Zwei Mapuche sind angeklagt, eine Großgrundbesitzerin erpresst zu haben. Die Angeklagten sind Oberhäupter einer Gemeinde und befinden sich seit zehn Monaten in Untersuchungshaft. Die Protestierenden vor dem Gerichtsgebäude sprechen von politischer Verfolgung und institutionellem Rassismus. Die Regierung Boric versprach einen neuen Umgang mit den indigenen Mapuche. Davon ist nach zwei Jahren Amtszeit wenig geblieben. Von Malte Seiwerth.
Der Prozess ist einer von vielen, die derzeit im Wallmapu, dem historischen Siedlungsgebiet der Mapuche, stattfinden. Und sie sind Teil einer politischen Strategie, die die linksreformistische Regierung unter Gabriel Boric verfolgt. Einerseits tagt derzeit eine überparteiliche Kommission zu einer Lösungsfindung über den Landkonflikt der Mapuche, andererseits steht das Gebiet weiter unter Kontrolle des Militärs, und Dutzende von Mapuche werden wegen Landbesetzung, Gewalttaten und Erpressung angeklagt.
Ein Landkonflikt
Es sind Szenen, wie sie scheinbar häufig im Wallmapu vorkommen. Vor Gericht beschreibt die Staatsanwaltschaft, wie die beiden Mapuche als Vertreter ihrer Gemeinschaften von einer benachbarten Großgrundbesitzerin Geld verlangen, damit ein Unternehmen auf ihrem Grundstück den Tannenwald abholzen kann. Nachrichten, die per WhatsApp verschickt wurden, lauten: „So lange wir kein Geld sehen, verlässt keine Maschine den Forst.”
Verlangt wurden umgerechnet etwa 18.000 Euro. Einer der Angeklagten wurde am Tag der Übergabe von der chilenischen Polizei (Carabineros) festgenommen. Die Festnahme des Zweiten folgte wenige Tage später. Die Angeklagten, der Lonko Guillermo Ñirripil und der Werken José Pichunhuala, erfüllten wichtige Aufgaben innerhalb ihrer Gemeinschaft. Lonko wird im Allgemeinen als Oberhaupt und Werken als Krieger übersetzt.
Die Verteidigung spricht von einer langfristigen Beziehung, in der die Besitzerin regelmäßig die Gemeinschaft unterstützt hat – auch als Wiedergutmachung dafür, dass ihr Grundstück auf Land steht, dass ursprünglich den Mapuche gehört hat und der Anbau von Tannenbäumen zu Wassermangel führte.
Außerhalb des Gerichts erklärt Jonathan Melihuen, der als Sprecher der Unterstützer vor Ort fungiert: „Es handelt sich um eine politische Verfolgung.” Ñirripil und Pichunhuala hätten zur Aufgabe gehabt, die Natur der Umgebung zu schützen. Da der Forst mit eingeschleppten und schnell wachsenden Bäumen zu einer Senkung des Grundwasserspiegels geführt hat, habe man die Besitzerin um Geld gebeten, um für die Gemeinde einen Brunnen zu bauen.
„Der Staat sagt in schönen Worten, dass er eine historische Schuld gegenüber dem Volk der Mapuche hat. Aber in der Praxis bleibt er bei diesem Satz und geht nicht weiter”, erklärt Melihuen und verteidigt die Aktionen der Gemeinschaft, denn sie müssten für ihr historisches Recht kämpfen. In der Praxis, so Melihuen, „werden ständig neue Gesetze geschaffen, die unseren Kampf kriminalisieren”.
Die harte Hand der Regierung Boric
Ursprünglich hatte die im März 2022 angetretene Regierung Boric eine neue Beziehung zu den Indigenen und insbesondere den Mapuche versprochen. Noch am Tag der Amtseinführung kündigte die Regierung den Rückzug des bis dahin stationierten Militärs an und suchte offen den Dialog mit militanten Mapuche. Doch ein gescheiterter Besuch bei einer Gemeinschaft durch die damalige Innenministerin Izkia Siches, nur vier Tage nach Amtsantritt, löste einen Kurswechsel aus. Grund dafür waren Warnschüsse, die abgegeben wurden, um den Tross der Innenministerin daran zu hindern, die Gemeinschaft zu betreten.
Seitdem herrscht wieder der Ausnahmezustand im Wallmapu. Das Militär ist in der Región de la Araucanía und der Provinz des Bío-Bío für die Sicherheit zuständig. An bestimmten Orten gibt es Straßensperren, während gepanzerte Wagen durch die Gemeinden patrouillieren. Gleichzeitig verüben militante Organisationen Anschläge auf Forstunternehmen und Großgrundbesitzer, während Gemeinschaften immer wieder Ländereien besetzen, die ursprünglich den Mapuche gehörten. Gegenüber den Medien bezeichnete Boric die militanten Aktionen als „Terrorismus” und kündigte an, „alle Werkzeuge, die uns das Gesetz gibt, einzusetzen”.
Das zeigt sich auch im Fall von Pichunhuala und Ñiripil, hier tritt die Regierung als Nebenklägerin auf. Trotz mehrerer Nachfragen gibt die Pressestelle kein Statement dazu ab. Es heißt einzig, man sei derzeit mit vielen Waldbränden beschäftigt und hätte daher keine Zeit.
Im November 2023 wurde mit Unterstützung der Regierungsparteien ein Gesetz gegen Landbesetzungen verabschiedet, das Räumungen erleichtert und die Strafen erhöht. Der Unternehmerverband der Araucanía hatte unter anderem auf eine rasche Verabschiedung des Gesetzes gepocht. In einer Pressemitteilung sprach der Verband von „Straflosigkeit”, da von 150 Landbesetzungen jährlich gerade einmal ein Prozent mit Strafen verfolgt werden. „Viele Opfer warten Jahre darauf, ihre Ländereien zurückzubekommen”, erklärt der Verband.
Versuch des Dialogs
Neben der Verfolgung von politisch motivierten Straftaten kündigte die Regierung im November 2023 eine überparteiliche Kommission für Frieden und gegenseitiges Verständnis an. Bestehend aus vier Mapuche und vier Vertreter der Unternehmen in der Region, sollte diese einen Fahrplan zur Rückgabe der Ländereien entwerfen.
Ein halbes Jahr nach der Einsetzung gibt es noch wenig Vorankommen, erzählt Kommissionsmitglied und Mapuche Adolfo Millabur: „Wir befinden uns weiterhin in der Phase der Anhörungen.” Dies sei durchaus ein Fortschritt, erklärt Millabur, er hätte mitbekommen, wie sich stramm rechte Kommissionsangehörige, wie Sebastián Naveillán, langsam dahingehend geöffnet hätten, die Position und Meinungen der Mapuche zumindest anzuhören.
Millabur, der die militanten Aktionen vieler Mapuche versteht, aber selbst eine andere politische Strategie zur Rückgabe der Ländereien verfolgt, sieht keinen Widerspruch in der Militarisierung der Wallmapu und dem Bestehen der Kommission. „Das eine ist die aktuelle politische Situation, das andere ist die Hoffnung auf langfristige Lösungsansätze.”
Doch es sei nur dank der militanten Aktionen möglich geworden, dass sich nun Unternehmer und Mapuche an einen Tisch setzen. „Die Situation ist mittlerweile für alle unhaltbar”, sagt er dazu. Früher seien nur die Mapuche Leidtragende gewesen, heute auch die Unternehmer, die um Ernteeinträge, Maschinen und zum Teil auch ihr Leben fürchten.
Auch wenn bisher in den Sternen steht, ob die Kommission zu einer gemeinsamen Lösung kommt, Millabur hofft darauf, hier die Landfrage klären zu können und somit einen Weg der institutionellen Lösung des Konflikts zu finden.
Fünf Jahre Haft
In Temuco geht derweil der Prozess gegen Pichunhuala und Ñiripil weiter. Während die Richterin mit deutschem Nachnamen nach anfänglichen Schwierigkeiten die Nachnamen der Mapuche aussprechen kann, zeigt sich ein düsteres Bild für die Verteidigung. Trotz fehlender Zeugen, die eigentlich von der Staatsanwaltschaft aufgeführt waren, ist die Beweislast aufgrund von WhatsApp-Nachrichten erdrückend.
Die Staatsanwaltschaft versucht auf Basis eines teuren Pickups, der Ñirripul gehört, die Geschichte zweier gewalttätiger Personen darzustellen, die Anschläge verübten und in reinem Eigennutz handelten. Die Verteidigung zeigt anhand von Nachfragen, dass dafür die Beweislast zu gering ist und viele Beweise nicht eingeholt wurden. So wurde nicht einmal Einsicht in die Bankkonten der Angeklagten genommen.
Die Verteidigerin von Pichunhuala, Manuela Royo, meint: „Das ist ein paradigmatischer Fall im Kontext des Kampfes um Rückgabe der Ländereien.” Man klage indigene Oberhäupter an und versuche auf gerichtlichem Weg, einen historischen Konflikt zu lösen. Sie kritisiert dabei die Haltung der Regierung, die in vielen solcher Fälle als Nebenklägerin auftritt und sich auf die Seite der Forstunternehmen geschlagen hätte. „Hier braucht es eigentlich eine politische Lösung”, betont sie. Die eingeschlagene Richtung sei falsch, „der Kompass dreht sich in Richtung Faschismus”, ist sich Royo sicher.
In den Jahren 2021 und 2022 war Royo Vertreterin im Verfassungskonvent, der damals eine neue, progressive Verfassung ausarbeitete. „Schon die Anerkennung der Indigenen auf Verfassungsebene hätte einen Weg der politischen Lösung geöffnet”, erklärt sie. Heute sieht sie kein Licht am Ende des Tunnels, denn auch die derzeit tagende Kommission hätte kaum Fortschritte gemacht.
Nach vier Tagen Verhandlungen verkündet das Gericht am 25. Januar das Urteil. Beide Angeklagten werden wegen Erpressung zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die Verteidigung kündigt an, in die nächste Instanz zu gehen.
Diese Reportage erschien zuerst auf Amerika21.
Titelbild: Shutterstock / Alex Maldonado Mancilla
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