Kein sozialer Fortschritt – nirgends! – Eine kritische „Halbzeitbilanz“ der CDU/CSU/FDP-Koalition
„Für Sozialkürzungen sehe ich überhaupt keinen Anlass. Das würden die Menschen zu Recht nicht verstehen. Für die Banken werden Milliarden ausgegeben, für die normalen Leute hat man nichts? So wird es nicht laufen. Gerade in der Krise müssen sich die sozialen Sicherungssysteme bewähren.“ Das sagte Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in einem Interview, welches die taz am 6. April 2009 veröffentlichte. Nach ihrem Erfolg bei der Bundestagswahl vom 27. September 2009 versprachen CDU, CSU und FDP im Koalitionsvertrag, „durch Zusammenhalt und Solidarität“ sozialen Fortschritt erreichen zu wollen. Was von dieser Ankündigung nach zwei Jahren Schwarz-Gelb übrig geblieben ist, darüber zieht Christoph Butterwegge eine Bilanz.
„Die Euro-Krise spitzt sich weiter zu“, „Griechenland droht die Insolvenz“, „EU-Rettungsschirm für Schuldenstaaten auf den Weg gebracht“, „Rekapitalisierung angeschlagener Banken“ – so und ähnlich lauten die Schlagzeilen, hinter denen soziale Probleme hierzulande seit geraumer Zeit ebenso verblassen wie die Verantwortung der Regierungsparteien dafür. Umso notwendiger ist eine nüchterne Gesamtbilanz der Bundesregierung. CDU, CSU und FDP suggerieren nämlich in einer dieser Tage massenhaft verbreiteten Broschüre „Fortschritte für Deutschland“, sie hätten ihre „Hausaufgaben“ gemacht, beispielsweise auf sozialpolitischem Gebiet gute Arbeit geleistet und die Lage hierzulande voll im Griff.
Nach zwei Jahren lässt sich nirgends sozialer Fortschritt erkennen. Vielmehr haben CDU, CSU und FDP die gesellschaftliche Kohäsion geschwächt, mit ihrer neoliberalen Reformpolitik soziale Eiseskälte verbreitet und die Bereitschaft zur Solidarität zerstört, wobei sich Guido Westerwelle besonders hervortat. Der damalige Vizekanzler hetzte die (ihrer Meinung nach zu hohe) Einkommensteuern zahlende „Leistungsträger“ aus der Mittelschicht gegen die Sozialleistungsbezieher auf. In einem Gastkommentar für die Welt am 11. Februar 2010 sprach er von „anstrengungslosem Wohlstand“, womit allen Ernstes die Hartz-IV-Betroffenen, nicht etwa die Nachkommen von Familienunternehmern gemeint waren, die seit der Erbschaftssteuerreform seiner Regierungskoalition ganze Konzerne erben können, ohne einen einzigen Cent betriebliche Erbschaftsteuer zahlen zu müssen. Dabei ist es nun wirklich keine Leistung, der Sohn oder die Tochter einen Milliardärs zu sein, und sogar Guido Westerwelle hat Schwierigkeiten, diese Klientelpolitik zu rechtfertigen.
Die „bürgerliche Wunschkoalition“ war nicht bloß selbst häufiger zerstritten und stärker innerlich zerrissen als ihre Amtsvorgängerinnen, sondern auch eine Koalition der sozialen Spaltung: Während der Reichtum einer kleinen Minderheit trotz der Finanzmarkt-, Wirtschafts- und Währungskrise zugenommen hat, sind die Armen seither noch zahlreicher geworden. Über die Verteilung sozialer Trostpflaster kamen CDU, CSU und FDP nie hinaus. Ein wenig Entlastung bekamen gerade die Transferleistungsempfänger, denen es im Unterschied zu anderen Langzeitarbeitslosen noch relativ gut geht; im angloamerikanischen Raum würde man von den „Creaming the poor“ sprechen. Beispielsweise wurde das Altersvorsorge-Schonvermögen für Hartz-IV-Bezieher auf 750 Euro pro Lebensjahr verdreifacht und die Klausel gestrichen, wonach eine selbstgenutzte Immobilie bloß dann zum Schonvermögen gehörte, wenn sie eine „angemessene Größe“ hatte. In Ostdeutschland hat aber nur etwa die Hälfte der Betroffenen überhaupt Vermögen, das geschont werden kann, und noch weniger nennen eine Immobilie ihr Eigen. Neben den unmittelbar Begünstigten, die in erster Linie aus der Mittelschicht stammen dürften, weil sie vor einer längeren Arbeitslosigkeit private Altersvorsorge betreiben konnten, profitieren hauptsächlich Versicherungskonzerne und Banken von den beschlossenen Maßnahmen, denn es handelt sich um ein schlagendes Verkaufsargument, wenn ein Finanzprodukt vor der Anrechnung bei Hartz IV geschützt ist.
CDU, CSU und FDP haben eine zutiefst unsoziale Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip („Wer hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird auch das noch genommen“) gemacht. Schwarz-Gelb leidet allerdings unter Realitätsverlust, was die Selbstwahrnehmung betrifft. So schreibt Angela Merkel im Vorwort der genannten Broschüre, die Halbzeitbilanz ihrer Koalitionsregierung könne „sich sehen lassen“. Sie begründet das mit einem angeblich überdurchschnittlichen Wirtschaftswachstum. Die Bundeskanzlerin tönt, der Aufschwung komme bei „den Menschen“ an. Zwar ist die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit zurückgegangen, sogar während der sich bereits wieder dem Ende zuneigenden konjunkturellen Erholungsphase gibt es aber mehr Grundsicherungsbezieher. Kaum von dieser „Erholung“ profitiert haben Langzeitarbeitslose, Ältere und Behinderte ohne sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, deren Zahl heute höher ist als vor der globalen Finanz- und Weltwirtschaftskrise.
Perfide argumentiert die Bundesregierung, wenn sie Erhöhungen bei Hartz IV, die das Bundesverfassungsgericht durch sein Urteil vom 9. Februar 2010 erzwungen hat, in ihrer „Halbzeitbilanz“-Broschüre als Erfolg für sich reklamiert: „Der Regelsatz in der Grundsicherung (ALG II) ist um fünf Euro gestiegen. 2012 wird er noch einmal erhöht. Die Regelsätze für Kinder sind jetzt – nach Altersstufen – gesondert berechnet.“ Dies geschah aber unter Anwendung statistischer Taschenspielertricks und ohne Rücksicht auf die spezifischen Bedarfe von jungen Menschen, was zur Folge hatte, dass die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder und Jugendliche seit Bildung der CDU/CSU/FDP-Koalition bis heute überhaupt nicht mehr erhöht wurden. Am 1. Januar 2012 steigen die Regelbedarfe der (alleinstehenden) Erwachsenen zwar um 10 Euro und der Kleinkinder um bescheidene 4 Euro, die Höhe der Regelbedarfe von Schulkindern und Jugendlichen bleibt aber wegen des neuen Berechnungsmodus unverändert. Wie hieß es noch gleich im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP? „Wir wollen Kinder von Anfang an unterstützen, ihre Stärken erkennen, ihre Chancen fördern, Benachteiligungen verhindern sowie Kinderarmut bekämpfen.“
Obwohl die Kanzlerin behauptet, die Bundesrepublik sei „ein Land der Chancen“, verfestigt sich die Armut, weil der Aufstieg immer seltener gelingt. „Deutschland wird Bildungsrepublik“, behauptet die Bundesregierung trotzdem. Hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang das „Bildungs- und Teilhabepaket“, mit dem sie 2,5 Millionen Kindern zu helfen verspricht: „Bedürftige Kinder und Jugendliche haben jetzt einen Rechtsanspruch aufs Mitmachen.“ Von den 250 Euro, die das „Bildungs- und Teilhabepaket“ wert ist, sind nur 120 Euro pro Jahr tatsächlich neu, und was sind schon 10 Euro im Monat mehr für ein Kind? Lässt sich damit sein „Bedarf zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft“ (so der Gesetzestext) erfüllen? Bedürftige Kinder können jetzt zwar z.B. Mitglied in einem Sportverein werden, haben aber kaum das Geld für die nötigen Ausrüstungsgegenstände wie einen Trainingsanzug, Fußballschuhe oder ein Trikot. Teilweise kommt es durch das „Bildungs- und Teilhabepaket“ – dessen bürokratische Struktur enorme Umsetzungsprobleme aufwirft – sogar zu Verschlechterungen bei der Mittagsverpflegung und der Vereinsmitgliedschaft von Kindern, weil großzügigere Programme einzelner Kommunen und Sponsoren aufgrund der Bundesregelung eingestellt wurden.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Soeben ist sein Buch „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ in überarbeiteter und erweiterter Neuauflage im VS – Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) erschienen. Darin findet man auch eine ausführliche Darstellung der Regierungspolitik von CDU, CSU und FDP.
Tipp: Christoph Butterwegge ist heute Abend (26.10.2011) um 23.15 Uhr zu Gast in der Talk-Show von Anne Will.