Mehr als sechs Jahre nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt laufen immer noch Ermittlungen. Die offizielle Version vom Alleintäter Anis Amri ist spekulativ und verhindert vor allem die tatsächliche Aufklärung. Die zentrale Ermittlungsbehörde verheimlicht seit Jahren, dass die Pistole des angeblichen Attentäters vor der kriminaltechnischen Untersuchung manipuliert, sprich gesäubert worden war. Von Thomas Moser.
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Lesen Sie zum Thema auch „Ein zweiter Mann im LKW“ und „Operation Breitscheidplatz“ und das Interview, das Marcus Klöckner mit Thomas Moser für die NachDenkSeiten zum Thema geführt hat.
Am 25. März 2021 machte Bundesanwalt Horst Salzmann im Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Anschlag vom Breitscheidplatz eine Ankündigung: Die Pistole, die Kleidung und die persönliche Habe von Anis Amri sollen von Italien nach Deutschland überstellt werden, um sie noch einmal gründlich kriminaltechnisch untersuchen zu lassen. Die Asservate lagerten in Italien, weil der angebliche Attentäter vier Tage nach dem Anschlag in dem Mailänder Vorort Sesto San Giovanni ums Leben gekommen war.
Mit der Pistole der Marke Erma soll Amri dort auf zwei Polizeibeamte geschossen haben, die daraufhin ihn erschossen. Mit dieser Pistole soll aber auch der polnische Speditionsfahrer getötet worden sein, dessen LKW am Abend des 19. Dezember 2016 in Berlin gekapert und anschließend in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz gelenkt wurde. 13 Menschen starben.
Die Ankündigung des Vertreters der Bundesanwaltschaft (BAW), die man auch als Misstrauen gegenüber den italienischen Ermittlern verstehen könnte, war vor allem einem eigenartigen „deutschen“ Versäumnis geschuldet. Nach Amris Tod reiste zwar eine Delegation des Bundeskriminalamtes sofort nach Italien, wurde dort aber nicht an den Ermittlungen beteiligt. Die Deutschen konnten den Toten, die Tatpistole und alle anderen Gegenstände nicht einmal direkt in Augenschein nehmen, sondern mussten sich mit Fotografien zufriedengeben – und sie gaben sich damit zufrieden. Auch Befragungen, zum Beispiel der beiden Polizeibeamten, die den Flüchtigen erschossen hatten, waren dem BKA nicht möglich.
Bei einer ersten Untersuchung wurden an der Waffe DNA-Spuren von vier Personen festgestellt: von Amri, dem polnischen Fahrer Lukasz Urban und Amris Mitbewohner Kamel A., der trotzdem nie als Tatverdächtiger galt. Die vierte Genspur konnte nicht entschlüsselt werden. Es gab aber noch ein Fragezeichen: Die Identität der Waffe, die Amri mit sich führte und mit der der polnische Fahrer erschossen worden sein soll, ergab sich durch den Vergleich der Geschosshülsen, aber nicht anhand des tödlichen Projektils. Das hatte sich zerlegt. Damit fehlte der sichere Nachweis.
Weil die Kritik von Opfern und Bundestagsabgeordneten nicht nachließ, entschloss sich die BAW zu dem ungewöhnlichen Schritt. Die Erma-Pistole sollte vor allem auf sogenannte Rückschleuderspuren im Inneren des Laufs hin untersucht werden, Blutspritzer oder Gewebeteile, möglicherweise vom Opfer Urban. Daneben sollte die Kleidung Amris mit Faserspuren aus dem LKW abgeglichen werden. Von Interesse ist aber auch, warum Amri im Besitz von zwei Zugfahrkarten von Turin nach Mailand war. Hatte ihn jemand auf dieser Strecke begleitet? Mit der Nachuntersuchung, so die Bundesanwaltschaft in ihrer amtlichen Begründung gegenüber Italien, sollten mögliche „Unterstützer oder Mittäter” identifiziert werden, die Amri bei der Flucht geholfen haben könnten.
In der öffentlichen Ausschusssitzung am 25. März 2021 hatte Bundesanwalt Salzmann, der in der Karlsruher Behörde für das Verfahren verantwortlich ist, die Nachuntersuchung so begründet: Man wolle ausschließen, dass jemand anderes als Amri der Täter war. Außerdem sollte Legendenbildungen vorgebeugt werden, unter denen die Opfer und Hinterbliebenen leiden würden.
Das Vorgehen wurde auch relativ zügig umgesetzt. Die oberste bundesdeutsche Ermittlungsbehörde forderte die Amri-Asservate an und die italienischen Behörden willigten ein. Am 22. Juni 2021 wurden die Asservate von Beamten des BKA in Italien abgeholt und im Auto nach Deutschland gebracht. Das war im Übrigen exakt in dem Zeitraum, als der Ausschussbericht dem Bundestagspräsidenten übergeben und dann im Plenum diskutiert wurde. Die Legislaturperiode ging zu Ende. Am 24. Juni 2021 wurde die Waffe in Kiel dem Institut für Rechtsmedizin an der Uniklinik zur Untersuchung übergeben. Diese Untersuchung nahm zwei Stunden in Anspruch. Anschließend nahmen die BKA-Kommissare die Waffe wieder in ihre Obhut und überbrachten sie der BKA-Dienststelle in Berlin, wo sie jetzt in der Asservatenkammer liegt.
Die Untersuchung führte zu einem irritierenden Ergebnis, mit dem nicht zu rechnen war: Es gibt an der ganzen Waffe keinerlei Spuren mehr. Konkret: Die RNA-Befunde seien, so die Kieler Forensiker; sämtlich „nicht auswertbar“. Bei DNA-Extrakten gäbe es vollständig „negative Ergebnisse“. Die inneren Oberflächen der Waffe (Laufinneres) erschienen auch bei „sorgfältigster Inspektion sehr sauber, ohne Antragungen von Schmutz, Öl, Schmauch, Ruß o.ä. und insbesondere ohne blut- oder gewebsverdächtige Anhaftungen.“
Die Untersuchungsbeauftragten Claas Buschmann und Cornelius Courts fassen ihre Ergebnisse in sachlichen Worten zusammen: „Es ließen sich auf keiner der inneren Oberflächen des Asservats Rückschleuderspuren oder anderes zellhaltiges Material nachweisen und charakterisieren. Ein in Anbetracht der Sauberkeit der Waffe plausibler Grund dafür kann in einer gründlichen und vollständigen Reinigung der Waffe liegen.“
Vor der Untersuchung hatten die BKA-Beamten die Forensiker noch gewarnt, die Waffe sei in Italien „zuletzt nicht (mehr) spurenschonend behandelt“ worden. Es könnte sich eine „Vielzahl von Spuren“ sogenannter „berechtigter Personen“ darauf befinden. Dann stellten die Wissenschaftler jedoch das Gegenteil fest: Es gibt praktisch keine Spuren mehr an dem Gegenstand.
Mit der Pistole waren auch zwei weitere Spurenträger mitgeliefert worden, die zur Spurensicherung durch den Lauf gezogen worden sein könnten. Die Forensiker stellten allerdings fest, dass diese Spurenträger keinen sogenannten Docht besaßen, der zur Abwischung des Spurenmaterials im Lauf nötig wäre.
Das BKA arbeitete nach und suchte den im Raum stehenden Manipulationsverdacht auszuräumen. Im November 2021 reichte es den Kieler Rechtsmedizinern noch ein solchen Docht nach, der bei der Untersuchung der Waffe in Italien auf Schmauchspuren verwendet worden sein soll. Als die Kieler ihn analysierten, stellten sie erneut fest, dass sowohl der RNA- als auch der DNA-Gehalt der Asservatenprobe „vollständig negativ“ war. „Das Asservat enthält kein biologisches Spurenmaterial“, so ihre Bewertung.
Das Ergebnis ist alarmierend, passt aber zu den zahllosen Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten im Anschlags- und Ermittlungskomplex: eine weitere Manipulation. Doch wer hat die zu verantworten: Die italienischen Ermittler oder die deutschen? Oder beide im Zusammenspiel? Und warum diese Veränderungen an der Waffe? Weil der Spurenzustand nicht mit der offiziellen Version vom Alleintäter Amri zusammengepasst hätte?
Der deklamierte Nachweis, man wolle ausschließen, dass jemand anderes als Amri der Täter war, konnte jedenfalls nicht erbracht werden. Und die beabsichtigte Vorbeugung einer Legendenbildung führte zum exakten Gegenteil: Die zentralen staatlichen Ermittlungsinstanzen sind Teil des Manipulationsgeschehens.
Das führt zur zweifelhaften Rolle, die nicht nur das BKA, sondern auch die BAW in der Sache spielen. Der Behördenvertreter hatte im März 2021 vor der Öffentlichkeit das Vorgehen vor allem mit den Interessen der Opfer bzw. Hinterbliebenen des Anschlags begründet. Daraus ergibt sich logischerweise die Konsequenz, die man auch als Verpflichtung ansehen kann, die Ergebnisse mitzuteilen. Dass die kriminaltechnische Untersuchung der Erma-Pistole bereits im Juni 2021, also vor über zweieinhalb Jahren erfolgt war, wurde von der BAW bislang allerdings erfolgreich verheimlicht. Auch auf wiederholte Presseanfragen hin hat sie dieses Ergebnis nie mitgeteilt, sondern im Gegenteil eher vernebelt.
Im November 2021 hatte ich zum ersten Mal bei der Karlsruher Behörde nachgefragt, ob die Amri-Asservate inzwischen in Deutschland untersucht worden seien.
Antwort Generalbundesanwalt (GBA), November 2021: „Die Asservate werden derzeit kriminaltechnisch untersucht. Ich bitte um Verständnis, dass ich vor dem Hintergrund der laufenden Ermittlungsmaßnahmen keine weiteren Auskünfte erteilen kann.”
Im Mai 2022 erfolgte meine zweite Nachfrage nach dem Stand der Untersuchungen.
Antwort GBA Mai 2022: „Die Auswertungen der Asservate aus Italien dauern an. Leider ist mir eine Einschätzung, wann die Auswertungen abgeschlossen werden können, derzeit nicht möglich.“
Nachfrage Juni 2022: „Sind die Auswertungen der Asservate Amris aus Italien mittlerweile abgeschlossen? Wenn ja, mit welchem Ergebnis?“
Antwort GBA Juli 2022: „Die Auswertung der Asservate dauert an. Wann diese abgeschlossen sein wird, kann ich leider weiterhin nicht einschätzen.“
Nachfrage August 2022: „Können Sie inzwischen etwas zu der Auswertung der Amri-Asservate sagen?“
Antwort August 2022: „Nein, die Auswertung ist noch nicht abgeschlossen.“
Nachfrage November 2022: „Können Sie inzwischen etwas zur Auswertung der Amri-Asservate aus Italien sagen?“
Antwort Dezember 2022: „Der Sachstand ist unverändert. Ich bitte um Verständnis, dass ich Ihnen derzeit keine weiteren Auskünfte erteilen kann.“
Nachfrage Januar 2023: „Trifft es zu, dass die Erma-Pistole, die Amri in Italien dabeihatte, in gesäubertem Zustand in Deutschland eintraf bzw. in gesäubertem Zustand bei Ihrer Behörde (bzw. dem BKA) vorliegt?“
Antwort Januar 2023: „Ich bitte um Verständnis, dass wir uns nicht zu Einzelheiten der noch andauernden Asservatenauswertung äußern.“
Nachfrage Januar 2023: „Ist absehbar, wann mit Ergebnissen der Auswertung gerechnet werden kann? Können Sie eine Aussage machen, warum die Auswertung so lange dauert?“
Keine Antwort.
Nachfrage April 2023: „Ich erneuere hiermit meine Fragen zu den Amri-Asservaten. Sollten Sie dazu weiterhin keine Auskünfte erteilen, erwarte ich eine Erklärung dafür. Die öffentliche Bekundung von BA Salzmann ist inzwischen zwei Jahre her. Herr Salzmann hat im März 2021 auch mit den Empfindungen der Opfer und Hinterbliebenen argumentiert, die darunter leiden würden, dass sie keine Klarheit hinsichtlich der Asservate haben. Gilt das seitens der Behörde des GBA immer noch? Sind Sie der Auffassung, dass die ausbleibenden Auskünfte die Opfer und Hinterbliebenen zufriedenstellen?“
Antwort April 2023: „Ich kann Ihnen mitteilen, dass die Untersuchung der aus Italien übersandten Asservate inzwischen vorläufig abgeschlossen wurde. Ich bitte um Verständnis, dass wir uns angesichts der insgesamt fortdauernden Ermittlungen zu Einzelheiten nicht äußern.“
Nachfrage Juli 2023: „Könnten Sie einen Überblick zum Stand der Ermittlungen geben? Zu welchen Fragen laufen sie noch? Wo wurden sie beendet und mit welchem Resultat?“
Antwort Juli 2023: „Bitte haben Sie Verständnis, dass wir uns mit Blick auf die fortdauernden Ermittlungen weder zu deren Stand noch zu Details der Ermittlungen äußern.“
Nachfrage Oktober 2023: „Können Sie zum Stand der Breitscheidplatz-Ermittlungen inzwischen Angaben machen?”
Antwort Oktober 2023: „Ich kann Ihnen mitteilen, dass die Ermittlungen weiterhin andauern.“
Nachfrage Februar 2024: „Laufen die Ermittlungen im Fall Anschlag Breitscheidplatz noch? Wie ist der Stand? Wie jüngst zu erfahren war, wurde die kriminaltechnische Untersuchung der Erma-Pistole, die Anis Amri bei sich hatte, bereits im Juni 2021 mit negativem Ergebnis abgeschlossen. Es waren vermutlich aufgrund einer gründlichen Reinigung der Waffe keine Spuren mehr nachweisbar. Wie bewertet die Bundesanwaltschaft diesen Sachverhalt? Wer ist für diese ‚Reinigung‘ bzw. Spurenbeseitigung verantwortlich? Warum hat Ihre Behörde das nicht öffentlich kommuniziert? Wer wurde über den Befund in Kenntnis gesetzt: Regierung? Bundestag? Innenausschuss?“
Antwort Februar 2024: „Ich kann Ihnen mitteilen, dass die Ermittlungen in dem Sie interessierenden Sachverhalt noch andauern. Gerade bei noch laufenden Ermittlungen äußern wir uns grundsätzlich nicht zum Ermittlungsstand oder zu einzelnen Verfahrensdetails. Ebenso wenig erteilen wir Auskünfte zur internen Kommunikation mit anderen Behörden und nehmen auch keine Bewertungen vor.“
Unbeantwortet ist bisher auch, zu welchen Ergebnissen die Untersuchung der anderen Asservate führte. Was ergab der Abgleich von Fasern an Amris Kleidung mit Fasern aus dem Inneren des LKW? Was ist mit den zwei Zugtickets nach Mailand, die Amri bei sich hatte? Fanden sich darauf Fingerprints und DNA-Spuren? Und welches Institut wurde mit dieser Untersuchung beauftragt?