Die „Rente mit 63“ gibt es gar nicht mehr und trotzdem soll sie weg. Neoliberalen Ökonomen, Wirtschaftsverbänden, Union, FDP und Grünen missfällt es, wenn Menschen nicht bis zum Umfallen schuften und verkaufen ihre Attacke mit „Fachkräftemangel“. Dass es in Wirklichkeit um die nächste von schon etlichen Kürzungen der Altersgeldansprüche geht, sagen sie nicht, so wenig wie: Arbeit im Ruhestand boomt wie nie, Altersarmut sowieso und die Privatversicherer hauen schon Millionen Kunden übers Ohr. Aber mehr geht immer. Von Ralf Wurzbacher.
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Für Martin Werding gibt es kein Vertun: „Schafft die Rente mit 63 ab!“. Der Mann ist sogenannter Rentenexperte und steht als eines fünf Mitgliedern des „Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ im Ruf, ein „Wirtschaftsweiser“ zu sein. Von einem Weisen erwartet man Scharfsinn, Verständigkeit und Besonnenheit im Bemühen, einen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen herbeizuführen. Das ist nicht Werdings Ding. Er spaltet viel lieber, polarisiert, verkürzt und bedient vor allem die Interessen derer, die schon viel haben und noch mehr haben wollen. Dass dabei für andere weniger bleibt und bleiben muss, gehört für ihn ganz natürlich dazu. Und irgendwie ist das ja auch eine Form des Ausgleichs.
Damit das hinhaut, haut Werding argumentativ schon mal daneben. Die „Rente mit 63“, die er abgeschafft sehen will, ist jetzt schon Schnee von gestern. Die Zuschreibung traf nach der Einführung der Regelung 2014 lediglich für zwei Jahrgänge zu, die von 1952 und 1953. Nur sie konnten sich, sofern sie 45 Jahre lang in die Rentenkasse eingezahlt hatten, mit 63 Jahren ohne Abschläge vorzeitig aufs Altenteil zurückziehen. Für nachfolgende Jahrgänge stieg und steigt die Altersgrenze sukzessive an. Inzwischen liegt diese bei 64 Jahren und vier Monaten für Menschen, die vor 1960 zur Welt kamen. Jüngere müssen noch länger warten beziehungsweise arbeiten. Für 1964 und alle später Geborenen gibt es die abschlagsfreie Rente frühestens mit 65 Jahren, womit sie bloß zwei Jahre früher ohne Abzüge in den Ruhestand gehen können als der große Rest. Bis 2031 wird die Regelaltersrente ohne Abschläge bekanntlich schrittweise auf 67 Jahre angehoben.
Die nächste Kampagne
Daraus folgt: Eigentlich ist die „Rente mit 63“ eine Mogelpackung und eigentlich schafft sie sich von selbst ab. Das weiß auch der weise Herr Werding, nimmt es aber nicht so genau. Er hat ein höheres Ziel im Blick, zumindest gibt er das vor: Die vom sogenannten Fachkräftemangel gebeutelte Wirtschaft mit rüstigen Arbeitskräften jenseits der 64 – und am besten mit noch viel älteren – zu versorgen. Dafür seien „Fehlanreize für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, frühzeitig aus dem Arbeitsleben auszuscheiden, zu beseitigen“, verlangt er und liefert gleich das passende Stigma für die Betroffenen mit. Denn „in der Regel“ wären diese „überdurchschnittlich gesund“. Das knüpft an eine frühere Äußerung von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grünen-Partei) an. Der hatte schon im September gesagt: „Wir können es uns nicht leisten, dass hauptsächlich eigentlich gesunde und gut verdienende Menschen mit 63 in Rente gehen.“ Diejenigen also, die das Angebot in Anspruch nehmen, sind vor allem Drückeberger, die sich auf Staatskosten einen schönen Lenz machen. So werden Sündenböcke geschaffen.
Die Attacke gegen die „Rente mit 63“, die es gar nicht gibt, hat längst kampagnenartige Züge angenommen. Ihre Entsorgung fordern neben Wirtschaftsverbänden und neoliberalen Ökonomen auch die Unionsparteien, die Grünen und selbstverständlich die FDP. Für deren Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner ist das Instrument eine „Stilllegungsprämie für qualifizierte Beschäftigte“. Auffällig ist der Eifer, mit dem sich dieser Tage die Verlagsgruppe Ippen.Media auf das Thema einschießt. Zum fünftgrößten deutschen Zeitungsverbund zählen unter anderem die Frankfurter Rundschau, der Münchner Merkur und die Münchner TZ. Via Ippen hat der „Wirtschaftsweise“ Werding seine Botschaft unters Volk gebracht und prompt gab auch der in Rentenfragen unvermeidliche Bernd Raffelhüschen seinen Senf dazu. Er firmiert als Finanzprofessor und Generationenforscher an der Universität Freiburg, ist „nebenbei“ Botschafter der marktradikalen „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) und lobbyiert für die private Versicherungswirtschaft. Eine vorzeitige Rente ohne Abschläge sei eine „eklatante Ungerechtigkeit (…), eine Subvention eines vorgezogenen Ruhestands durch alle anderen Beitragszahler“, zitierte ihn am Montag die in Niedersachsen erscheinende Kreiszeitung. Das Blatt gehört zu Ippen.Media.
Quietschfidele Faulenzer
Immerhin lässt Raffelhüschen durchblicken, worum es wirklich geht. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) arbeitet gerade an seiner „großen Rentenreform“, die er in wenigen Wochen vorlegen will. Kernpunkte des Pakets sind einmal mehr „Beitragsstabilität“ und „Sicherung des Rentenniveaus“. Bei einer älter werdenden Bevölkerung und grassierender prekärer Beschäftigung (Billiglöhne, Leiharbeit, lückenhafte Erwerbsbiografien) ist die sogenannte doppelte Haltelinie aber schwerlich einzuhalten und selbst der kümmerliche Rentensatz von 48 Prozent des Durschnittsverdiensts eine Herausforderung. Freilich könnte Heil mit echten Reformen leicht für Besserung sorgen, indem er etwa die Einnahmebasis durch Einführung einer Bürgerversicherung, in die alle Berufsgruppen einzahlen, oder durch Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze stärkt. Aber eine attraktive gesetzliche Rente ist nicht gewollt, weil das der privaten Versicherungswirtschaft die Tour vermasseln würde.
Ergo muss aus den einfachen Rentnern noch das Letzte herausgepresst werden oder anders: Das Stück vom Rentenkuchen wird für eine größer werdende Zahl an Rentenanwärtern noch kleiner. Wie das geht? Man behauptet, die Menschen könnten länger arbeiten und bestraft sie mit Kürzungen, wenn sie eben das nicht können oder wollen. Propagandistisch unterfüttert wird dies mit den beiden Haudraufthesen von Fachkräftenotstand und den quietschfidelen Faulenzern. Werding markiert Professor Gnadenlos. Er plädiert dafür, Frührentner, die auf Basis der „Rente mit 63“ aus dem Beruf aussteigen, sogar mit höheren Abschlägen zu belegen und ihre Renten an die „längere Laufzeit“ anzupassen „wie bei allen anderen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen“. Überhaupt seien die Abstriche von den vollen Ansprüchen bei früherem Ausscheiden in Deutschland „generell zu niedrig“, meint er. Passend dazu erheben sich aktuell wieder Stimmen, die ein Renteneintrittsalter von 70 Jahren fordern oder, wie Veronika Grimm – noch so eine „Wirtschaftsweise“ –, dessen Kopplung an die Lebenserwartung, was auch CDU-Chef Friedrich Merz gutheißt. Kommt es so, wäre das die nächste Rentenkürzung durch die Hintertür.
Krankmachende Jobs
Die vielen Manipulationen seit Beginn der schrittweisen Rentenprivatisierung haben die NachDenkSeiten in etlichen Beiträgen thematisiert. Dabei zeigte sich immer auch, dass sich Demagogen nicht an Widersprüchen stören. Tatsächlich haben laut Deutscher Rentenversicherung (DRV) 2023 etwa 300.000 Menschen vom Instrument der abschlagsfreien Frührente Gebrauch gemacht, mehr als jemals zuvor. Unter „Rente mit 63“ werden aber nicht nur sie erfasst. Unterschieden wird zwischen denen, die 45 Jahre sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben, und jenen mit einer „Mindestversicherungszeit“ von 35 Jahren. Erstere laufen unter „besonders langjährige Versicherte“, Zweitere unter „langjährige Versicherte“, wobei für diese keine Abschlagsfreiheit gilt. Für jeden Monat vor Erreichen des regulären Rentenalters werden 0,3 Prozent abgezogen, maximal 14,4 Prozent, bezogen auf das Jahr 2031, in dem die Rente mit 67 zu voller Wirkung gelangt. Derzeit betragen die Abstriche schon bis zu 10,6 Prozent.
Die aktuellen Angriffe der Damen und Herren Rentenkürzer dürften sich insbesondere gegen diese Gruppe richten, die 2022 knapp 190.000 Personen zählte. Hier schwingt die Unterstellung mit, bei nur 35 Beitragsjahren müssten die Betroffenen ja noch voll im Saft stehen. Dabei weisen immer mehr Menschen brüchige Erwerbsbiografien auf, unterbrochen von Zeiten der Arbeitslosigkeit und Phasen in Billigjobs ohne Sozialversicherungspflicht. Auch deshalb ist zu fragen, wer sich besagte Kürzungen der ohnehin für gewöhnlich spärlichen Versorgung im Alter freiwillig antut. „Ohne Druck und Not wird das kaum jemand hinnehmen“, glaubt jedenfalls Reiner Heyse von der Initiative „Rentenzukunft“, einem Koordinierungskreis gewerkschaftlicher Seniorenpolitiker. Gegenüber den NachDenkSeiten verwies er auf die wachsende Zahl an überfordernden Jobs, die die „Menschen physisch und mental kaputtmachen und frühzeitig aus dem Berufsleben vergraulen“. So müssten mittlerweile „über 50 Prozent der Erwerbsminderungsrentner mit psychischen Erkrankungen in Rente gehen“.
Altersarbeit gegen Altersarmut
Heyse wüsste gerne, woher Politiker und ihre Experten das Wissen nehmen, dass überwiegend Gesunde und Gutverdiener in Frührente gehen. „Wer legt fest und überprüft, wer überdurchschnittlich gesund ist? Früher hat man auf Pferdemärkten den Gesundheitszustand der Tiere durch Gebissinspektionen taxiert. Wird es eine ähnliche Fleischbeschau demnächst für abhängig Beschäftigte geben?“ Apropos Gutverdiener: Auf Anfrage der Linken im Bundestag räumte die Ampelregierung Anfang des Jahres unter Berufung auf das Statistische Bundesamt ein, dass über 42 Prozent der Rentner mit einem Nettoeinkommen von 1.250 Euro und weniger auskommen müssen, darunter 5,2 Millionen Frauen. Wie Die Linke schon Anfang 2022 beim Bundesarbeitsministerium (BMAS) in Erfahrung gebracht hatte, wird ein Drittel aller Beschäftigten in Deutschland im Alter mit netto 1.160 Euro abgespeist. Heyse bringt die Entwicklung und die Art, wie Fakten verschwiegen und verdreht werden, in Rage. „Es ist empörend, wie sich Politiker, die Porsche fahren und Privatjets fliegen, und höchstbezahlte Professoren anmaßen, die Sozialpolitik zu entern. Die harte Lebensrealität von vielen Millionen geht sie nichts an – sie sind allerbestens versorgt.“
Zur harten Realität von Millionen gehört es insbesondere, dass sie ihre Kleckerrente durch Erwerbsarbeit aufbessern oder den Renteneintritt aufschieben, wodurch ihr „wohlverdienter Lebensabend“ immer kürzer gerät. Der Linke-Rentenexperte Matthias Birkwald ließ sich dazu Daten von der Regierung vorlegen. Demnach hat die Zahl der sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigten im Alter zwischen 63 und 67 Jahren von 1,31 Millionen im Jahr 2020 auf 1,67 Millionen im Vorjahr zugelegt, was einem Aufwuchs von über 25 Prozent entspricht. Die Erwerbsbeteiligung der 60- bis 64-Jährigen stieg zwischen 2012 und 2022 von 47 Prozent auf 63 Prozent. Selbst jenseits des regulären Renteneintrittsalters wird immer mehr gejobbt. 2022 waren unter den 65- bis 69-Jährigen 19 Prozent noch in Arbeit, zehn Jahre davor, 2012, waren es nur elf Prozent.
Riester-Glück mit 99
Damit fällt natürlich die Erzählung von den arbeitsscheuen Senioren, die den Fachkräftemangel befeuern, in sich zusammen. Im Gegenteil sind es die Alten, die den Laden irgendwie am Laufen halten, und das bestimmt nicht immer freiwillig, weil sie andernfalls in bitterste Armut verfielen. „Dass die Zahlen über die steigende Beschäftigung älterer Menschen in der öffentlichen Debatte außenvorgelassen werden, ist in hohem Maße unseriös“, monierte Birkwald gegenüber den NachDenkSeiten. „Wir Linken wollen aber, dass ältere Menschen nicht gezwungen sind, aufgrund ihrer niedrigen Rente weiter arbeiten zu müssen.“ Aber Leute wie Werding, Raffelhüschen und Lindner wollen genau das – noch mehr in Arbeit zwingende Armut. Und noch mehr „Dumme“, die wegen ihrer Zukunftsängste in den Fängen der Privatversicherer landen, „versorgt“ mit Riester- und Rürup-Verträgen, deren Förderung sich der deutsche Staat bisher Dutzende Milliarden Euro hat kosten lassen.
Wofür? Die Bürgerbewegung Finanzwende hat 111 solcher Produkte auf ihre Renditeerwartung geprüft. Ergebnis: „Fast keines der untersuchten Angebote schaffte es, einen kleinen Inflationsausgleich von zwei Prozent auf die eingezahlten Beträge zu erwirtschaften.“ Typisch wären Erträge von „0,8 beziehungsweise 1,0 Prozent“. Wolle man hingegen das eigene Geld samt zwei Prozent Zins wieder herausbekommen, müsse man „im Marktschnitt ein Alter von 99 Jahren (Riester) oder gar 100 Jahren (Rürup) erreichen“. So viel Geduld muss sein – so wenig Rente sowieso.
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