Das Online-Magazin Telepolis vom Heise Verlag hat vor alle Beiträge, die vor 2021 erschienen sind, einen Disclaimer gestellt. Darin heißt es, der vorliegende Beitrag könnte „möglicherweise in Form und Inhalt nicht mehr den aktuellen journalistischen Grundsätzen der Heise Medien und der Telepolis-Redaktion“ genügen. Am Wochenende hat sich nun der ehemalige Chefredakteur des Magazins mit kritischen Worten geäußert. Ein Kommentar von Marcus Klöckner.
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Es ist eine eigenartige Zeit. Bevor etwas gesagt wird, müssen sich zunächst alle von allem distanzieren. Und wenn sie sich von allem distanziert haben, bitten sie noch einige Male vorab um Verzeihung. Ausgeschlossen werden soll so, dass sich die Fraktion der taktisch sensiblen Vertreter eines woken Zeitgeistes über eine geäußerte Meinung verärgert fühlen. Das kann man machen. Man könnte aber auch einfach Rückgrat besitzen und zu seiner Sicht stehen. Zu sehen, was das Online-Magazin Telepolis sich leistet, schmerzt. Es schmerzt mich als Autor, der gerne für das Magazin geschrieben hat. Vor allen Beiträgen, die vor 2021 erschienen sind, findet sich der folgende Disclaimer:
Der folgende Beitrag ist mehrere Jahre alt und entspricht daher möglicherweise in Form und Inhalt nicht mehr den aktuellen journalistischen Grundsätzen der Heise Medien und der Telepolis-Redaktion. Ausführliche Informationen zu unserer Arbeit und unseren Grundsätzen finden Sie in unserem Leitbild.
Was denkt ein Leser, wenn er auf solche Zeilen stößt? Mir als Leser drängt sich der Verdacht auf: Hier liegt – das kann nicht ausgeschlossen werden – ein minderwertiges journalistisches Produkt vor. Warum sollte ich für einen derartigen Beitrag Lesezeit investieren? Die Frage steht im Raum: Entspricht der Beitrag nun „in Form und Inhalt nicht mehr den aktuellen journalistischen Grundsätzen“ oder nicht? Aber vor allem auch: Was heißt hier „aktuelle journalistische Grundsätze“? Welche Grundsätze haben sich geändert? Die Kerngrundsätze journalistischer Arbeit haben vor 30 Jahren genauso gegolten wie es heute der Fall ist. Zumindest theoretisch. In der Praxis hat sich innerhalb vieler Medien eine Art Zombiejournalismus etabliert. Journalistisch maximal entkernt, dafür weltanschaulich maximal im Sinne des woken Zeitgeistes aufgeladen. Doch das ist ein eigenes Thema.
Mit diesem Disclaimer wertet Telepolis die Arbeit aller seiner Autoren, die vor 2021 dort Beiträge publiziert haben, pauschal ab. Die Verantwortlichen werten auch die Arbeit der Redaktion ab, die über viele Jahre ein innovatives Autorenmagazin ermöglicht hat. Auch das veröffentlichte „Leitbild“, auf das die Redaktion sich bezieht, vermag den Schritt hin zu dem Disclaimer nicht befriedigend zu erklären. Telepolis, das darf man ruhig sagen, hatte Mediengeschichte geschrieben. Es war das erste rein internetbasierte Magazin im deutschsprachigen Internet. Für seine journalistischen Leistungen erhielt das Magazin Preise. Die Autorin Christiane Schulzki-Haddouti wurde 2000 zusammen mit der Telepolis-Redaktion für investigative Recherchen zum Thema „Enfopol-Überwachung“ ausgezeichnet. Es gab den Europäischen Preis für Online-Journalismus der Medien-Konferenz Net-Media 2000 in der Kategorie „Investigative Reporting“. 2002 folgte der Grimme Online Award in der Kategorie Medienjournalismus und 2004 den Lead Award für spezialisierte Onlinemagazine. Die damals ausgezeichneten Beiträge sind heute mit einem Disclaimer versehen.
Florian Rötzer hat das Projekt aufgebaut, Anfang 2021 gab er den Stab an Harald Neuber ab. Als ich durch Leser auf den Disclaimer aufmerksam gemacht wurde, habe ich das Gespräch mit Neuber gesucht. Es war ein kurzer Mailaustausch. Respektvoll, aber nicht konstruktiv. Die Hintergründe, die zur Etablierung dieses Disclaimers geführt haben, sind mir bis jetzt noch immer nicht sinnvoll nachvollziehbar. Der Disclaimer steht jedenfalls da. Was kommt als nächstes? Heute findet sich eine pauschale Distanzierung vor diesen Artikeln. Und morgen? Werden Beiträge, die dem Zeitgeist entgegenstehen, umgeschrieben? Verschwinden sie aus dem Archiv? Übernimmt der Geist von Orwell irgendwann? Dass bei einem Magazin wie Telepolis Journalismus im Vordergrund steht, ist sehr zu begrüßen. Ein Disclaimer, der als Unterwerfung unter einen woken Zeitgeist verstanden werden kann, hat aber mit Journalismus nichts zu tun. Möge sich die Vernunft durchsetzen.
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