Dass mein Artikel zu den neuen Trikots der Nationalmannschaft einige Leute triggern würde, war vorauszusehen. Erstaunt war ich jedoch, dass sowohl viele Kritiker als auch viele Gratulanten den Text – wenn überhaupt – nur oberflächlich gelesen haben. Bei den Reaktionen war oft von einem „neuen bunten Deutschland“ die Rede, das sich angeblich in den Trikots widerspiegele. Die Kritiker meines Artikels – meist aus dem linksliberalen Milieu – finden das ganz prima und sehen in mir nun einen reaktionären Ewiggestrigen. Einige Gratulanten – oft aus dem rechtskonservativen Milieu – finden das ganz fürchterlich und lobten mich für den Widerstand, den ich dieser Entwicklung entgegensetze. Mit Verlaub, beide Seiten haben zumindest für mich Unrecht. Persönlich frage ich mich vielmehr, inwiefern sich dieses „neue bunte Deutschland“ von der Gesellschaft unterscheiden soll, in der ich seit über 50 Jahren – und das sehr zufrieden – lebe. Mein Eindruck ist vielmehr, dass nicht die Gesellschaft, sondern das Gesellschaftsbild sich vor allem an den Rändern deutlich verändert hat. Ein Essay von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Was soll eigentlich am heutigen Deutschland so neu, so bunt sein? Meine Eltern kommen beide aus dem Ruhrpott, wo damals jeder Zweite Koslowksi oder Schibulski hieß. Sie hatten selbst einen Migrationshintergrund. Einer meiner Großväter war ein Arbeitsmigrant aus dem damals strukturschwachen Niedersachsen, meine Großmutter Kriegsflüchtling aus Danzig. Die anderen beiden Großeltern waren Kriegsflüchtlinge aus Schlesien. Geht man noch weiter zurück, habe ich einen russischen Urgroßvater, eine dänische Urgroßmutter und zumindest von den Familiennamen her, müssen bei meiner schlesischen Großmutter auch polnische Ahnen mit in der Familie gewesen sein. Wenn ich als Kind bei meinen Großeltern war, gab es schlesische Spezialitäten, die Männer trafen sich in Gesangsvereinen, in denen die Kultur ihrer Herkunftsregionen gepflegt wurde. Bei meinen Eltern gab es dann Coca Cola, Spaghetti, Pizza und was sonst noch Kinderherzen höher schlagen lässt. Auf der Hochzeit meiner Eltern waren Freunde aller Kulturen und Hautfarben zu Gast – mein Vater war damals Fußballer; Fußball verbindet. Heute würde man das wohl als multikulti bezeichnen. Das Klischee-Deutschland mit Gartenzwergen, Eisbein und Sauerkraut? Ich habe es nie erlebt.
Als ich dann älter wurde und in die Schule ging, kamen meine Mitschüler und Freunde aus aller Herren Länder. Obwohl, das ist natürlich falsch formuliert. Ihre Eltern kamen aus aller Herren Länder, sie kamen aus unserer Kleinstadt. Meist hatten sie türkische, italienische oder jugoslawische Wurzeln. Ihre Eltern kamen als – wie man es damals noch nannte – Gastarbeiter ins Land. Für uns hat das keinen Unterschied gemacht. Im Fußballverein kamen sich auch die Eltern näher – ich werde nie die leckeren Snacks vergessen, die die Mutter eines türkischen Freunds der ganzen Mannschaft immer bei Auswärtsspielen mit auf den Weg gab. Zusammen schauten wir uns dann auch oft die Spiele „unserer“(!) Nationalmannschaft an. War das damals etwas Besonderes? Ach was. Wir waren in den 1980ern und da war das vollkommen normal. Natürlich war nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. So kann ich mich noch an einen grantelnden Rentner erinnern, der am Spielfeldrand über „den Kümmeltürken“ schimpfte, der seiner Meinung nach ein schlechtes Spiel bot. Unser Trainer – ein Kriegsversehrter, den Granatensplitter das Gesicht verunstaltet hatten – jagte den rechten Schreihals vom Platz. Heute hätte man ihn für sein „zivilgesellschaftliches Engagement“ ausgezeichnet; damals war das normal. Wir waren bunt und vielfältig und wussten es noch nicht einmal.
Als ich dann älter wurde, ersetzten andere Dinge, die man als junger Mann zwischen Kindheit und Erwachsenwerden halt so macht, den Fußball. Ich machte zusammen mit meinen Mitschülern mit multinationalen Wurzeln Abitur und ging dann zur Uni, wo die Mischung noch bunter war, ohne dass das für einen selbst eine Rolle spielte. Nun kamen auch die Geschlechterfragen, die heute offenbar so ungemein wichtig sind, hinzu. Wichtig waren die damals aber nicht. Der eine war hetero, der andere schwul. So war das halt. Völlig normal. Mal traf man sich am Samstagabend in „normalen“ Kneipen und Clubs, mal ging man zusammen in „Gay Clubs“ – auch ich als „blonde Hete“, wie ich von einem schwulen Freund immer scherzhaft genannt wurde, ging dort gerne hin, weil die Musik ganz nach meinem Geschmack war und dort interessante Frauen waren, die gerne dort hinkamen, weil sie hier nicht „dumm angemacht“ wurden.
Im Alltagsleben spielte die „sexuelle Orientierung“ aber keine Rolle. Es war vollkommen egal, ob man „straight“ oder schwul war und das galt nicht nur für das Uni-Umfeld. Zum engen Freundeskreis meiner Eltern gehört seit Jahrzehnten ein lesbisches Pärchen, ein Geschäftspartner meines Vaters hieß irgendwann nicht mehr Wolfgang, sondern Tanja. So what? Damals – wir hatten nun die 90er – krähte kein Hahn danach. Ja, es gab damals auch immer mehr „Skinheads“ und Nazis. Das war aber für uns stets ein Randphänomen, das mit unserem Leben nichts zu tun hatte. Diese Nazis waren auch schon immer – sorry – „scheiße im Kopf“, aber wir – die wir uns als links oder linksliberal definierten – wären damals auch niemals auf die Idee gekommen, unsere Gegenwart als „neu“, „bunt“ oder „multi-irgendwas“ zu bezeichnen. Wir wären auch nie auf die Idee gekommen, uns über unsere sexuellen Vorlieben oder unsere Hautfarbe zu definieren. Rückblickend war diese Zeit schon fast erschreckend normal.
Doch auch heute hat sich für mich – zumindest gefühlt – nicht viel verändert. Der beste Freund meines Sohnes hat türkische Wurzeln, seine stets wechselnden Freundinnen kommen von allen Kontinenten – ok, bis auf Australien. Welche Hautfarbe mein irgendwann sicher kommendes Enkelkind haben wird, ist mir herzlich egal. Viele Freunde und Personen aus meinem beruflichen und privaten Umfeld sind schwul. Und noch immer empfinde ich das nicht als „neu“ oder „bunt“ – es war zumindest in den letzten 50 Jahren ja immer so.
Was jedoch tatsächlich neu ist, sind die elenden Debatten, die um diese Themen geführt werden. Und was nicht nur neu, sondern für mich auch erschreckend ist, ist die Art und Weise, wie immer mehr Menschen sich definieren. Früher definierten wir uns über Gemeinsamkeiten. Wir spielten zusammen Fußball, waren in einer Klasse, auf einer Schule, hatten einen ähnlichen Musikgeschmack oder waren halt sonst auf einer Wellenlänge. Ob wir die gleiche sexuelle Orientierung, die gleiche Hautfarbe oder die gleiche Herkunft bis zu den Urahnen haben, war zweitrangig.
Heute definiert man sich „offenbar“ über Unterschiede. Identitätspolitik nennt sich das. Wie soll man aber zueinanderfinden und miteinander harmonieren, wenn man sich über die Unterschiede definiert? Ganz ehrlich, ich verstehe das nicht. Das „Offenbar“ habe ich aber nicht ohne Grund geschrieben, denn ich weiß gar nicht, ob das in der Realität wirklich so ist oder ob dies nicht eher ein virtuelles Phänomen ist, das von Kulturkämpfern beider Seiten in den sozialen Netzwerken rauf und runter gedudelt und von den Medien gehypt wird. In meiner Generation und in meinem Umfeld hat sich zumindest nicht viel geändert – und bei meinem heute in Berlin – also mitten im identitätspolitischen Mordor – lebenden Sohn auch nicht.
Ja, wir befinden uns anscheinend in einem virtuellen Kulturkampf. Dieser Kampf wird sowohl von rechten als auch von linken Idioten geführt, die ständig einen Popanz aufbauen und uns gegen unseren Willen in diese vollkommen idiotischen Debatten hineinziehen. Vielleicht sollten wir – ein Lieblingswort der linken Idioten – „Resilienz“ aufbauen und uns unsere – ein Lieblingswort der rechten Idioten – „Tradition“ nicht umdeuten lassen. Meine Tradition sind nicht die in Teilen sicher reaktionären 1950er-, sondern die durchaus progressiven Zeiten ab Mitte der 1970er-Jahre und ich will auch nicht in eine Zeit zurück, die selbst ich als älterer weißer Mann gar nicht mehr kenne und mit der ich auch nur sehr wenig anfangen kann.
Ich will nicht einer Welt leben, in der sich „linksliberale“ Menschen über ihr Geschlecht und ihre Herkunft definieren und alle „Andersdenkenden“ als rechte Hinterwäldler verunglimpfen. Ich will aber auch nicht in einer Welt leben, in der sich „reaktionär konservative“ Menschen über ihr Geschlecht und ihre Herkunft definieren und alle „Andersdenkenden“ als „woke Spinner“ verunglimpfen. Ich will in einer Welt leben, in der Geschlecht und Herkunft keine Rolle spielen, die sexuelle Orientierung Privatsache ist und in der man sich über Gemeinsamkeiten und nicht über Unterschiede definiert.
Ist das eine Utopie? Ich glaube nicht, da der Großteil zumindest meines Lebens dieser Welt sehr nahekam. Und wenn ich vor die Tür gehe, habe ich auch nicht das Gefühl, dass sich im realen Leben so viel daran geändert hat. Sobald ich ins Netz gehe, ändert sich das jedoch diametral. Hier wird polarisiert und gespalten, dass die Schwarte kracht. Was also tun? Den Computer und das Smartphone beiseitelegen? Kulturkämpfern von rechts und links einen Stinkefinger zeigen? Das wäre sicher ein Anfang.
Vor allem sollten wir aber die reale nicht mit der virtuellen Welt verwechseln und uns nicht gegen unseren Willen in diese Schlammschlacht hineinziehen lassen. Bleiben Sie so, wie Sie sind. Lassen Sie sich nicht spalten. Ignorieren Sie einfach diese Debatten, so gut es nur geht. Nur gemeinsam kann man an den echten Problemen etwas ändern. Die Fragen von Krieg und Frieden, Armut und unanständigem Reichtum, Chancengleichheit und Elitengesellschaft sind viel wichtiger als die Frage, wer mit wem ins Bett geht und welche Hautfarbe oder Herkunft wir haben. Und wichtiger als die Frage, in welchem Leibchen die Nationalmannschaft aufläuft, sind diese Fragen sowieso.
Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.
Titelbild: pathdoc/shutterstock.com