Buchkritik – Jürgen Roths Deutschland Clan
Ein Buch, das ziemlich willkürlich zahllose politische, wirtschaftskriminelle und Justizskandale und Skandälchen aneinander reiht und moralische Empörung über den „schleichenden Niedergang der demokratischen Kultur“ auslösen will. Welche Art der Politik und welche wirtschaftlichen und politischen Interessen dabei im Spiel sind – also das eigentlich Spannende – bleibt blass, ist aufgesetzt oder nachgeschoben. Das Buch moralisiert, aber es ist letztlich unpolitisch.
„Deutschland heute – das ist ein engmaschiges Netzwerk aus hochrangigen Politikern, führenden Konzernchefs und toleranten Justizbehörden, die systematisch und übergreifend mit kriminellen Methoden den Rechtsstaat aushöhlen, Gemeinsinn durch puren Egoismus und Gesetze durch die Macht des Kapitals ersetzen.“ Wer den Klappentext von Jürgen Roths „Der Deutschland Clan“ ernst nimmt, wird, wenn er das Buch liest, enttäuscht.
Es ist ein Buch in dem wie in einer Boulevardzeitung einzelne Skandale und Skandälchen aneinandergereiht und angeprangert werden, die beim Leser Abscheu und Empörung hervorzurufen sollen. In einer fleißigen Presseauswertung wird eine Vielzahl von Politikern ganz unterschiedlichen Kalibers abgehandelt, die teils berechtigt, teils weniger berechtigt in die Schlagzeilen geraten sind. Es werden Vorwürfe aus Ermittlungsverfahren oder Prozessen aufgelistet oder es wird aus parlamentarischen Untersuchungsausschüssen berichtet, Gerüchte über korruptes Verhalten kolportiert, an Gerichtsverfahren beteiligte Kläger oder deren Anwälte oder anonym bleibende „Wirtschaftskriminalisten“ zitiert, die meist Betroffene oder Partei sind.
Roth stützt sich offensichtlich wie z.B. bei dem Preussag Stahl AG–Deal zwischen WestLB und der österreichischen Voest-Alpine Stahl AG auf Informanten, wie das ehemalige Preussag-Vorstandsmitglied Hans-Joachim Selenz, der nach seiner Abberufung mit dem Chef der WestLB, Friedel Neuber und mit der angeblich von der WestLB „gehaltenen“ Landesregierung Nordrhein-Westfalens oder mit seinen niedersächsischen politischen Intimfeinden Gerhard Schröder und Sigmar Gabriel noch einige „offene Rechnungen“ zu begleichen hat.
Bei Roths Attacken etwa gegen den mecklenburg-vorpommerischen CDU-Politiker Eckhardt Rehberg stützt er sich auf dessen parteininterne Gegenspieler. Bei seiner Kritik an der auffallend bankenfreundlichen Urteilspraxis des XI. Zivilsenates des Bundesgerichtshofs und der Bankennähe seines Vorsitzenden Richters bezieht er sich auf einen Anwalt, der offensichtlich mit diesem Richter eine Fehde austrägt.
Damit soll gar nicht gesagt werden, dass die jeweils Betroffenen oder schlecht Behandelten mit ihren Vorwürfen in der Sache völlig falsch liegen, Roth setzt sich jedoch dadurch, dass er für sie so einseitig Partei ergreift, dem Eindruck aus, als mache er sich selbst zum Werkzeug von Rankünen.
Roth wirbelt die Skandale und Skandälchen wild durcheinander. Der Text ist durchgängig geschrieben wie ein typischer SPIEGEL-Artikel, mit vielen Zitaten von irgendwelchen Beteiligten, einer unendlichen Reihe von Gerichtshändeln, bei denen oft unklar bleibt, ob die Beklagten oder die Kläger die „Schurken“ sind. Es ist oft nur ein Gemisch aus Munkeln, Gerüchten vom Hörensagen über Ungereimtheiten bei staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, über das Freibeuterwesen von Finanzhaien oder Einigungsgewinnlern, über kriminelle oder einfach nur raffgierige Anleger im Osten Deutschlands oder über die Leichtgläubigkeit oder die korrupte Energie von Kommunalpolitikern insbesondere in den Neuen Ländern, die den Förderdschungel missbraucht haben. Bei der Vielzahl der Beteiligten und den teilweise obskuren Sachverhalten hat man oft Mühe zu erkennen, worum es eigentlich geht.
Die anrüchigen Geschichten reichen von einem angeblich paranoiden Oberstaatsanwalt in Neubrandenburg, über den „Berliner Bankenskandal“, den dubiosen Fondsgeschäften der sog. Affäre Phoenix, dem Flow Tex-Wirtschaftskrimi in Baden-Württemberg, der Zwick-Steueraffäre und der bayerischen Gschaftelhuberei, betrügerischen Anlagegeschäften in den Neuen Ländern, bis hin zu einer von dem ehemaligen Kommunikationsberater Hunzinger bezahlten Umfrage, die dem baden-württembergischen Wirtschaftsminister Walter Döring zwar kein Geld, aber das Amt kostete. Roth geht Affären von Mecklenburg-Vorpommern, über Nordrhein-Westfalen, Hessen, Baden-Württemberg und natürlich Bayern quer durchs Land durch. Die hessische Geldspendenaffäre mit den angeblich jüdischen Vermächtnissen, bei der der ehemalige Innenminister Manfred Kanther einer der Akteure war, wird gestreift. Kein Wort aber über die Rolle des „brutalstmöglichen“ Aufklärers, dem amtierenden hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch. Der noch größere Skandal um Bundeskanzler Helmut Kohl, der mit seinem „Ehrenwort“ das Parteiengesetz aushebelte, bleibt außen vor, auch nichts darüber, dass Kohl für seine Patronage für den Medienmogul Kirch nach seiner Amtszeit auf dessen Payroll stand. Warum kein Wort zu Wolfgang Schäuble, dem eine Spendenaffäre das Amt des CDU-Bundesvorsitzenden kostet? Warum nichts über den wegen Steuerhinterziehung verurteilten ehemaligen Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, nichts über die „Briefkopfaffäre“ von Jürgen Möllemann?
Sicher, man kann nicht nach allen Fliegen schlagen, aber was fehlt, ist zumindest eine Gewichtung der angeprangerten Vorgänge, und, was ich vor allem vermisse, es fehlt eine politische Einordnung.
So vermag Roth z.B. nicht einzuordnen, dass die sog. WestLB-Flugaffäre des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau bei aller berechtigten Kritik am Abrechnungsgebaren der Landesbank, ein vom damaligen Generalsekretär der CDU, Laurenz Meyer, initiiertes Ablenkungsmanöver war, um den durch das Verschweigen von illegalen Parteispendern schwer unter Druck geratenen damaligen Kanzler Kohl aus dem Schussfeld zu nehmen. Die Taktik war doch damals: Haust Du meinen Kanzler, haue ich Deinen Bundespräsidenten.
Die Empörung Roths ist in den meisten geschilderten Fällen durchaus berechtigt, doch das Buch bleibt an der Oberfläche, es beschreibt korruptes Verhalten nur und analysiert nicht die politischen Hintergründe. Das Buch moralisiert, aber es ist letztlich unpolitisch. Denn zur Korruption gehören immer zwei Seiten, die Bestochenen aber auch immer die Bestechenden, also diejenigen, die bestimmte Interessen verfolgen und die Korrumpierten, die diesen Interessen nachgeben. Die politischen oder wirtschaftlichen Hintergründe der Skandale etwa im Zusammenhang mit den Public Private Partnerships oder bei der Veräußerung von kommunalen Immobilien werden ausgeblendet oder allenfalls zaghaft und meist unabgeleitet auf abstrakter Ebene eingeführt. So etwa: „Weil eine ernsthafte Bekämpfung von Organisierter Wirtschaftskriminalität bestimmten (welchen eigentlich? (WL)) Interessen der politischen und wirtschaftlichen Elite Deutschlands in die Quere käme …“ (S. 99). Den Verantwortlichen der Berliner Bankenpleite hält Roth pauschal vor: „All jene, die direkt oder indirekt in den Berliner Bankenskandal verwickelt sind, gehören übrigens zur Kampftruppe derjenigen, die sich für eine neoliberale Wirtschafsordnung einsetzen und die Arbeitnehmer mit Phrasen einlullen, dass Leistung und Arbeit sich wieder lohnen müssen, die von Verteilungsgerechtigkeit und sozialer Marktwirtschaft schwadronieren.“ (S. 112)
Roth attackiert die „Bankrotteure, Finanzhaie und Gaunerkartelle“, die sich „für eine neoliberale Wirtschaftsordnung einsetzen“, aber nicht die politischen Strukturen, die solche Machenschaften ermöglichen und befördern. Welche Art der Politik, und welche wirtschaftlichen und politischen Interessen dabei im Spiel waren – also das eigentlich Spannende – bleibt blass, ist aufgesetzt oder nachgeschoben.
Ganz typisch ist das Kapitel über Gasprom und die Rolle von Altkanzler Schröder als Aufsichtsrat der Ostsee-Pipelinegesellschaft. Roth geht es nicht um die Frage, wie wirtschaftliche Interessen die Politik Gerhard Schröders etwa auch am Beispiel des Baus der Pipeline bestimmt haben, ihn interessiert auch nicht der Verdacht, ob Schröder mit seinem wohldotierten Posten die „Dividende“ für seine vorausgegangenen politischen Entscheidungen einfährt. Nein, tatsächlich gehe es „um in jeder Beziehung skrupellose Netzwerke, in denen im besten Fall gutmeinende Machtmenschen wie Gerhard Schröder sich mit politischen und wirtschaftlichen Kräften einlassen, die eine bedenkliche Geschichte haben.“ (S. 189). Nicht das Politikum steht im Vordergrund, sondern ein – fast bedauernswerter – Altkanzler wird geradezu zum Opfer einer russisch-turkmenisch-ukrainischen Mafia-Connection.
In diesem letzten Kapitel des Buches wird aus einer endlosen Kette von Beziehungsgeflechten zwischen unterschiedlichsten Personen, dubiosen russischen Firmen und deutschen Banken, Vermutungen, Indizien, Verdächtigungen, Spekulationen und anonymen Zeugen eine Art Mafia-Krimi, in dem Wladimir Putin einer der Hauptdrahtzieher sein soll.
Es ist leider nur ein schlechter Krimi, und zwar deshalb, weil beliebig viele Akteure auftreten, deren Beziehungen untereinander teils konstruiert, teils an den Haaren herbeigezogen scheinen. Ein Netzwerk mit unendlich vielen Knotenpunkten und zahllosen giftigen Spinnen, dem wohl kaum ein Leser mehr folgen kann. Ab einem gewissen Punkt werden die Konstrukte so weit hergeholt, dass man sie kaum noch ernst nehmen kann. Oh hätte Roth nur an einem einzigen Fall für Putins kriminelle Machenschaften einen plausiblen Nachweis geführt, so wäre das überzeugender gewesen.
Die Perspektiven des Autors sind die kriminellen oder wenigstens unmoralische Vorgänge, in die Politiker hineingezogen werden (oder sogar aktiv mitwirken), nicht aber das Politikum, das dahinter steht, nämlich dass – wie im Falle Gasprom – sich ein sozialdemokratischer Politiker durch seine wirtschaftsfreundliche Politik und seine politischen Vergünstigungen an Konzerne und Banken und gegenüber ausländischen Staaten und ihren „Staatsmännern“ für solche halbseidenen Geschäfte attraktiv gemacht hat.
Politisch gibt sich das Buch nur in der Einleitung und auf den letzten fünf Seiten des Nachwortes. Dort versucht Jürgen Roth die von ihm beschriebene „unbeschreibliche Verwahrlosung der politischen Landschaft auf allen Ebenen“ (S. 233) auf eine Gesamtschau zu heben. „Die Lüge, eigentlich ein moralischer Begriff, (wurde) zur politischen Allzweckwaffe, um die realen Seilschaften und Machtverhältnisse in diesem Land zu verschleiern.“ (S. 10) stellt Roth seinem Buch voran.
Er resümiert am Schluss, dass die von ihm in seinem Buch beschriebenen Skandale keine Einzellfälle seien, „sondern dass sich dahinter eine Struktur, ein System erkennen lässt.“ (S. 235) Und zwar: „Ein gesellschaftliches System, in dem an die Stelle von sozialer Verantwortung der politischen und wirtschaftlichen Eliten gegenüber großen Teilen der Bevölkerung eine dubiose Verherrlichung von Globalisierung und Neoliberalismus getreten ist – diese Ideologie verbindet und eint die Mitglieder des Deutschland-Clans.“ (S. 235)
Selbst wenn man diesem Urteil zustimmen wollte, es bleibt ein moralisches Urteil. Die Skandale und Affären die Roth aneinanderreiht, bieten keine Analyse der Mechanismen wie das System funktioniert, sie beschreiben allenfalls die Spitze des Eisbergs. Dass zum vorherrschenden Marktradikalismus als gesellschaftlichem Prinzip eben das Recht des Stärkeren, der brutale Einsatz des Ellbogens und der hemmungslose Eigennutz gehört und letztlich Korruption und mafiosen Strukturen das Feld bereiten, wird in diesem Buch genauso wenig dargestellt, wie die Agenturen und Lobbyisten, von den Wirtschaftsverbänden über die Bertelsmann Stiftung bis zur „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, die die Politik und die Politiker und das öffentliche Bewusstsein mit ihrer „Verherrlichung von Globalisierung und Neoliberalismus“ korrumpieren. Sind nicht diese mächtigen Interessenverbände viel eher die „Patrones“ des Deutschland-Clans als die kriminellen oder auch nur naiven oder unfähigen Handlanger, die das Buch abhandelt? Roth hängt die Kleinen und lässt die Großen, die die Fäden ziehen, laufen. Nach Namen wie Reinhard Mohn und seiner Bertelsmann Stiftung, nach den Miegels, Sinns oder Hundts und vielen anderen Stichwortgebern und Wegbereitern für „ein gesellschaftliches System, in dem an die Stelle von sozialer Verantwortung… eine dubiose Verherrlichung von Globalisierung und Neoliberalismus getreten ist“, sucht man in Roths Buch vergebens.
Selbstredend sind die unmoralischen und oft auch kriminellen Machenschaften, die Jürgen Roth beschreibt, zu verurteilen, aber wer dagegen ankämpfen will, muss – zumindest auch – die Ursachen für das Entstehen des Deutschland-Clans bekämpfen. „Whistleblowers“ (Menschen die geheime Machenschaften aufdecken), Bürger- und Menschenrechtsorganisationen, wie „Business Crime Control“, die „Neue Richtervereinigung“, „ATTAC“, „BUND“ oder „Greenpeace“, in die Jürgen Roth seine Hoffnung setzt, sind sicherlich hoch verdienstvolle Bewegungen, sie würden jedoch gegen Windmühlenflügel ankämpfen, wenn sie – wie Jürgen Roth – nur gegen die unmoralischen Auswüchse von Einzelpersonen oder Institutionen angingen und nicht politisch gegen die mächtigen Interessen, die hinter der „Lüge“ als „politischer Allzweckwaffe“ stehen.
Allerdings: Ich werde das Buch dennoch in meinen Bücherschrank stellen, und zwar als Nachschlagewerk für viele Polit-Skandale und ihre Beteiligten, die man doch leider all zu schnell wieder vergisst, weil sie immer zahlreicher werden.
Jürgen Roth, Der Deutschland-Clan, Das skrupellose Netzwerk aus Politikern, Top-Managern und Justiz, Eichborn, Frankfurt a.M., Mai 2006