, weil sie sich bemüht haben, sich zu „integrieren“, und das auch geschafft haben.
„Integration“? „Bunt“? Reden wir darüber – meine Großeltern sind vor ca. 100 Jahren, in den 1920ern in den Ruhrpott gekommen – aus Westpreußen, also Polen. Die konnten noch polnisch fluchen! Warum sind sie gekommen? Mein Großvater konnte lesen und schreiben, und hatte Schmied gelernt. Aber das, was sein polnisches Kuhkaff einem Schmied bieten konnte, hat ihm nicht gereicht. Er wollte mehr. (Das „mehr“ waren dann 40 Jahre unter Tage „vor Kohle“, ein „Zechenhaus“ und 75% Steinstaublunge mit Mitte 50.). Also genau die gleichen Gründe, warum auch die „Gastarbeiter“ nach Deutschland gekommen sind:
Weil ihr Land ihnen nichts zu bieten hatte!
Der Unterschied? Bei der Einbürgerung mußten meine Großeltern erst mal das „sz“ und „ie“ und „cz“ im Namen meines Großvaters gegen ein „ß“ und „i“ und „tz“ eintauschen. Meine Großeltern haben so schnell wie möglich Deutsch gelernt, so daß meine Mutter Deutsch als Muttersprache hatte, und nicht erst als Fremdsprache in der Schule lernen mußte. Und sie nannten sie nicht „Danuta“ oder „Elszpieta“ oder „Malgorzsata“, sondern „Helene“. Und sie mußte auch nicht mit 16 den Cousin aus dem polnischen Heimatdorf heiraten, sondern hat in den Ferien einen Ur-Biodeutschen jungen Mann getroffen, den sie mit 21 heiraten durfte, ohne daß das eine „Schande“ für die „Familienehre“ darstellte. Meine Mutter hatte keinen Akzent, ich habe Deutsch so gut gelernt, daß mein Lateinlehrer mal sagte, ich hätte einen großen Vorteil dadurch, daß ich so gut Deutsch spreche, weil nur jemand, der seine eigene Sprache gut beherrscht, jemals eine Fremdsprache gut beherrschen kann.
Tatsächlich habe ich mich dann beim Einstellungstest für den Beamtendienst durchgesetzt – 3 Stufen, 1. Stufe: 3 Stunden, 1 Stunde Diktat(!), 1 Stunde Aufsatz(!!), 1 Stunde Rechnen, 2. Stufe: 2 Stunden Logiktest, ¾ Stunde Diskussion(!) in der Gruppe(!!), 3. Stufe: Vorstellungsgespräch(!), insgesamt gegen eine 3-stellige Konkurrenz! (1966 war noch ein „geburtenstarker“ Jahrgang.). Jetzt bin ich schon seit über 10 Jahren Beamter mit A13 (Endstufe des gehobenen Dienstes, Verwaltungsrat). Wenn das der Schmied/Bergmann und seine Frau sehen könnten!
Was will ich damit sagen? Das halbe Ruhrgebiet hat polnischen Wurzel, da muß man sich nur die Namen angucken. Wo sind denn da die „Bunten“? Zeigen Sie mir Stadtteile im Ruhrgebiet, wo sie zuhause in der 3. und 4. Generation noch polnisch sprechen und die Kinder „Dariusz“ oder „Katarzyna“ nennen! Gibt es nicht. Weil diese Einwanderer nicht „bunt“, sondern möglichst schnell deutsch und unauffällig werden wollten. Das Gegenteil von „bunt“. Und die Geschichte meiner Großeltern/Mutter ist exakt die Geschichte meiner jetzigen Frau: ihre Großeltern kamen mit ihrem Vater als Teenager Mitte der 50er aus Polen nach Deutschland, lernten und sprachen nur noch Deutsch, er nahm sich dann eine Biodeutsche Frau (von der Mosel!) und bekam 3 Töchter, die akzentfrei Deutsch sprechen und gute Berufe haben.
Man kann sich alles schönreden. Man kann Ablehnung und Verachtung der eigenen Tradition, Kultur, Lebensweise, Sprache und die daraus resultierende Integrationsverweigerung als „Bunt“ euphemisieren. Man sagt ja auch nicht mehr „Müllhalde“, man sagt „Entsorgungspark“. Man kann es „bunt“ finden, wenn der türkische Hochzeitskorso in dicken, mit türkischen Fahnen geschmückten Autos hupend durch die Stadt fährt. Ich finde aber, daß es genau so legitim ist, sich zu wünschen, sie aus ihren Autos zu ziehen und anzuschreien:
„Ihr verblödeten $%&§$!“$%“! Warum sind Eure (Ur-)Großeltern nach Deutschland gekommen? Weil die Türkei Menschen ihrer sozialen Schicht und Bildung nichts zu bieten und keinerlei INTERESSE an ihnen hatte, genauso wenig wie Polen bei meinen Großeltern! Alles, was Ihr heute seid oder habt, seid und habt Ihr, weil Deutschland Euren Vorfahren eine Chance gegeben hat! Wenn Eure Vorfahren nicht nach Deutschland hätten kommen dürfen, würdet Ihr heute nicht im dicken Auto durch die Stadt fahren, sondern an der Grenze zum Iran ZIEGEN hüten!“
Mit unbunten Grüßen
Jörg K.
Anmerkung zur Korrespondenz mit den NachDenkSeiten
Die NachDenkSeiten freuen sich über Ihre Zuschriften, am besten in einer angemessenen Länge und mit einem eindeutigen Betreff.
Es gibt die folgenden E-Mail-Adressen:
- leserbriefe(at)nachdenkseiten.de für Kommentare zum Inhalt von Beiträgen.
- hinweise(at)nachdenkseiten.de wenn Sie Links zu Beiträgen in anderen Medien haben.
- videohinweise(at)nachdenkseiten.de für die Verlinkung von interessanten Videos.
- redaktion(at)nachdenkseiten.de für Organisatorisches und Fragen an die Redaktion.
Weitere Details zu diesem Thema finden Sie in unserer „Gebrauchsanleitung“.