Ein Leserbrief zur völkerrechtswidrig genannten Intervention Russlands in der Ukraine u.a.m.
Wir erhalten von Leserinnen und Lesern der NachDenkSeiten immer mal wieder interessante Texte. So jetzt ein Brief von Dr. rer. nat. Bernhard Strauss an den CDU-Verteidigungspolitiker Kiesewetter. Er ist von allgemeinem Interesse. Deshalb veröffentlichen wir ihn. Albrecht Müller.
SAPERE AUDE
Immanuel Kant
März 2024
Sehr geehrter Herr Kiesewetter,
ich wende mich heute an Sie als deutscher Staatsbürger und Steuerzahler.
Mit großer Besorgnis verfolge ich, wie Sie als verteidigungspolitischer Sprecher der CDU immer wieder eine Intensivierung der militärischen Unterstützung der Ukraine durch Deutschland fordern.
- Ich habe mich anlässlich der völkerrechtswidrigen Invasion der Streitkräfte der Russischen Föderation in die Ukraine am 24.02.2022 darum bemüht, mich in der Sache möglichst ausgewogen kundig zu machen, um mir hier eine eigne Meinung bilden zu können. Je weiter ich dabei vorgedrungen bin, desto deutlicher wurde mir, wie einseitig hierbei wesentliche Zusammenhänge in den einflussreichen Medien wie ARD, ZDF, Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung und anderen großen Medien dargestellt werden. Ich habe es bis dahin nicht für möglich gehalten, dass die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland derart unausgewogen über eine Sache berichten. Ich finde das heute sehr besorgniserregend, weil durch diese Berichterstattung Menschen, die nur wenig Zeit damit verbringen oder verbringen können, sich über die Vorgänge in Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine zu informieren, einseitig beeinflusst werden.
- Als ein Beispiel will ich anführen, dass durch die genannten Medien verbreitet wird, dass es der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin gewesen sei, der sich einer Verhandlungslösung im Vorfeld der Invasion am 24.02.2022 verweigert hätte. Heute weiß ich, dass es die US-Regierung Joe Biden war, die im Januar 2022 klar zum Ausdruck gebracht hat, dass sie nicht bereit ist, über den von Präsident Putin am 17.12.2021 vorgelegten Entwurf eines Sicherheitsabkommens zwischen den USA und der Russischen Föderation auch nur zu verhandeln.
- Als weiteres Beispiel will ich anführen, dass in den genannten Medien die Auffassung vertreten wird, dass der Machtwechsel in der Ukraine 2014 daraus resultierte, dass viele Ukrainer auf dem Maidan gegen die (demokratisch gewählte) Regierung Janukowytsch protestierten. Heute ist mir klar, dass die Vorgänge auf dem Maidan durch Scharfschützen angeheizt wurden, die u. a. am 20.02.2022 (gemeint ist der 20.2.2014; d. Red.) von oberen Stockwerken des Hotels Ukraina aus, das damals unter der Kontrolle der Demonstranten stand, sowohl auf Polizisten als auch auf Demonstranten tödliche Schüsse abgegeben haben. Die Mehrzahl der Todesopfer während der Maidan-Proteste 2014 war durch diese Scharfschützen verursacht [PS]. Viele Indizien sprechen dafür, dass diese Eskalation durch US-Verantwortliche zumindest wesentlich unterstützt worden ist (Stichwort: Telefonat Nuland). Der Umsturz der Regierung Janukowytsch war verfassungswidrig. Im Vorfeld wurde Janukowytsch bedroht und auf seine Anhänger im Parlament wurde durch eine nationalistisch orientierte Untergruppe der Demonstranten Druck ausgeübt [PK]. Die neuen Machthaber wurden von der US-Regierung (und ebenso von der EU) umgehend als rechtmäßige Machthaber anerkannt.
Der ehemalige UN- und OSZE-Mitarbeiter Graf Michael von der Schulenburg formuliert hierzu am 06.03.2023 wie folgt: “Nach Angaben von Victoria Nuland, heute stellvertretende Außenministerin der USA, hatten die USA seit 1991 fünf Milliarden US-Dollar für Reformen und die Westorientierung der Ukraine investiert. In Wirklichkeit dürfte das ein noch wesentlich höherer Betrag gewesen sein. Ein Teil dieses Geldes ist in die Beeinflussung von Wahlen und den Aufbau US-freundlicher Kräfte geflossen, wie auch geleakte US-Drahtberichte bestätigen. Nuland, Senator McCain und andere westliche Regierungsvertreter haben es sich nicht nehmen lassen, die Demonstranten auf dem Maidan Platz persönlich anzufeuern und recht unverhohlen eine zukünftige pro-westliche Regierung für die Ukraine nach dem Umsturz zu planen. Auch das ist eine grobe Verletzung der Souveränität der Ukraine und damit ein Bruch der UN-Charta“ [GS].
Nach dem Umsturz haben US-Verantwortliche in erheblichem Ausmaß Waffen in die Ukraine geliefert und begonnen, das Ukrainische Militär an NATO-Strukturen anzupassen. Seit 2016 ist, wie jüngst bekannt wurde, die CIA in der Ukraine tätig. Demgegenüber war die Bekämpfung der Korruption, ein vorrangiges Anliegen der Mehrheit der Demonstranten auf dem Maidan 2014, für die US-Verantwortlichen offensichtlich – sofern überhaupt – deutlich weniger relevant.
Es ist mir schlichtweg nicht möglich zu erkennen, dass es Ziel der US-Politik gewesen wäre, demokratische Strukturen in der Ukraine zu stärken.
- Auch wird in den oben genannten Medien das Verhalten der ukrainischen Regierung vor dem 24.02.2022 allenfalls sehr marginal thematisiert. Heute ist mir beispielsweise bewusst, dass das ukrainische Parlament am 16.07.1990 die staatliche Souveränität erklärte und die Absicht beurkundete, ein dauerhaft neutraler Staat zu werden, der sich nicht an Militärblöcken beteiligt [PS]. Am 05.09.2014 wurde das Minsker Abkommen unterzeichnet und am 17.02.2015 durch Verabschiedung der Resolution 2022 (2015) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ein völkerrechtlich geltender Vertrag. Offensichtlich hatte jedoch die ukrainische Regierung nur deutlich begrenztes Interesse daran, ihre hier eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Am 24.03.2021 hat Präsident Selenskyj ein Dekret des Nationalen Sicherheitsrates der Ukraine zur militärischen Rückeroberung der Krim unterzeichnet. Im Weiteren kam es zu einem massiven Truppenaufmarsch der ukrainischen Streitkräfte im Südosten der Ukraine. Zwischen dem 16.02.2022 und dem 20.02.2022 (also kurz vor der Invasion der russischen Streitkräfte am 24.02.2022) kam es zu einem massiven Anstieg des Artilleriebeschusses im Donbas durch die ukrainischen Streitkräfte. Graf von der Schulenburg formuliert hierzu: “Die ukrainische Regierung antwortete im Februar 2022 sogar mit massivsten Bombardierungen des von pro-russischen Rebellen gehaltenen Donbas und der dortigen Zivilbevölkerung“ [GS].
- Am 04.10.2022 hat Präsident Selenskyj ein Dekret unterzeichnet, mit dem offiziell festgehalten wird, dass sein Land offen für einen Dialog mit Russland ist, allerdings nicht mit Präsident Putin.
- Mit Bezug auf den aktuellen Stand kommt General a. D. Harald Kujat, der unter anderem als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses und als Vorsitzender des Nato-Russland-Rates sowie des Euro-Atlantischen-Partnerschaftsrates der Generalstabschefs tätig war, am 22.12.2023 zu folgender Einschätzung: „Dass Russland beabsichtigt, nach einem militärischen Sieg über die Ukraine Nato-Staaten anzugreifen, und dazu in wenigen Jahren auch in der Lage sei, ist offensichtlich nicht die Erkenntnis dafür qualifizierter und verantwortlicher militärischer Stäbe aus einer komplexen gesamtstrategischen Lagebeurteilung, sondern eine Vermutung von „Militärexperten“ [K1]. Mit Bezug auf die militärische Lage gibt er am 02.03.2024 die folgende Einschätzung: „Wer die Ukraine retten will, wer eine katastrophale militärische Niederlage vermeiden will, der kann das nur, indem er Verhandlungen mit Russland aufnimmt“ [K2].
Ich sehe heute für mich keinen vernünftigen Grund, an diesen Einschätzungen von Herrn Kujat zu zweifeln. Zwischenzeitlich habe ich etliche Beiträge von Herrn Kujat gelesen und gehört und nach meinem Ermessen trägt Herr Kujat stets ausgesprochen substanziiert vor. Beispielhaft nenne ich hier die drei unten angegebenen Quellen [K1], [K2] und [K3].
Sicherlich wäre es einer sachorientierten Diskussion sehr förderlich, wenn Sie, Herr Kiesewetter in Ihrer Funktion als verteidigungspolitischer Sprecher der CDU, in der Sache auf die Beiträge von Herrn Kujat eingehen könnten.
Aber auch ohne militärische Expertise wird man doch unter Nutzung des gesunden Menschenverstands zu der Einschätzung gelangen, dass Herr Putin kaum in Passivität oder eine Art Schockstarre verfallen würde, wenn ein aus deutscher Produktion stammender Taurus-Fluglenkkörper in der Kertsch-Brücke einschlagen würde.
Es ist hier nicht meine Absicht, Verhaltensweisen der russischen Seite zu rechtfertigen, sondern vielmehr, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass es jedenfalls ein elementares Erfordernis darstellt, zunächst das Verhalten aller Akteure möglichst objektiv zu beurteilen, wenn man ehrlich daran interessiert ist, dazu beizutragen, dass eine Lösung gefunden wird, durch die der Konflikt gerecht und dauerhaft beendet wird.
- Ein letztes Beispiel will ich noch anführen. Oft wird die Position vertreten „Die NATO hat Russland nie bedroht“ (z. B. [KE]). Ich denke, das ist ein besonders wichtiger Punkt.
Zunächst sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass die NATO unter der Führung der USA und der Teilnahme Deutschlands 1999 einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Serbien geführt hat. Hier hat die NATO der Welt demonstriert, dass sie kein reines Verteidigungsbündnis ist.
Abgesehen davon ist mir aber folgender Aspekt besonders wichtig: Im Rahmen der Gespräche, die zum so genannten Zwei-Plus-Vier-Vertrag geführt haben, wurde von den US-Verantwortlichen (u. a. Außenminister James Baker) der sowjetischen Seite (u. a. Präsident Gorbatschow) versprochen, dass sich die NATO nach der deutschen Wiedervereinigung nicht nach Osten ausdehnen werde. Dass dieses Versprechen gegeben worden ist, kann heute nicht mehr bezweifelt werden. Zutreffend ist, dass dieser Punkt seinerzeit offensichtlich nicht schriftlich festgehalten worden ist. Das bedeutet, dass hier von russischer Seite der US-amerikanischen Seite Vertrauen entgegengebracht worden ist. Wie die nachfolgende NATO-Osterweiterung gezeigt hat, ist dieses Vertrauen von den US-Verantwortlichen missbraucht worden.
Zwischenzeitlich haben die US-Verantwortlichen Raketenbasen in Polen (NATO-Mitglied seit 1999) und Rumänien (NATO-Mitglied seit 2004) aufgebaut, die durch das US-Militär zweifelsfrei dazu verwendet werden können, Atomwaffen-bestückte Raketen in Richtung Moskau abzuschießen. Die Flugzeiten würden hierbei jeweils etwa 10 Minuten betragen.
Diese Raketenbasen stellen bereits aufgrund ihrer inhärenten Struktur eine Bedrohung für die russische Seite dar. Insbesondere muss man zu dieser Einschätzung gelangen, wenn man bedenkt, dass niemand wissen kann, wer der nächste oder der übernächste US-Präsident sein wird und wenn man bedenkt, dass niemand weiß, in welche Hände diese Anlagen in Zukunft fallen werden.
Mit dieser Einschätzung bin ich sicherlich nicht allein. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den früheren deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt, der im August 1993 sagte: „Wenn ich ein sowjetischer Marschall wäre oder ein Oberst, würde ich die Ausdehnung der NATO-Grenze, erst von der Elbe bis an die Oder und dann über die Weichsel hinaus bis an die polnische Ostgrenze, für eine Provokation und eine Bedrohung des Heiligen Russland halten. Und dagegen würde ich mich wehren. Und wenn ich mich heute dagegen nicht wehren kann, werde ich mir vornehmen, diese morgen zu Fall zu bringen“ [PK].
- Die Vereinten Nationen haben sich u. a. das Ziel gesetzt, freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln (UN-Charta, Kapitel I, Artikel 1, Punkt 2.). Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die US-Regierung während der Kuba Krise nicht bereit war, den Aufbau von Raketenbasen in Kuba zu tolerieren, jetzt aber von US-Seite erwartet wird, dass die russische Seite Raketenbasen in Polen und Rumänien oder gar in der Ukraine tolerieren soll, entspricht das offenkundig nicht dem Grundsatz der Gleichberechtigung. Hieran kann es doch nicht den geringsten Zweifel geben. Daher widerspricht das Verhalten der US-Verantwortlichen in Form der NATO-Osterweiterung seit 1990 klar und deutlich dem Geist der UN-Charta.
Ich gehe davon aus, dass diese Haltung der US-Verantwortlichen bis heute eine Konstante darstellt. 2014 hat Jack F. Matlock, ehemaliger US-Botschafter in der Sowjetunion und Direktor für europäische Angelegenheiten im Nationalen Sicherheitsrat der USA folgende Einschätzung abgegeben: „Wenn China anfangen würde, eine Militärallianz mit Kanada und Mexiko zu organisieren, würde die USA das nicht tolerieren. Wir würden uns auch nicht auf abstrakte Prinzipien von internationalem Recht beschränken lassen. Wir würden das verhindern, mit jedem Mittel, das wir haben“ [JM]. Diese Einschätzung hat jüngst an Aktualität gewonnen, da die mexikanische Regierung zwischenzeitlich ihr Interesse an einem zukünftigen Beitritt zum Verbund der BRICS-Nationen bekannt gegeben hat.
- Noch einmal zitiere ich Graf von der Schulenburg wie folgt: „Und dann gab es die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen, bei denen sich beide Seiten bereits in der dritten Märzwoche, also nur einen Monat nach Ausbruch des Krieges, auf die Grundzüge einer Friedensvereinbarung geeinigt hatten: Die Ukraine versprach, der NATO nicht beizutreten und keine Militärbasen ausländischer Mächte auf ihrem Territorium zuzulassen, während Russland im Gegenzug versprach, die territoriale Unversehrtheit der Ukraine anzuerkennen und alle russischen Besatzungstruppen abzuziehen. Für den Donbas und die Krim gab es Sonderregelungen. Auf einer für den 29.03.2022 geplanten Friedenskonferenz in Istanbul sollten diese Grundzüge weiterentwickelt werden. Doch dann zog sich die Ukraine auf Druck der USA und des Vereinigten Königreichs von den Friedensverhandlungen zurück. Wie viel Leiden, wie viele Menschenleben und wie viele Zerstörungen hätten vermieden werden können, wenn sich die NATO im März hinter die ukrainisch-russischen Friedensbemühungen gestellt hätte? Dafür, dass sie diese aber verhindert hat, tragen die NATO-Länder eine schwere Mitschuld an den Opfern des Krieges seit dieser Zeit.“ [GS]. Auch Herr Kujat stellt das in ganz ähnlicher Weise dar [K3].
Selenskyj brach die genannten Verhandlungen unmittelbar nach dem Besuch von Boris Johnson (Vier-Augen-Gespräch) am 09.04.2022 ab, nicht nach der Enthüllung der Kriegsverbrechen in Bucha am 30.03.2022. Vielmehr erklärte Selenskyj noch nach seinem Besuch am 04.04.2022 in Bucha seine Bereitschaft, die Verhandlungen fortzusetzen [PK], [K3].
Ich fände es jedenfalls indiziert, wenn der deutsche Kanzler Olaf Scholz die Regierung des Vereinigten Königreichs mit der Frage konfrontieren würde, wer für den von Boris Johnson am 09.04.2022 verursachten Schaden aufkommen soll. Denkbar schlecht finde ich, dass hier offenbar mit einer gewissen Selbstverständlichkeit davon ausgegangen wird, dass sich die Deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hier beteiligen. Ich habe jedoch den Eindruck, dass das bereits so auf den Weg gebracht ist. Und ich habe auch den Eindruck, dass sich in diesem Punkt die CDU ebenso gegen die Interessen der deutschen Bürgerinnen und Bürger positioniert hat.
- Aus meiner heutigen Sicht ist der Konflikt in der Ukraine letztlich dadurch verursacht, dass US-Verantwortliche seit spätestens 2008 darauf hinarbeiten, den territorialen Einflussbereich des US-Militärs auszudehnen, und zwar unter Zuhilfenahme einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Deshalb bin ich der Überzeugung, dass es auf der Seite des so genannten Westens in erster Linie die Aufgabe der US-Verantwortlichen ist, Initiative für einen Weg zum Frieden zu ergreifen.
Deshalb bin ich auch davon überzeugt, dass es für die deutsche Regierung im Februar 2022 viel besser gewesen wäre, eine neutrale Position einzunehmen und nach Möglichkeit auf die US-Seite einzuwirken, um sie dazu zu animieren, doch noch eine Verhandlungslösung anzustreben. Das wäre insbesondere auch zum Wohle und zum Nutzen der ukrainischen Seite gewesen. Leider hat sich die Regierung Scholz jedoch dazu entschlossen, durch militärische Unterstützungs-Maßnahmen in Form von Waffenlieferungen an die Ukraine Stellung auf der Seite der USA zu beziehen.
- Bundeskanzler Scholz hat das am 27.02.2022 in seiner viel-zitierten „Zeitenwende“-Regierungserklärung kundgetan. Ich wundere mich heute sehr darüber, wie wenig von vielen Seiten die Scholz´sche „Zeitenwende“ als solche hinterfragt wird, offensichtlich auch nicht von der CDU. Gab es im Jahr 1999 – Stichwort „Krieg in Europa“ – auch eine Zeitenwende? Haben wir uns damals auch irgendwelche Aufgaben gestellt? Oder ist die völkerrechtswidrige Bombardierung von serbischem Territorium durch NATO-Einheiten als „humanitäre Hilfsaktion“ zu klassifizieren?
Noch wichtiger ist aus meiner Sicht aber die Feststellung, dass von Politikern der Regierung Scholz der Begriff „Zeitenwende“ als Rechtfertigungsversuch dafür verwendet wird, Versprechungen der letzten Parteiprogramme über Bord werfen zu dürfen. Ich erinnere hier beispielsweise an das „Exporte von Waffen und Rüstungsgütern in Kriegsgebiete verbieten sich“ aus dem Parteiprogramm der Grünen.
Die Frage der rechtlichen oder moralischen Beurteilung des Vorgehens des russischen Militärs seit dem 24.02.2022 ist zu trennen von der Frage, ob ein verantwortungsbewusster Politiker vor der letzten Bundestagswahl mit der Möglichkeit rechnen musste, dass Präsident Putin, das, was er seit vielen Jahren angekündigt hat, auch tatsächlich ausführt. Letzteres ist ohne Zweifel zu bejahen. Deshalb mussten die deutschen Wählerinnen und Wähler vor der letzten Bundestagswahl vernünftigerweise davon ausgehen können, dass das, was Ihnen in den Wahlprogrammen versprochen wurde, auch unter Umständen eingehalten wird, wie sie heute gegeben sind.
- Die hier in Frage stehenden Waffen, jedenfalls soweit sie aus Bundeswehrbeständen stammen, sind mit Hilfe deutscher Steuergelder zur Landes- und Bündnisverteidigung Deutschlands angeschafft worden. Wenn diese Waffen in nicht-deutsche Hände übergeben werden, stellt das somit eine Zweckentfremdung der Waffen und damit von Steuergeldern dar. Ich sage an dieser Stelle in aller Deutlichkeit: Mit dieser Zweckentfremdung bin ich nicht einverstanden. Im Übrigen sehe ich auch keine demokratische Legitimation für diese Waffen-Zweckentfremdung, und zwar aus den oben dargelegten Gründen.
- Jede und jeder Deutsche mit der Überzeugung, dass es jetzt geboten sei, das ukrainische Militär zu unterstützen, hat grundsätzlich die Möglichkeit, sich in die Ukraine zu begeben und dort als Freiwillige bzw. Freiwilliger mitzuwirken. Ich kann ein solches Vorgehen nicht gutheißen, aber es wäre jedenfalls mir gegenüber respektvoller als Ihr Ruf nach weiteren Waffenlieferungen, weil es ein Vorgehen ohne Zuhilfenahme der von der deutschen Gesamtgemeinschaft finanzierten Waffen wäre.
- Sehr deutlich plädiere ich dafür, demokratische Werte zu verteidigen. Nach meiner festen Überzeugung tut man dies am wirkungsvollsten dadurch, dass man diese Werte vorlebt.
- Sicher bin ich kein Bibel-Spezialist, aber ich verstehe das „Liebet Eure Feinde und bittet für die die Euch verfolgen“ (Matthäus, 5-44) so, dass man auch seine Feinde lieben soll. Oder gilt das nur, wenn es die Umstände zulassen? Vor diesem Hintergrund ist es für mich völlig unverständlich, dass Sie als Vertreter einer Partei, die sich laut ihrer Namensgebung christlicher Werte verpflichtet hat, Waffenlieferungen fordern können und sich in diesem Zusammenhang gegen den Papst positionieren.
Abschließend erinnere ich an die vielen Menschen, die 1989 in der damaligen DDR friedlich protestiert haben und auf diese Weise den Weg hin zu einem unblutigen Wechsel des gesellschaftlichen Systems geebnet haben. Ich finde, jeder dieser Menschen hat im wörtlichen Sinn ein „Denk-mal“ verdient.
Sind die Worte von Bertha von Suttner, Mahatma Gandhi und Martin Luther King mit der deklarierten „Zeitenwende“ nun verhallt?
Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich dieses Schreiben öffentlich zugänglich machen werde.
In der Hoffnung auf eine friedlichere Welt
Dr. rer. nat. Bernhard Strauss
[K1] Harald Kujat: „Die Ukraine ist in einer Sackgasse“, Zeitgeschehen im Fokus, 22.12.2023
[K2] Die Weltwoche, 02.03.2024
[K3] Talk im Hangar-7: Zwei Jahre Krieg: Waffen oder Verhandlungen? 22.02.2024
[GS] Michael von der Schulenburg: „UN-Charta: Verhandlungen!“, EMMA, 06.03.2023
[PS] Jeffrey Sachs: „Sie russische Propaganda?“ in eXXpress, 14.06.2023
[KE] Katrin Eigendorf, in radiobremen, 3nach9, 02.09.2022, bei Minute 52
[PK] Ivan Katchanovski: The Russia-Ukraine War and the Maidan in Ukraine, Annual Meeting of the American Political Science Association, Montreal, September 15-18, 2022
[TK] Thomas Karlauf: Was würde Helmut Schmidt dazu sagen? Die Zeit, Nr. 22 vom 29.05.2022
[JM] Jack F. Matlock zit. n. Dorothea Hahn: “Das ist ein Familienstreit“, in: taz, 09.09.2014