Die nicht gewollte Friedenschance von Istanbul im Frühjahr 2022 – Teil 1

Die nicht gewollte Friedenschance von Istanbul im Frühjahr 2022 – Teil 1

Die nicht gewollte Friedenschance von Istanbul im Frühjahr 2022 – Teil 1

Ein Artikel von Tilo Gräser

Der Krieg in der Ukraine hält an. Eine Verhandlungslösung scheint in weiter Ferne, vor allem, seit der Kiewer Präsident Wolodymyr Selenskyj im Herbst 2022 Verhandlungen mit Russlands Präsident Wladimir Putin per Dekret verboten hat. Dabei hatte es Berichten nach bereits im März 2022 eine echte Chance auf ein Ende der Kampfhandlungen gegeben. Zahlreiche Beiträge beschäftigen sich inzwischen damit. Eine „profunde Analyse“ des Historikers Klaus Bachmann hat unlängst versucht zu zeigen, dass hinter den ukrainisch-russischen Verhandlungen Ende März 2022 in Istanbul weniger steckte, als viele hineindeuten würden. Das gelte auch für das Scheitern der Verhandlungen und dessen Gründe. Um es vorwegzunehmen: Von der „profunden Analyse“ bleibt am Ende der Eindruck, dass sie – wenn überhaupt – nicht mehr ist als eine „kleine Nachforschung“, wie er sie selbst nennt. Eine Entgegnung aufgrund umfangreicher Recherchen von Tilo Gräser.

Wenn der Historiker Klaus Bachmann für seinen Beitrag, der am 16. Januar dieses Jahres in der Online-Ausgabe der Berliner Zeitung[1] und am 20. Januar in deren gedruckter Wochenendausgabe veröffentlicht wurde, etwas genauer recherchiert hätte, hätte er allein in der ausführlichen Rekonstruktion der Ereignisse von Ex-Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat und Politikwissenschaftler Hajo Funke vom Oktober 2023 ausreichend Material finden können.[2] Diese hatte die Berliner Zeitung selbst am 19. November 2023 veröffentlicht.[3]

Bachmann meint, es habe Mitte März bis Anfang April 2022 „sogar so etwas wie Waffenstillstandsverhandlungen“ gegeben. Doch was es gab, waren ernsthafte Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland: „Vom 28.02. bis 17.05.2022 verhandelten die Ukraine und Russland direkt und unter türkischer Vermittlung über einen Waffenstillstand“, schrieb dazu Sabine Fischer in den Russland-Analysen 247 vom 8. Dezember 2022[4]. Sie verweist auf den militärischen und politischen Kontext der Gespräche, der sich „parallel veränderte“, geht dabei aber nicht auf den westlichen Einfluss und den dominierenden US-Einfluss auf die Kiewer Führung ein. Der spielt bei dem Geschehen aber eine entscheidende Rolle.

Zahlreiche Medien berichteten damals über die direkten Verhandlungen Ende März 2022 in Istanbul und meldeten wenig Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Gespräche an.[5] [6] [7] Der ehemalige UN-Diplomat Michael von der Schulenburg schrieb am 14. November 2023[8]: „Bereits einen Monat nach Beginn der russischen Militärintervention in der Ukraine, waren die ukrainischen und russischen Unterhändler einem Waffenstillstand und einer umfassenden Friedenslösung des Konfliktes sehr nahegekommen.“

Dafür gibt es mehrere Bestätigungen. Dass es offiziell ernst gemeinte Verhandlungen in Istanbul waren, zeigen nicht nur Aussagen russischer Verhandlungsteilnehmer wie des Verhandlungsleiters Wladimir Medinski[9], sondern auch solche aus der ukrainischen Delegation wie von Dawyd Arachamiya und von Mychailo Podolyak, die diese am 29. März 2022 und zuvor machten.[10] [11] [12] [13] Auch das ukrainische Präsidialamt bestätigte an dem Tag die Verhandlungen und benannte die konkreten Vorschläge aus Kiew.[14] Einige der Mitglieder der Kiewer Delegation bestätigten die Verhandlungen in den letzten Wochen erneut.[15] Am 5. Dezember 2023 erklärte der ukrainische Diplomat Oleksandr Chalyi[16], der in Istanbul dabei war, bei einer Veranstaltung des Geneva Centre for Security Policy[17]:

„Wir verhandelten mit der russischen Delegation praktisch zwei Monate lang, im März und April, über ein mögliches Abkommen zur friedlichen Beilegung des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland. Und wir haben, wie Sie sich erinnern, das sogenannte Istanbuler Kommuniqué[18] abgeschlossen. Und wir waren Mitte oder Ende April kurz davor, unseren Krieg mit einer friedlichen Lösung zu beenden.“

Zu beachten ist, was Chalyi außerdem sagte:

„Putin hat eine Woche nach Beginn seiner Aggression am 24. Februar letzten Jahres sehr schnell eingesehen, dass er einen Fehler gemacht hat, und versuchte, alles zu tun, um ein Abkommen mit der Ukraine in Istanbul zu schließen.“ Und: „Putin wollte also wirklich eine friedliche Lösung mit der Ukraine erreichen. Das darf man nicht vergessen.“

Chalyis Aussagen werden von Oleksyi Arestowytsch, ehemaliger Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, bestätigt, der ebenfalls an den Verhandlungen in Istanbul beteiligt war. In einem am 15. Januar 2024 veröffentlichten Interview[19] mit dem US-Magazin Unherd sagte er zum Verhandlungsergebnis: „… es war das beste Abkommen, das wir hätten abschließen können.“ Auf die Frage, ob die Verhandlungen erfolgreich waren, antwortete er: „Ja, vollständig. Wir haben die Champagnerflasche geöffnet. Wir hatten über Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Fragen der russischen Sprache, der russischen Kirche und vieles mehr gesprochen.“ Selenskyj sei sogar bereit gewesen, mit Putin über den Umfang der ukrainischen Armee zu sprechen. „Die Vereinbarungen von Istanbul waren ein Absichtsprotokoll und bereiteten zu 90 Prozent ein direktes Treffen mit Putin vor“, so Arestowytsch. Das sollte der nächste Schritt der Verhandlungen sein, wie er erklärte.

Es gibt auch eine ganze Reihe US-amerikanischer Aussagen, die bestätigen, dass es mehr als „so etwas wie Waffenstillstandsverhandlungen“ waren. „Laut mehreren ehemaligen hochrangigen US-Beamten, mit denen wir gesprochen haben, schienen sich russische und ukrainische Unterhändler im März 2022 vorläufig auf die Umrisse einer ausgehandelten Zwischenlösung geeinigt zu haben“, schrieben Fiona Hill und Angela Stent in der außenpolitischen US-Zeitschrift Foreign Affairs, Ausgabe September/Oktober 2022[20]. In der Onlineausgabe der Zeitschrift vom 1. Juni hatte bereits Samuel Charap von der Rand Corporation zwar festgestellt[21], dass die „Gespräche wenig Einfluss auf die Entschlossenheit Russlands und der Ukraine, weiterzukämpfen“, gehabt hätten. Aber er schrieb auch, „dass die Unterhändler bereits echte Fortschritte erzielt haben. Ende März legten ukrainische Diplomaten einen innovativen Rahmen für ein Abkommen vor, das einen Weg aus dem Krieg weisen könnte. Und das Entscheidende ist, dass der Vorschlag, der nach den Gesprächen in Istanbul am 29. März an die Presse durchgesickert war, bereits von beiden Seiten zumindest vorläufig unterstützt wurde.“

Boris Johnson am 9. April 2022 in Kiew

Bachmann geht ausführlich auf die Vermutungen und Behauptungen zum überraschenden Besuch des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson am 9. April 2022 in Kiew ein. Dabei soll dieser den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dazu gebracht haben, eine mögliche Vereinbarung mit Russland nicht zu unterzeichnen. Damit habe er beziehungsweise der US-geführte Westen eine frühe Friedenslösung im Ukraine-Krieg verhindert. Kujat und Funke schreiben[22] unter anderem dazu, dass „die westliche Intervention … ein frühzeitiges Ende des Krieges verhinderte“.

„Die ganze Angelegenheit ist alles andere als eindeutig“, so der Historiker dazu. Er schreibt, es gebe eine „geradezu unendliche Anzahl anderer Interpretationen, die man aufgrund der gleichen Fakten und Daten aufstellen kann“. Und er meint, „alle Seiten dieses Streits wählen die Daten und Fakten so aus, dass sie in ihre Argumentation passen – auch wenn manche davon, vorsichtig ausgedrückt, etwas abenteuerlich sind“. Dieser Vorwurf könnte auch gegen ihn gewendet werden, denn es gibt zahlreiche Hinweise dafür, dass vor allem der US-geführte Westen von Beginn an kein Interesse an einer friedlichen Lösung des zum Krieg eskalierten Konfliktes in und um die Ukraine hatte und hat. Es geht dabei auch um mehr als die „Johnson-Legende“, die der ehemalige Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Paul Schäfer versuchte zu widerlegen[23], worauf sich Bachmann unter anderem bezieht.

Der Kiewer Delegationsleiter Arachamyia hatte in einem TV-Interview[24] im November 2023 nicht nur die Verhandlungen erneut bestätigt[25], auch wenn er die behandelten Vorschläge anders darstellt, als er sie am 29. März 2022 beschrieb[26]. Laut den Berichten erwähnte er auch den Besuch Johnsons: „Als wir aus Istanbul zurückkamen, kam Boris Johnson nach Kiew und sagte, dass wir überhaupt nichts unterschreiben und einfach kämpfen sollten.“ Präsidenten-Berater Arestowytsch berichtete im Unherd-Interview, als die Delegation aus Istanbul nach Kiew zurückkam, habe es inzwischen die Berichte über das angebliche Massaker in Butscha bei Kiew gegeben, das Russland angelastet wird. Der Präsident habe erklärt, die Verhandlungen würden abgebrochen, während die Russen laut dem Selenskyj-Berater weiter verhandeln wollten. Arestowytsch erklärte auf die Frage nach der Ursache, er wisse nicht, ob Johnsons Besuch oder die Ereignisse in Butscha dafür ausschlaggebend waren. Niemand wisse, worüber Selenskyj und Johnson konkret miteinander gesprochen haben. Sicher sei nur, Anfang April sei „etwas passiert“, was zum Abbruch der Verhandlungen führte. „Als wir fragten, wie sie wieder aufgenommen werden könnten, sagte der Präsident: ‚Irgendwo, irgendwann, aber nicht jetzt‘. Auf die Frage, ob die russische Seite aufrichtig gewesen sei, antwortete Arestowytsch: „Die Russen zeigten sich bereit, die Verhandlungen fortzusetzen, und wir lehnten ab.“

Der britische Premier wird mit seinem innenpolitisch motivierten Auftritt in Kiew[27] sicher einen Beitrag dazu geleistet haben, dass eine Friedenslösung verhindert wurde. Entscheidend wird das nicht gewesen sein, denn der entsprechende westliche Kurs war vorher klar. Im Mai 2022 listete die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (ehemals Linkspartei) Belege dafür auf, „wie ein Verhandlungsfrieden im Ukraine-Krieg torpediert wird“.[28] So habe die Washington Post bereits am 5. April berichtet[29], dass in der NATO die Fortsetzung des Krieges gegenüber einem Waffenstillstand und einer Verhandlungslösung bevorzugt wird: „Für einige in der NATO ist es besser, wenn die Ukrainer weiter kämpfen und sterben als einen Frieden zu erreichen, der zu früh kommt oder zu einem zu hohen Preis für Kiew und das übrige Europa.“

Bereits am 24. März 2022 hatte der ehemalige US-Diplomat und -Vize-Verteidigungsminister Chas Freeman in einem Interview erklärt[30]: „Die Vereinigten Staaten sind nicht an den Bemühungen beteiligt, ein Ende der Kämpfe auszuhandeln.“ Washington scheine dagegen darauf abzuzielen, „die Kämpfe zu verlängern und den ukrainischen Widerstand zu unterstützen, anstatt ein Ende der Kämpfe und einen Kompromiss herbeizuführen“. Freeman bezeichnete das als „edle Sache“, die aber „zu vielen toten Ukrainern und Russen“ führe. Der US-Präsident Biden und der britische Premier Johnson hätten Russlands Präsident Putin als „Kriegsverbrecher“ bezeichnet, den sie vor Gericht bringen wollen. Das verhindere einen Kompromiss, so der Ex-Diplomat, und sorge eher für einen langen Krieg. „Und es scheint in den Vereinigten Staaten eine Menge Leute zu geben, die das ganz prima finden: Es ist gut für den militärisch-industriellen Komplex; es bestätigt unsere negativen Ansichten über Russland; es stärkt die NATO; es bringt China in Bedrängnis.“ Die USA wären bereit, „bis zum letzten Ukrainer“ gegen Russland zu kämpfen, so Freeman. Zuvor hatte am 14. März 2022 der US-Politologe und Regierungsberater Eliot Cohen in einem Text geschrieben[31]:

„Die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten befinden sich in einem Stellvertreterkrieg mit Russland. Sie liefern Tausende von Munition und tun hoffentlich noch viel mehr – zum Beispiel den Austausch von Geheimdienstinformationen – mit der Absicht, russische Soldaten zu töten.“

Aus kritischer Perspektive beschrieb der US-Politikwissenschaftler John Mearsheimer im Interview[32] mit dem deutschen Magazin Cicero, veröffentlicht Ende Juni 2022, das so: „Die USA befinden sich faktisch im Krieg mit Russland. Wir kämpfen zwar nicht selbst, das übernehmen die Ukrainer. Aber davon abgesehen sind die Vereinigten Staaten extrem tief in diesen Krieg verwickelt.“ Die USA würden sich dazu berufen fühlen, „Russland eine schwere Niederlage beizubringen und seine Wirtschaft massiv zu schwächen“. Der Grund für dieses „Spiel mit dem Feuer“ aus seiner Sicht: Die USA wollen Russland aus dem Kreis der Großmächte herausdrängen. Mearsheimer betonte, die USA „wollen keine Verhandlungslösung. Die Amerikaner haben vielmehr ein Interesse daran, Russland auf ukrainischem Boden militärisch zu besiegen.“

Konkret zeigte sich das, als US-Außenminister Antony Blinken noch am 29. März 2022 die „Ernsthaftigkeit“ von Moskaus Verhandlungsbemühungen infrage stellte[33]. Am 8. April 2022, einen Tag vor dem Auftauchen Johnsons in Kiew, gab Blinken gegenüber deutschen Medien den Kurs vor[34] und schloss Waffenstillstandsgespräche zwischen der Ukraine und Russland aus. Der US-Außenminister sagte demnach: „Für einige mag die Idee eines Waffenstillstands verlockend sein – und ich verstehe das. Aber wenn dies darauf hinausläuft, die Besitznahme beträchtlicher ukrainischer Gebiete durch Russland praktisch zu ratifizieren, wäre dies eben kein gerechter und dauerhafter Frieden.“ Damit widersprach er auch allen Hoffnungen bei jenen, die für die Ukraine mit Russland bisher verhandelten.

Bei dem Thema sollte auch nicht weggelassen werden, was der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder zu den Bemühungen um ein schnelles Ende im Frühjahr 2022 sagte. Bachmann hätte das Interview, das am 21. Oktober 2023 von der Berliner Zeitung online veröffentlicht wurde[35], nachlesen können. Der Altkanzler berichtete darin, dass er auf Kiewer Bitte Mitte März 2022 nach Moskau reiste[36], um zu klären, wie der Krieg beendet werden könnte. Die ukrainischen Vorschläge dafür hätten vom Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft, Regelungen zur russischen Sprache über Autonomie für den Donbass und die erwähnten internationalen Sicherheitsgarantien bis zur langfristigen Regelung für die Krim gereicht. Interessant ist, was Schröder zur Rolle der USA sagte: „Die Einzigen, die den Krieg regeln könnten gegenüber der Ukraine, sind die Amerikaner. Bei den Friedensverhandlungen im März 2022 in Istanbul mit Rustem Umjerow haben die Ukrainer keinen Frieden vereinbart, weil sie nicht durften. Die mussten bei allem, was sie beredet haben, erst bei den Amerikanern nachfragen.“ Dass am Ende doch nichts geschah, hat nach seinem Eindruck folgenden Grund: „Es konnte nichts passieren, denn alles Weitere wurde in Washington entschieden. Das war fatal.“

Ein anderer Zeuge des Geschehens ist der ehemalige israelische Premierminister Naftali Bennett, der den Angaben nach auf Selenskyjs Bitte hin vermitteln sollte und intensiv im Hintergrund an den ersten Verhandlungen Anfang März 2022 beteiligt war. Er hat vor einem Jahr in einem Video-Interview erklärt[37], dass damals zwischen der Ukraine und Russland ein Waffenstillstand in greifbarer Nähe gewesen sei. Beide Seiten seien zu erheblichen Zugeständnissen bereit gewesen. Doch vor allem Großbritannien und die USA hätten eine Vereinbarung verhindert und gewollt, dass der begonnene Krieg fortgesetzt wird, so der Ex-Premier.

Wird der historische Kontext vernachlässigt?

Laut Bachmann wird in der Debatte um die mögliche Friedenslösung im Frühjahr 2022 der historische Kontext vernachlässigt. Das geschieht tatsächlich, aber nur von einer Seite, dagegen nicht durch Autoren wie Kujat und Funke. Bachmann muss widersprochen werden, wenn er ausgerechnet als Historiker behauptet: „Angefangen hat dieser Krieg aber 2014 mit der Annexion der Krim und den bewaffneten Aufständen im Donbass. Das ist insofern wichtig, als es damals überhaupt nicht um eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ging, noch nicht mal um eine EU-Mitgliedschaft, sondern nur um ein Kooperationsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, die damals noch von dem äußerst russlandfreundlichen, russischsprachigen Präsidenten Viktor Janukowitsch regiert wurde. …“

Allein in dem Absatz sind gleich mehrere Fehler enthalten, die für einen Historiker doch erstaunlich sind. „Dieser Krieg“ meint anscheinend nach seinen Worten den angeblichen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Dieses Narrativ wird von der im Februar 2014 per westlich unterstütztem Staatsstreich an die Macht gekommenen neuen Kiewer Führung und ihren westlichen Unterstützern und Förderern benutzt. Nachweislich hat Russland 2014 keinen solchen Krieg begonnen, auch nicht mit der gewaltfreien Wiedereingliederung der Krim. Die erfolgte allerdings nur zum Teil wegen des entsprechenden deutlichen Referendums der dortigen Bevölkerung.[38] Der andere Grund nach allen vorliegenden Informationen: Damit wurde verhindert, dass die russische Schwarzmeerflotte nach dem Kiewer Staatstreich ihre Stützpunkte auf der Halbinsel und damit Russland den Zugang zum Schwarzen Meer an die NATO verliert.[39] Das ist alles nachles- und nachvollziehbar, wenn nicht Daten und Fakten für eine bestimmte Argumentation ausgelassen werden, wie es Bachmann anderen vorwirft.

Sollte er allerdings den von Cohen erwähnten Stellvertreterkrieg der USA und ihrer NATO-Verbündeten gegen Russland meinen, hätte er zumindest teilweise recht. Die Belege dafür sind unter anderem in der Analyse „Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte“ von Benjamin Abelow[40], Mediziner und Experte für Atomwaffenpolitik, nachzulesen. Abelow[41] belegt mit zahlreichen Quellen und Zitaten die westlichen Provokationen gegenüber Russland von 1990 bis 2022, die in die zugespitzte Eskalation am 24. Februar 2022 führten. Dass diese spätestens 2014 vorbereitet wurde, zeigen die beiden Politologen Ulrike Guérot und Hauke Ritz in ihrem Buch „Endspiel Europa“ mit einer Analyse[42] der Vielzahl an militärischen Aktivitäten, die Dutzende NATO-Staaten, aber insbesondere Großbritannien, die USA und Kanada seit 2014 in der Ukraine starteten. Ihr Fazit: „Nüchtern betrachtet muss man sich wundern, dass die russische Regierung überhaupt so lange stillgehalten hat.“ Der US-Ökonom Jeffrey Sachs hat im Juli 2023 ebenfalls einen Überblick über „Die wahre Geschichte des Krieges in der Ukraine“ gegeben.[43] Dabei beginnt er im Jahr 1990, als der damals noch existierenden Sowjetunion zugesichert wurde, dass die NATO im Zuge der deutschen Einheit, die Moskau ermöglichte, sich nicht nach Osten erweitern würde. US-Politikwissenschaftler Mearsheimer erklärte im Cicero-Interview zu den Ursachen des Krieges: „Dieser Krieg ist eine unmittelbare Folge des Versuchs, die Ukraine in die Nato und in die EU aufzunehmen und sie in eine Demokratie nach westlichem Vorbild zu verwandeln. Die Ukraine wäre damit ein Bollwerk des Westens unmittelbar an Russlands Grenze geworden.“

Angesichts der Aussagen Bachmanns zu den Ereignissen 2014 in der Ukraine, an denen einiges sachlich nicht richtig ist, ist ihm ein Blick in die Archive zu empfehlen – oder in das Buch „Der längste Krieg in Europa seit 1945“[44] von Ulrich Heyden, in dem er die Ursachen dafür ebenso wie die Vorgeschichte des Krieges beschreibt. Bei ihm ist zu lesen, was es für die Menschen in der Ostukraine bedeutet, seit im Frühjahr 2014 die neue Kiewer Führung Panzer und Kampfflugzeuge gegen ihre eigenen rebellierenden Bürger schickte und damit den Krieg im Donbass begann. Die Frage bleibt, warum der Historiker Bachmann die Daten und Fakten auslässt – zum Beispiel solche, über die beispielweise die österreichische Zeitung Die Presse am 3. Juni 2015 berichtete[45], nämlich, „dass der damalige ukrainische Übergangspräsident, Alexander Turtschinow, die sogenannte Antiterroroperation eingeleitet hat. Am 14. April 2014 rollten Panzer in den Donbass, um die von prorussischen Aktivisten besetzten Verwaltungsgebäude in mehreren Städten zurückzuerobern. Anders als angekündigt wurde es keine schnelle Operation. Es herrscht Krieg im Donbass, ein Krieg von niedriger Intensität zwar, doch auch er fordert Blutzoll.“ Damit begann der Krieg Kiews gegen die eigenen Landsleute, der bis heute anhält. Das hatte sich der im Februar 2014 zuvor gestürzte Präsident Wiktor Janukowitsch nicht getraut.

Titelbild: Morrowind/shutterstock.com

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[«1] berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/friedensvertrag-fuer-die-ukraine-warum-auch-die-ard-faktenchecker-unrecht-haben-li.2176267?id=d0cecc7c47dc47a999a2938e72335b89

[«2] zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-15-vom-26-oktober-2023.html#article_1574

[«3] berliner-zeitung.de/open-source/ukraine-krieg-wie-die-chance-fuer-eine-friedensregelung-vertan-wurde-li.2159432

[«4] bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-427/516275/kommentar-keine-verhandlungen-um-jeden-preis/

[«5] tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-russland-verhandlungen-121.html

[«6] zeit.de/politik/ausland/2022-03/selenskyj-interview-medienaufsicht-warnung

[«7] archive.ph/7Sgc4

[«8] michael-von-der-schulenburg.com/ukraines-gescheiterte-friedensverhandlungen/

[«9] berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/ukraine-krieg-was-der-russische-chefunterhaendler-zu-den-gescheiterten-friedensgespraechen-sagt-li.2163544?id=862db38e49af48fa9dda1a58ff67202b

[«10] ukrinform.net/rubric-ato/3443041-ukraine-offers-15year-talks-with-russia-on-status-of-crimea.html

[«11] ukrinform.net/rubric-polytics/3442975-arakhamiya-in-istanbul-ukraine-wants-un-security-council-members-to-guarantee-its-security.html

[«12] ukrinform.net/rubric-polytics/3443072-presidents-office-conclusion-of-security-agreement-will-require-referendum.html

[«13] ukrinform.net/rubric-polytics/3443084-ukraine-suggests-stipulating-in-security-agreement-that-it-will-not-join-any-militarypolitical-alliances.html

[«14] president.gov.ua/en/news/na-peregovorah-iz-rosiyeyu-ukrayinska-delegaciya-oficijno-pr-73933

[«15] theamericanconservative.com/according-to-ukrainian-officials-there-could-have-been-peace/; unherd.com/2024/01/oleksiy-arestovych-zelenskyys-challenger/

[«16] youtube.com/watch?v=t2zpV35fvHw

[«17] gcsp.ch/events/breaking-stalemate-find-peace-russia-ukraine-war-geneva-security-debate

[«18] faridaily.substack.com/p/ukraines-10-point-plan

[«19] unherd.com/2024/01/oleksiy-arestovych-zelenskyys-challenger/

[«20] foreignaffairs.com/russian-federation/world-putin-wants-fiona-hill-angela-stent

[«21] foreignaffairs.com/articles/ukraine/2022-06-01/ukraines-best-chance-peace

[«22] berliner-zeitung.de/open-source/ukraine-krieg-wie-die-chance-fuer-eine-friedensregelung-vertan-wurde-li.2159432

[«23] paulschaefer.info/html/standp08-Johnson-Legende.html

[«24] www.youtube.com/watch?v=6lt4E0DiJts

[«25] berliner-zeitung.de/news/boris-johnson-fraktionsvorsitzender-der-selenskyj-partei-ukraine-krieg-haette-2022-beendet-sein-koennen-li.2162278

[«26] ukrinform.net/rubric-polytics/3442975-arakhamiya-in-istanbul-ukraine-wants-un-security-council-members-to-guarantee-its-security.html

[«27] zeit.de/politik/ausland/2022-04/boris-johnson-ukraine-krieg-grossbritannien

[«28] sevimdagdelen.de/wie-ein-verhandlungsfrieden-im-ukraine-krieg-torpediert-wird/

[«29] washingtonpost.com/national-security/2022/04/05/ukraine-nato-russia-limits-peace/

[«30] thegrayzone.com/2022/03/24/us-fighting-russia-to-the-last-ukrainian-veteran-us-diplomat/

[«31] theatlantic.com/ideas/archive/2022/03/ukraine-united-states-nato/627052/

[«32] cicero.de/aussenpolitik/john-mearsheimer-ukraine-krieg-eu-russland-ende-nato-schuld

[«33] zeit.de/politik/ausland/2022-03/ukraine-russland-krieg-ueberblick-abend

[«34] n-tv.de/politik/Blinken-warnt-vor-Gespraechen-zu-Waffenstillstand-article24040634.html

[«35] berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/gerhard-schroeder-im-exklusiv-interview-was-merkel-2015-gemacht-hat-war-politisch-falsch-li.2151196

[«36] tagesschau.de/inland/innenpolitik/schroeder-moskau-103.html

[«37] berliner-zeitung.de/open-source/naftali-bennett-wollte-den-frieden-zwischen-ukraine-und-russland-wer-hat-blockiert-li.314871

[«38] textstelle.news/2018/01/10/warum-die-krim-nicht-annektiert-wurde/

[«39] textstelle.news/2017/08/29/nato-herrschaft-im-schwarzen-meer-verhindert-und-chancen-fuer-die-krim-eroeffnet-buch/

[«40] transition-news.org/buchtipp-wie-der-westen-den-krieg-in-die-ukraine-brachte

[«41] benjaminabelow.com/

[«42] multipolar-magazin.de/artikel/ein-durchtrenntes-europa

[«43] thekennedybeacon.substack.com/p/the-real-history-of-the-war-in-ukraine?sd=pf

[«44] shop.tredition.com/booktitle/Der_l%253fngste_Krieg_in_Europa_seit_1945/W-990-737-169

[«45] diepresse.com/4708449/ukraine-warum-die-kaempfe-im-donbass-wieder-aufflammen