Über „antisemitisches Klatschvieh beim Reichstreffen der Filmschaffenden“, oder wie das deutsche Establishment reagiert, wenn internationale Künstler in Berlin Preise bekommen und zum Frieden aufrufen. Von Philipp von Becker.
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Einmal kurz die Fakten: Ein israelischer und palästinensischer Regisseur erhalten für ihren Dokumentarfilm „No Other Land“, in dem die Brutalität der Besatzung im Westjordanland gezeigt wird, von einer Jury, der u.a. der große deutsche Dokumentarist Thomas Heise angehörte, den Dokumentarfilmpreis der Berlinale sowie vom Publikum den Panorama-Publikumspreis. Der israelische Regisseur Yuval Abraham weist in seiner Dankesrede darauf hin, dass bei Rückkehr für seinen palästinensischen Kollegen Basel Adra im besetzten Westjordanland nicht dasselbe Recht gelte wie für ihn, fordert einen Waffenstillstand, eine politische Lösung und das Ende der Besatzung. Adra sagt, es falle ihm schwer, den Preis zu feiern, während in Gaza weiterhin Menschen getötet werden, und fordert, Deutschland solle keine Waffen mehr nach Israel senden.
Bereits dies hätte wohl ausgereicht, um die im Folgenden aufgeführten Reaktionen hervorzurufen. Das schlimmste Verbrechen beging allerdings der amerikanische Filmemacher Ben Russel. Ausgezeichnet für den Film „Direct Action“ wagte er es nicht nur, mit einem Palästinenser-Schal aufzutreten, sondern in seiner Dankesrede auch das Wort „Genozid“ in den Mund zu nehmen. Und so ließen die Reaktionen einer Republik im Wahnzustand nicht lange auf sich warten.
Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner sprach sogleich von einer „untragbaren Relativierung“, ohne auszuführen, was von wem „relativiert“ worden sei. Er erwarte von der neuen Leitung der Berlinale, „sicherzustellen, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen“, und verstieg sich zu der dem Völkerstrafrecht widersprechenden Aussage, dass die „volle Verantwortung für das tiefe Leid in Israel und dem Gazastreifen“ bei der Hamas liege. Eine „perfide Täter-Opfer-Umkehr“, meinten auch der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Konstantin von Notz, und FDP-Vorstandsmitglied Linda Teuteberg erkannt zu haben, welche zudem den Genozid-Vorwurf als „absurd“ bezeichnete. Dass ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof läuft, dessen Richter das Risiko eines Genozids in Gaza als „plausibel“ eingestuft haben, scheint auch dem notorisch Falschaussagen verbreitenden Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Michael Roth (SPD), entgangen zu sein, der die Ausführungen gewohnt ignorant als „Gefasel vom Genozid“ abqualifizierte. Da wollte sich auch Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU) mit provinzieller Ahnungslosigkeit und antidemokratischer Haltung nicht hintanstellen und verkündete, dass die Preisverleihung von „selbstgerechter antiisraelischer Propaganda“ geprägt gewesen sei, die „nicht auf die Bühnen Berlins“ gehöre.
Sekundiert wurden solche nur exemplarisch zitierten Stimmen aus der Politik umgehend aus den Redaktionen. Der Chefredakteur des Tagesspiegels Christian Tretbar bezeichnete die Preisverleihung als „peinlich, beschämend, verstörend und propagandistisch“ und „Pro-Palästina-Show“, bei der „die Kultur“ (sic!) als „seriöser Ort des Dialogs“ versagt habe. SZ-Redakteur Nils Minkmar ließ titeln: „Die Schande von Berlin. Skandalverleihung bei der Berlinale“, für NZZ-Redakteur Alexander Kissler war die Berlinale ein „Klassentreffen der Israelhasser“, und WELT-Chefredakteurin Jennifer Wilton konnte sich das sehr originelle Wortspiel „Palinale“ nicht verkneifen. Ihre Kollegin Anna Schneider proklamierte sogleich, es sei „nicht zu verantworten“, dass „für derlei Antisemitismus im Rahmen der Berlinale Steuergeld ausgegeben wird“, und forderte deshalb: „defund Berlinale“.
Dem schlossen sich die sensiblen Kunstexperten der Jungen Union sowie der „Chairman“ einer PR-Agentur und CDU-Anhänger Axel Wallrabenstein an, welcher auf X gerne durch ungeniert islamophobe und rassistische Äußerungen auffällt und pikanterweise auch im Vorstand des international (ehemals?) renommierten Ausstellungsortes „KW Institute for Contemporary Art“ in Berlin sitzt: „Da hilft nur: Geldhahn abdrehen und zwar sofort!“ Noch unverblümter durfte dies Ex-BILD-Chef Julian Reichelt ganz im Geiste seiner alten Redaktion formulieren: Claudia Roth sei „eine Schande für dieses Land“ und die „Steuergeld-Bankerin des Judenhass“. Sie gehöre „hochkant gefeuert.“ Großintellektuelle wie Roland Tichy konnten da nur beipflichten, die Documenta und Berlinale seien von Claudia Roth zerstört worden und könnten jetzt beide „weg“. Eine „Anschlussverwendung“ für Frau Roth hatte wiederum Herr Kissler schon parat: Vielleicht brauche „eine aufstrebende Band aus dem Westjordanland oder aus Teheran dringend eine Managerin“.
Roth möchte freilich noch auf ihrem Posten verbleiben und verkündete am Montag sogleich pflichtschuldig: „Die Statements bei der Bärenverleihung der Berlinale am Samstagabend waren erschreckend einseitig und von einem tiefgehenden Israel-Hass geprägt.“ Die von ihr geleitete Behörde ließ sich auch nicht lumpen und stellte in einem peinlichen Rechtfertigungsstatement ganz offen Rassismus zur Schau, indem man ausführte, dass Frau Roths Applaus dem jüdisch-israelischen Regissuer Yuval Abraham gegolten habe, ergo nicht dem neben ihm auf der Bühne stehenden palästinensischen Co-Regisseur Basel Adra.
Den (wohl justiziablen) Höhepunkt der Verblendungsorgie des bundesrepublikanischen Narrenschiffs lieferte allerdings ein deutscher Universitätsprofessor. Jan Schnellenbach, Wirtschaftsprofessor an der TU Cottbus-Senftenberg, kommentierte auf X: „Antisemitisches Klatschvieh beim Reichstreffen der Filmschaffenden, Opa Goebbels wäre stolz.“
Die Liste solcher Äußerungen ließe sich noch beliebig fortführen, doch Einblicke in die wirren Gedankenwelten von Jan Fleischhauer (Focus), Claus Strunz (Ex-BILD), Filipp Piatov (BILD), dem selbst ernannten „Waffenlieferungsultra“ Julian Röpcke (BILD) oder Volker Beck (Ex-Crystal Meth?) seien den geneigten Lesern erspart und nur noch auf den ehemaligen Staatssekretär und derzeitigen CDU-Bundestagsabgeordneten Marco Wanderwitz verwiesen. Dieser hatte sich in der Vergangenheit bereits durch besonders charmante Forderungen hervorgetan (Griechenland solle seine Inseln privatisieren und sich ungesund Ernährende sollten höhere Krankenkassenbeiträge zahlen) und ist laut Recherchen bei der regimenahen Lobbyfirma „The European Azerbaijan Society” als Kontakt aufgeführt. Da ließ er es sich auch anlässlich der Berlinale nicht nehmen, zu verlautbaren, dass Kritik an Israel nichts mit Kunstfreiheit zu tun habe, und zu drohen: „Diese Berlinale müssen wir als Bundeskulturpolitik sehr genau auswerten.“ Man ist geneigt zu sagen: Ja, unbedingt sollte Kunst nur noch nach staatlicher Genehmigung gezeigt werden dürfen, schließlich haben wir hierzulande damit schon einschlägige Erfahrungen gemacht.
Für Union und Publikationen der Axel Springer SE – die im Übrigen mit illegalen israelischen Siedlungen Geld verdient – mögen Rassismus und Zensuraufrufe noch als trauriges „business as usual“ zu verbuchen sein. Doch dass auch weite Teile der sogenannten „bürgerlichen Presse“ sowie Vertreter ehemals als „links“ geltender Parteien nicht auf die Idee kommen, dass der Protest herausragender Filmkünstler auf einem der wichtigsten Filmfestivals der Welt nicht mit Antisemitismus, sondern mit 30.000 getöteten Menschen (davon 12.000 Kindern), einem komplett zerstörten Gazastreifen, 1,7 Millionen Vertriebenen, Jahrzehnten Apartheid, einer von Hungersnot bedrohten Bevölkerung und offen geäußerten genozidalen Absichten einer rechtsextremen Regierung zu tun hat, ist ein erbärmliches Schreckenszeugnis für eine sich für demokratisch und aufgeklärt haltende Gesellschaft. In den Reaktionen auf die Preisverleihung der Berlinale offenbarten sich nicht nur latenter bis offener Rassismus und gebündelte Ignoranz, sondern auf erschreckende Art auch Verachtung von Kunst und Kultur sowie im Ruf nach staatlicher Zensur ein nur rudimentär entwickeltes Demokratieverständnis.
Die traurige Realität hierbei ist: Nicht diejenigen, die gegen die Kriegsverbrechen einer rechtsextremen Regierung und Jahrzehnte Apartheid protestieren, sondern diejenigen, die dies weiterhin rechtfertigen, sind diejenigen, die Antisemitismus befördern und mit ihren haltlosen Anschuldigungen den Antisemitismusbegriff vollkommen entwerten. Unverhohlen wird dabei nicht nur seitens der Spingerpresse und anderer rechter Medien ein antimuslimischer und antiarabischer Rassismus zur Schau gestellt, der einen für die Zukunft des Landes erschaudern lässt. So wurde am 11. November vergangenen Jahres auf X fleißig ein Interview mit dem rechtsextremen Propagandisten Douglas Murray geteilt, in dem dieser auf perfide Art und Weise den Holocaust verharmloste. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hatte das Video in einem dann gelöschten Post als „extrem sehenswert“ und die trotz Interessenkonflikten weiterhin als Mitglied des Sachverständigenrats Wirtschaft amtierende Veronika Grimm als „wirklich großartig“ bezeichnet. Auch der Antisemitismus-Beauftragte des Landes Baden-Württemberg Michael Blume und Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien hatten sich begeistert gezeigt. Letztere hatte den Post von Jan Fleischhauer, in dem er das Interview als „großartig“ anpries, geteilt und geschrieben: „Ansehen und zuhören“.
Festzuhalten ist: Durch all dieses diskursive Elend, den verkappten und offenen Rassismus und die zahlreichen Cancelungen, die hier tabellarisch gesammelt werden, verzwergt sich Deutschland zur kulturellen und wissenschaftlichen Provinz. Der Ansehensverlust im Ausland ist bereits jetzt gewaltig.
Und zu ergänzen ist noch die traurige Nachricht, dass der israelische Regisseur Yuval Abraham indes auch in Israel als „Antisemit“ verunglimpft wurde und seit der Preisverleihung Morddrohungen erhält. Schockierende aktuelle Berichte über Zensur, Unterdrückung und Kriminalisierung von Anti-Kriegsprotesten, Folter, Tötungen, Tötungsversuche, Vertreibungen und die Zerstörung von Eigentum in Israel und im besetzten Westjordanland finden sich hier und hier.
Titelbild: Denis Makarenko / Shutterstock