Sprudelnde Steuern?
40 Milliarden Euro soll der Fiskus in diesem Jahr mehr einnehmen, so schätzen die Steuerschätzer. Was steckt tatsächlich hinter den Steuermehreinnahmen? Was sind solche Steuerschätzungen wert? Wer gewinnt und wer verliert? Sind die im Koalitionsausschuss beschlossenen Steuerentlastungen tatsächlich eine Wohltat und wenn ja, für wen? Von Wolfgang Lieb
„Schäuble nimmt 40 Milliarden mehr ein”. So oder so ähnlich lauteten die Jubelmeldungen am letzten Freitag, als der Arbeitskreis „Steuerschätzungen“ seine „Schätzungen“ für das laufende und die folgenden vier Jahre vorlegte. 16,2 Milliarden Euro liegt die Prognose für das zu Ende gehende Jahr höher als noch im Mai geschätzt wurde. (Siehe auch die Vorhersagen bis 2015)
Nach dieser an und für sich erfreulichen Schätzung ging natürlich die Meinungsmache in Politik und Medien sofort wieder los. Die Wirtschaft brumme, der Sparkurs sei erfolgreich (so Finanzminister Schäuble), die Arbeitslosigkeit sinke, die Löhne stiegen, die Steuern sprudelten, das war der Tenor. Und die Steuersenkungspartei FDP sah einmal mehr ihre Stunde gekommen und forderte vor der Koalitionsrunde am Sonntag im Kanzleramt mal wieder Steuerentlastungen. Die dann auch prompt beschlossen wurden.
In einem Gesamtpaket im Umfang von 6 Milliarden soll der Freibetrag für das Existenzminimum erhöht und bei der Einkommensteuer soll es eine Abmilderung der „kalten Progression“ geben. Die Anhebung des Grundfreibetrages mit einer Steuerminderung von 4 Milliarden Euro solle von Bund und Ländern je zur Hälfte getragen werden, das Minus bei der Einkommensteuer in einem Volumen von 2 Milliarden will der Bund alleine tragen. So viel zur allgemein gehaltenen Beschlusslage der schwarz-gelben Koalition.
Welche Wirklichkeit steht eigentlich hinter dieser Begeisterung?
Von dem Geldsegen von 16,2 Milliarden Euro der seit der Frühjahrsschätzung über den Finanzminister gekommen ist, entstammen knapp 4 Milliarden ausschließlich rechnerischen Gründen, weil die Bundesregierung ihre (finanzielle) Vorsorge für die drohende Niederlage in einem Steuerrechtsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH-Verfahren „Meilicke“ [PDF – 2.3 MB]) absenken konnte. Ein Viertel des Geldes, das dem Fiskus zufließen soll, hat nichts mit der Konjunktur oder gar mit Lohnerhöhungen zu tun.
Selbst wenn aber die geschätzten Steuermehreinnahen wirklich einträfen, liegt der Schuldenstand in Deutschland immer noch bei rund 80 Prozent des Bruttoinlandproduktes – also weit über der von der EU gesetzten Marke von 60 Prozent. Man mag diese Marke grundsätzlich, aber auch angesichts der Verschuldung anderer europäischer Länder wie etwa Großbritannien (80%), Frankreich (81,7%), gar nicht zu reden von Griechenland (142,8), Italien (119%) oder Portugal (93%) für nicht so wichtig halten, aber Tatsache bleibt, dass auch die niedrigere Neuverschuldung im laufenden Jahr von nach wie vor etwa 25 Milliarden Euro, doppelt so hoch liegt, wie im Vorkrisenjahr 2008.
Von einem Spielraum für Steuersenkungen kann also keine Rede sein, sie erfolgen nach wie vor auf Pump.
Was sind die Steuerschätzungen wert?
Die Steuerschätzer müssen auf der Basis der Konjunkturprognose der Bundesregierung schätzen. Dort wird für das Jahr 2012 – ab dem ja die Steuersenkungen im Volumen von 6 Milliarden Euro eintreten sollen – ein Einnahmeplus von 7,4 Milliarden Euro prognostiziert, unter der Annahme, dass das Bruttoinlandsprodukt (nominal) immerhin noch um 2,4% (real + 1,0) wächst.
Keine einzige nicht regierungsamtliche Konjunkturprognose trifft jedoch derart optimistische Annahmen. Nur noch 0,8 Prozent Wachstum erwarten die Forschungsinstitute in ihrem Herbstgutachten für 2012. Das DIW erwartet für das Schlussquartal 2011 sogar eine Stagnation.
Wie rasch solche Prognosen von der Wirklichkeit überholt werden und wie sehr sich die Steuerschätzer verschätzen können, zeigt sich allein in der Tatsache, dass sie ihre Frühjahrsschätzung um über 16 Milliarden nach oben korrigieren mussten. Genauso deutlich über-schätzt haben sich die Experten vor dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise.
„Vergesst die Steuerschätzung“ warnt Robert von Heusinger in der Frankfurter Rundschau zu Recht. Sie sei überholt, bevor sie überhaupt erstellt wurde.
Diese Unsicherheit hindert die Koalitionsrunde allerdings nicht beim abendlichen Imbiss im Kanzleramt den Löwenanteil, nämlich 6 von 7 Milliarden eines höchst unsicheren Einnahmeplus gleich wieder zu verschlingen, damit der FDP-Vorsitzende endlich seine Steuersenkung „liefern“ kann.
Euphorie ist völlig unangebracht
571,2 Milliarden Euro errechnet der Schätzerkreis für das laufende Jahr an gesamten Steuereinnahmen für Bund, Länder und Kommunen. Das ist natürlich gegenüber den 529,3 Milliarden Euro im Jahre 2010 ein deutliches Plus von über 40 Milliarden.
Wenn man unter Gedächtnisverlust leidet, kann man das großartig feiern.
Wer denkt auch schon nur drei Jahre zurück: Im Vorkrisenjahr 2008 da hat der Staat im immerhin 561,2 Milliarden eingenommen, also gerade einmal 10 Milliarden oder nicht einmal 2 Prozent weniger als für dieses Jahr geschätzt wird. Rechnet man die Inflation mit ein, dann hat der Staat im laufenden Jahr weniger Geld (Kaufkraft) zur Verfügung als vor der Krise – und das obwohl die Haftungsrisiken für den Staat exorbitant gestiegen und das in einer Phase wirtschaftlicher Stagnation, in der staatlicherseits alles getan werden müsste, um eine Rezession zu verhindern.
Der Bund gewinnt, Länder und vor allem Kommunen verlieren
Schaut man sich die pauschalen Beträge aber noch etwas genauer an, dann kann der Bund von den Gesamteinnahmen von 571,2 Milliarden Euro allein einen Anteil von 246,7 Milliarden Euro erwarten. Gegenüber dem Vorkrisenjahr 2008 mit Einnahmen von 239,2 Milliarden ist das ein Plus von 7,5 Milliarden Euro. An den Bund gehen also drei Viertel der 10 Milliarden Einnahmeerhöhung gemessen an den Werten von vor drei Jahren.
(Siehe zu den Vergleichszahlen „Kassenmäßige Steuereinnahmen nach Gebietskörperschaften 2007 – 2010“ [PDF – 15 KB])
An die Länder gingen 2008 221,9 Milliarden der Steuereinnahmen. Die Ländereinnahmen könnten sich nach der jüngsten Schätzung gerade einmal auf 223,1 Milliarden Euro, also um 1,2 Milliarden Euro oder um ein halbes Prozent erhöhen.
Da hilft es wenig, wenn die Koalitionsrunde großspurig ankündigt, dass der Bund das Minus bei der Einkommensteuer, das ja auch die Länder betrifft [PDF – 12 KB], alleine tragen soll. Das vermeintlich großzügige Angebot einer Halbierung der Mindereinnahmen durch die Erhöhung des Grundfreibetrags (veranschlagt mit 4 Milliarden) bedeutet für die Länder 2 Milliarden weniger an Steuern und beschert ihnen gegenüber 2008 ein Minus.
Noch schlimmer sieht es bei den Gemeinden aus. Sie nahmen im Jahr 2008 rd. 77 Milliarden Euro an Steuern ein, nach der Schätzung für 2011 aber nur noch 76,3 Milliarden. Für die Jahre 2013 bis 2015 sagen selbst die Steuerschätzer Mindereinnahmen voraus.
Die Kommunen, die schon im letzten Jahr ein Defizit von knapp 10 Milliarden ausweisen, die den weitaus höchsten Personalbestand aller Gebietskörperschaften haben, die vor allem aber den weitaus höchsten Anteil der gesamten öffentlichen Investitionen realisieren, haben also 2011 nach aller Voraussicht weniger Geld zur Verfügung als noch vor drei Jahren. Städte und Gemeinden sorgen aber z.B. für 60% der öffentlichen Bauinvestitionen und sie stellen den größten Teil der öffentlichen Infrastruktur und der Dienstleistungen bereit.
Die kommunale Investitionsquote, die ohnehin in den letzten Jahren schon dramatisch gesunken ist, wird also weiter sinken müssen. Angesichts der allgemein abflauenden Konjunkturaussichten der privaten Wirtschaft bewirken die zurückgehenden Investitionen der Kommunen einen zusätzlichen Dämpfer.
Aber nicht nur das: Schon jetzt wollen (oder müssen) 86 Prozent der Kommunen Steuern und Gebühren erhöhen. Das heißt, die in der Koalitionsrunde beschlossenen minimalen Senkungen bei der Lohn- und Einkommensteuer, werden durch höhere Gebühren für städtische Angebote aufgefressen. Also ganz real durch höhere Beiträge für Kindergärten, für Ganztagsschulen, durch Parkgebühren oder durch steigende Hundesteuern oder sonstigen Abgaben.
Der Bund, der der Hauptgewinner der Steuermehreinnahmen ist, verteilt Steuergeschenke auf dem Rücken der Länder und der gebeutelten Kommunen. Letztere werden gar nicht anders können, als ihre Verluste bei den Bürgerinnen und Bürgern durch höhere Steuern und Gebühren wieder hereinzuholen. Was also an kleinen Beträgen an Steuerentlastung in der linken Tasche der Leute ankommt, wird ihnen aus der rechten Tasche wieder herausgenommen. Und das alles nur, weil die FDP meint, mit solchen Taschenspielertricks wieder die Fünf-Prozent-Klausel bei Wahlen überspringen zu können.
Für wen ist die Steuersenkung eine Wohltat
Die Erhöhung des Grundfreibetrags, der steuerfrei bleiben soll, ist sicherlich eine kleine Erleichterung für all diejenigen, die am Existenzminimum leben. Derzeit bleibt ein Alleinstehender bis zu einem Jahreseinkommen von 8.004 Euro steuerfrei. Das ist ein Monatseinkommen von 667 Euro und liegt knapp über dem Hartz IV-Regelsatz.
Um wie viel der Freibetrag angehoben wird, ist noch nicht bekannt.
Nun hört es sich ganz toll an, dass die Steuerentlastung für die Erhöhung des Grundfreibetrags 4 Milliarden betragen soll. Wer nun aber glaubt davon hätten vor allem die Niedrigsteinkommensbezieher etwas, der irrt. Vom steuerfreien Existenzminimum profitieren alle Steuerzahler – aufgrund der Steuerprogression zwar in abschwächenden Umfang, aber immerhin auch noch die Spitzenverdiener.
Eine wirkliche Entlastung, für diejenigen, die es am Nötigsten hätten, wäre möglich, wenn die (oben dargestellte) Progressionszone I mit dem höchsten Anstieg bei der Steuerbelastung gesenkt und/oder abgeflacht würde.
Aber Schwarz-Gelb geht es ja erwiesenermaßen nicht um die Geringverdiener, sondern es geht um den vermeintlichen „Mittelstandsbauch“ oder wie das Tarnwort heißt, um die „kalte Progression“. Wie man am Verlauf der Progressionszone II erkennen kann, steigen sowohl der Grenz- als auch der Durchschnittssteuersatz bei jeder Lohnerhöhung automatisch mit. Das ist in der Tat ein Ärgernis für viele Steuerzahler.
Der eigentliche „Bauch“ im Steuersystem liegt aber – wie man an der steil ansteigenden Linie in der obigen Grafik leicht sehen kann – heute eher im Bereich eines Einkommens zwischen 8005 und 13.469 Euro. Da steigt der Grenzsteuersatz steil von 14 auf 24% an und der Grenzsteuersatz je 1.000 Euro mehr Jahreseinkommen um 1,88 Prozentpunkte. In der zweiten Progressionszone sind dies noch 0,62 Prozentpunkte pro 1.000 Euro mehr zu versteuerndem Brutto im Jahr. Wie man auch erkennen kann, ist der Steuersatz zwischen 52.882 Euro bis 250.730 Euro Jahreseinkommen ohnehin konstant.
(Siehe dazu ausführlicher Jens Berger „Steuerbäuche und Steuergeschenke – wie der Wähler an der Nase herumgeführt wird“)
Es ist zwar noch völlig unklar, wie die Entlastungen bei der Einkommensteuer aussehen sollen, wenn sich allerdings auch hier die Vorstellungen der FDP durchsetzen sollten, dann würden auch dabei die unteren bis mittleren Einkommen nur marginal profitieren, während die höheren Einkommen von – einmal angenommen – 6.000 Euro Verdienst im Monat – wie bei der Partei der Besserverdienenden nicht anders zu erwarten – in absoluten Zahlen fast hundert Mal mehr entlastet werden als Einkommensbezieher mit einem Bruttolohn von 2.000 Euro. (Siehe dazu genauer Wolfgang Lieb, Die Bild-Zeitung macht für Steuersenkungen und die FDP mobil)
Wollte man tatsächlich die „kalte Progression“ verhindern, dann wäre das schon rein rechnerisch nur denkbar, wenn man bei Lohnsteigerungen sowohl den Grundfreibeitrag als auch alle anderen Eckwerte jeweils um soviel Prozente ansteigen ließe, wie die Lohnerhöhungen jeweils ausmachten. Das wäre jedoch eine Revolution im deutschen Steuertarifsystem und diese ist von dieser Regierung, die die Umverteilung von unten nach oben auf allen Feldern vorantreibt, gewiss nicht zu erwarten.
Einmal völlig abgesehen von der Frage, ob Steuermehreinnahmen nicht besser in den Schuldenabbau oder angesichts einer sich abzeichnenden Rezession in die Ankurbelung der Wirtschaft gesteckt werden sollten, die unteren und mittleren Einkommensbezieher, die sich durch die Steuersenkungsbeschlüsse des Koalitionsausschusses nun Hoffnungen machen sollten, „mehr Netto vom Brutto“ in der Tasche zu haben, werden nach Umsetzung der gestrigen Eckdaten ins Kleingedruckte vermutlich ziemlich ernüchtert auf ihre Gehaltsüberweisung auf ihr Girokontos schauen.