In der vergangenen Woche wurde der ehemalige Labour-Abgeordnete George Galloway mit großer Mehrheit ins britische Unterhaus gewählt. Die Nachwahl im Wahlkreis Rochdale im Norden Englands war nötig geworden, weil der Wahlkreisabgeordnete Tony Lloyd im Januar verstorben war. Galloway zieht für den Rest der Legislaturperiode für die von ihm gegründete Workers Party GB ins Parlament. Der britische Premierminister nennt Galloways Wahlerfolg „jenseits von alarmierend“ (beyond alarming). Galloway hatte die Wahl mit einer Mischung lokaler und geopolitischer Themen, vor allem dem Gaza-Krieg, gewonnen. Die Labour Party hatte ihrem eigenen Kandidaten die Unterstützung entzogen, weil dieser gesagt hatte, Israel habe das Massaker der Hamas am 7. Oktober zugelassen. Die Siegesfeier von Galloway am Freitag wurde von den Mainstreammedien genutzt, um die Legitimität von George Galloways Wahl in Frage zu stellen. Ein Bericht von Moritz Müller.
Die ersten Worte George Galloways, nachdem er als Sieger der Wahl deklariert wurde, gingen an den britischen Oppositionsführer von der Labour Party: „Keir Starmer, dies ist für Gaza. Sie werden einen hohen Preis für die Rolle zahlen, die Sie bei der Ermöglichung, Ermutigung und Deckung der Katastrophe gespielt haben, die sich derzeit im besetzten Palästina, im Gazastreifen abspielt.“ Die Labour-Opposition hatte monatelang zusammen mit der konservativen Regierung das Massenmorden der israelischen Armee im Gazastreifen gedeckt bzw. unterstützt und sich auf Israels Selbstverteidigungsrecht berufen. Erst nachdem 56 Labour-Unterhausabgeordnete für einen Aufruf zu einem Waffenstillstand stimmten, änderte die Labourpartei ihre offizielle Position und spricht sich nun für einen „nachhaltigen Waffenstillstand“ aus, was immer das auch heißen mag.
Das hat sicher auch damit zu tun, dass die Labourpartei einen Großteil ihrer Wählerschaft in muslimisch geprägten Wahlkreisen hat, die das Treiben der israelischen Armee, befehligt von der Netanjahu-Regierung, ablehnen. In Rochdale sind ca. 40 Prozent der Wähler Muslime.
George Galloway hatte vor 20 Jahren gegen eine Beteiligung von Großbritannien am Irak-Krieg gestimmt. Weil er dies sehr vehement und publikumswirksam tat und britische Soldaten aufforderte, illegale Befehle nicht zu befolgen, wurde er damals aus der Labourpartei ausgeschlossen und saß den Rest der Legislaturperiode als unabhängiger Abgeordneter im Unterhaus. Bei den darauffolgenden Unterhauswahlen im Jahr 2005 gewann Galloway im Ost-Londoner Wahlkreis Bow vor der Labour-Kandidatin Oona King. Insgesamt ist Galloway bei 13 Unterhauswahlen angetreten und hat dabei sieben Mal gewonnen. Die Art und Weise, wie er seit 1987 immer wieder antritt, hat etwas von einem Stehaufmännchen.
Er facht auch immer wieder Kontroversen an, so zum Beispiel am Montag, nachdem er im Parlament in London eingeschworen wurde. Bei einer Pressekonferenz vor den Houses of Parliament kündigte er an, die Außenseite seiner Bürotür mit Konterfeis von Papst Franziskus und John F. Kennedy zu schmücken. Alle anderen Büros auf diesem Gang sind von DUP-Abgeordneten, einer protestantischen nordirischen Partei.
In seiner Siegesrede bezeichnete Galloway den Premierminister Rishi Sunak und den Oppositionsführer Keir Starmer als die „beiden Backen desselben Hinterns“, der bei der Nachwahl in Rochdale „richtig schön versohlt wurde“.
Auf die „jenseits von alarmierend“-Bemerkung des Premierministers entgegnete Galloway am Montag mit dem Hinweis, dass es sich bei Rishi Sunak um „einen nicht gewählten Premierminister“ handelt, dem es nicht ansteht, sich auszusuchen, wer den Wahlkreis Rochdale im Parlament vertritt. Es zeugt von der derzeitigen Nervosität des britischen Establishments, dass der Premierminister so direkt und zeitnah einen so definitiven Kommentar zu einer Nachwahl abgibt. Galloway hat angekündigt, dass seine Partei in 59 der 650 Wahlkreise Kandidaten aufstellen wolle.
Galloway wird das Thema Gaza im Parlament mit Sicherheit wachhalten, und vielleicht werden andere Abgeordnete ihre Haltung zu diesem Thema überdenken – vor allem, wenn sie sich mit ihren Wählern konfrontiert sehen. Im Vereinigten Königreich herrscht reines Mehrheitswahlrecht, es gibt also nur Direktmandate und keine „sicheren“ Listenplätze. Alle Minister inklusive des Premiers müssen auch Mitglieder des Parlaments sein. Galloway sagte, dass seine Partei auch im Wahlkreis der stellvertretenden Labour-Vorsitzenden Julia Rayner einen Kandidaten aufstellen werde.
Außerdem setzt sich Georg Galloway seit Jahren ebenfalls lautstark für Julian Assange und dessen Freilassung ein. Er wird dies sicherlich auch zum Thema im Unterhaus machen.
Die Initiative OCISA mit ihrem Kandidaten Andrew Feinstein hat es auf den Wahlkreis von Keir Starmer abgesehen. Feinstein saß unter Nelson Mandela als ANC-Abgeordneter im südafrikanischen Parlament. Er lebt seit 22 Jahren im Londoner Wahlkreis Holborn and St. Pancras. Als Sohn einer Holocaust-Überlebenden sollte er des Antisemitismus unverdächtig sein.
Die nächsten Unterhauswahlen, die spätestens am 28. Januar 2025 abgehalten werden müssen, versprechen spannend zu werden, und die Zusammensetzung des House of Commons wird nach der Wahl sicherlich bunter sein. Natürlich kann es sein, dass sich die progressiven Teile der Politik so zersplittern, dass die konservativen Tories am Ende wieder die Gewinner sind. Diese haben aber so abgewirtschaftet, dass ein Wahlsieg der Labour Party bis vor Kurzem sicher schien. Dies ist nach der Wahl Galloways nicht mehr der Fall.
Im Moment erscheint ja nicht nur im Vereinigten Königreich die politische Lage so festgefahren und auf den Abgrund zurasend, dass eigentlich jegliche Erschütterung und Veränderung nur gut sein kann.
Der Tory-Kandidat in Rochdale kam nur auf den dritten Platz hinter einem unabhängigen Kandidaten. Wie eingangs beschrieben, hatte die Labour Party ihrem eigenen Kandidaten die Unterstützung entzogen. Azhar Ali hatte bei einem Treffen, welches später geleakt wurde, gesagt: „Die Ägypter sagen, dass sie Israel zehn Tage zuvor gewarnt haben … Die Amerikaner haben sie einen Tag vorher gewarnt, dass da etwas passiert … Sie haben absichtlich die Sicherheitsvorkehrungen aufgehoben, sie haben dieses Massaker zugelassen, das ihnen grünes Licht gibt, zu tun, was sie verdammt noch mal wollen.“ Die Labour Party ließ Azhar Ali fallen, weil diese Aussagen als antisemitische Verschwörungstheorie gelten. Interessanterweise bekräftigt dieser Schweizer Artikel, in dem auch israelische Quellen zu Wort kommen, den ersten Teil der Aussage Alis, während der zweite Teil wohl immer noch Spekulation ist, denn über Gründe für etwas lässt sich immer trefflich spekulieren, bis entweder eine Form der Wahrheit ans Licht kommt oder das Thema mit der Zeit in Vergessenheit gerät.
Auf jeden Fall entschuldigte sich Azhar Ali umgehend, was aber in diesem Fall nicht reichte, weil auch noch andere seiner früheren Aussagen ans Licht kamen. Es ist merkwürdig, dass eine verbale Aussage jemanden – möglicherweise zu Recht – das politische Genick kostet, während Kriegstreiber wie Tony Blair, die Tausende Menschen in den Tod geschickt haben und für die körperliche und seelische Verstümmelung weiterer Tausender verantwortlich sind, unbehelligt bleiben bzw. immer noch Ansehen genießen. Azhar Ali lag bei der Wahl weit abgeschlagen auf dem vierten Platz.
Nach der Wahl entschuldigte sich wiederum Keir Starmer umgehend bei der Wählerschaft von Rochdale. Die Labour Party habe die Menschen in Rochdale im „Stich gelassen“. Es zeugt vom Klassenbewusstsein des Sir Keir Starmer, dass er den Wählern in Rochdale für die nächste Unterhauswahl einen „erstklassigen“ Kandidaten versprochen hat.
Bei der Siegesfeier Galloways wurden ihm von den Vertretern der Mainstreammedien etliche Fragen mit Unterstellungen gestellt. Eine Reporterin der BBC ließ anklingen, dass Galloway nur gewonnen habe, weil es keinen offiziellen Labour-Kandidaten gab. Galloway fragte sie daraufhin, ob sie eine Mitarbeiterin der Labour-Führung sei und ob er für solche Fragen seine Rundfunkgebühren bezahle. Danach merkte die Dame von der BBC an, dass die Wahlbeteiligung mit 39,7 Prozent sehr niedrig lag. Galloway konterte, dass dies ein für eine Nachwahl durchschnittlicher Wert sei.
Eine weitere mehr als hypothetische Frage war die, was Galloway zu seinen Wählern sagen werde, nachdem er sie enttäuscht habe. Zu Recht antwortete Galloway, dass man eine solche Frage doch bitte stellen solle, nachdem er eine längere Zeit im Parlament gesessen habe und nicht, bevor er überhaupt angefangen habe, seine Arbeit zu tun.
Einen Vorgeschmack auf die Sicht des Establishments gibt eine Frage, die ein Times-Radio-Journalist Galloways Wahlkampfmanager James Giles noch am Wahlabend stellte. Er fragte ihn nach der Sicherheit der Parlamentsabgeordneten. Giles antwortete, dass für George Galloway sicherlich die gleichen Sicherheitsvorkehrungen wie für die anderen Abgeordneten ergriffen würden.
Doch der Reporter verbesserte Giles und sagte, dass manch andere Abgeordnete jetzt um ihre Sicherheit fürchteten, wenn Galloway im Parlament säße. Joe Lauria nennt dies auf Consortium News eine „außerordentliche Frage“ und, dass es von einer „heimtückischen Denkweise bezüglich der Massaker in Gaza zeuge, wenn man sich nicht vor denen fürchte, die Genozid betreiben, sondern vor denen, die dagegen sind“.
George Galloway hat sicherlich harte und kantige Seiten, und er ist eine schillernde Figur, aber er hat auch Humor, und es klingt nicht wirklich überzeugend, dass sich andere Abgeordnete vor ihrem alten neuen Kollegen fürchten, sondern es scheint Teil einer Kampagne gegen wirklich Andersdenkende.
Aber vielleicht geht es diesmal nach hinten los, weil die Menschen merken, dass am herrschenden Narrativ, der herrschenden Ordnung und dem System an sich einiges falsch ist.