Ganz große Koalition
„Freitag“ vom 21.1.2005
ALTERNATIVEN In seinem Buch “Die Reformlüge” entzaubert der Publizist Albrecht Müller die Denkfehler des rot-grünen Sozialumbaus.
Ulrich Kurzer
Die aktuelle “Reformdebatte” taugt nicht zur Lösung der gesellschaftspolitischen Probleme von wirtschaftlicher Stagnation, Nachfrageschwäche oder Arbeitslosigkeit, findet Albrecht Müller: “Statt dessen jagen unsere Spitzenpolitiker und die ihnen zuarbeitenden Wissenschaftler fast jeden Tag eine andere Reformsau durchs Dorf. … Dass die Sau orientierungslos ist, kümmert zumindest die deutsche Elite wenig, denn die Meinungsführer unseres Landes bilden einen geschlossenen Kreis.”
Arbeitszeiten hoch und Löhne runter! Elite, Meinungsführer, geschlossener Kreis? Das klingt nach Verschwörung. Gibt es also doch ein ZK der Bourgeoisie, das sich all die Schweinereien ausdenkt, die gegenwärtig als notwendige Reformen gepriesen werden? “Nein”, sagt der ehemalige Kanzlerberater und Publizist Müller, aber “die Hinweise auf dezentral agierende Personen und Einrichtungen” sind “nicht von der Hand zu weisen”.
Da ist zum Beispiel die im Oktober 2000 gegründete “Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft” (INSM), die regelmäßig in der überregionalen Tagespresse für ihr Anliegen wirbt und finanzielle Entlastungen für die Unternehmen verlangt. Der ehemalige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer vertritt die INSM, die eng mit anderen Organisationen in der so genannten “Aktionsgemeinschaft Deutschland” zusammenarbeitet. Unter Reformpolitik verstehen diese Kreise den grundlegenden Umbau des Sozialstaats, in dem Kündigungsschutz nur stört, die Löhne zu hoch und die Arbeitszeiten zu kurz sind, und in dem die Unternehmen bei der anteiligen Finanzierung der Sozialleistungen, beim “Arbeitgeberanteil”, entlastet werden müssen. Ronald Berger, Hans-Olaf Henkel, Arnulf Baring, Meinhard Miegel und Roman Herzog, auch diese Namen finden sich in dem effektiv arbeitenden Netzwerk.
Einflussreiche Unterstützung kommt außerdem von der, wie Müller sie nennt, “Koalition der Willigen”. Das sind für ihn Personen und Unternehmen, die über den engeren Kreis der “Agitatoren der Refomlüge” hinaus bereit sind, sich an der Demontage des Sozialstaats zu beteiligen. Gabor Steingart vom Spiegel etwa zählt Müller hierzu, den FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, die Bertelsmann-Stiftung, die Deutsche Bank, die Commerzbank oder die Wochenzeitung Rheinischer Merkur. Und auch prominente Vertreter von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben wenig Berührungsängste: Peter Glotz etwa, oder Christine Scheel und Oswald Metzger.
Die “Agitatoren der Reformlüge” sind längst meinungsbildend geworden. In den Medien werden ihre Positionen meist freundlich bis begeistert aufgenommen und weiterverbreitet, wie sich Woche für Woche in den Fernsehtalkshows beobachten lässt. Regelmäßig finden hier auch die Apologeten aus der Politik ihre Bühne, können Westerwelle, Merz, Merkel, Gabriel und wie sie alle heißen ungeniert Unsinn reden und das nachplappern, was sie in der Vorwoche den einschlägigen Journalen entnommen haben.
Was verbirgt sich hinter den angeblich so dringend erforderlichen “Reformen”, die Deutschland wieder fit machen sollen? Nichts anderes als “Denkfehler, Mythen und Legenden”, meint Müller, die, ob gewollt oder unbeabsichtigt, darauf hinaus laufen, die sozialen Sicherungssysteme zu zerstören und sie privaten Kapitalinteressen auszuliefern!
Die gesetzliche Altervorsorge etwa ist nach Müller so schlecht geredet worden: Aus Modellrechnungen des Statistischen Bundesamts zum wahrscheinlichen Rückgang der Bevölkerung bis 2050 wurde ein “demographisches Problem” destilliert und in der Öffentlichkeit breit getreten.”Wir werden immer weniger”, so lautete die Hiobsbotschaft. Da die jungen Leute sich nicht mehr ordentlich vermehrten, würden in der Mitte des Jahrhunderts die Beitragszahlungen der (wenigen jungen) Arbeitenden nicht mehr für die Renten (der vielen Alten) ausreichen. Daher müsse die Altervorsorge mit privaten Elementen ergänzt oder ersetzt werden – behaupteten die Lobbyisten von Banken und privater Versicherungswirtschaft erfolgreich. Die Riester-Rente war der erste Schritt in dieser Richtung.
Aber der Wechsel des Finanzierungsverfahrens ändert überhaupt nichts daran, dass auch bei der privaten Altervorsorge die Jüngeren mit ihren Zahlungen die Renten der Älteren erbringen; und mit der versprochenen Sicherheit der privaten Vorsorge steht es längst nicht so, wie die Versicherungswirtschaft Glauben machen will. Die Versicherer versprechen ihren Kunden hohe Renditen. Dafür spekulieren sie an der Börse. Doch das kann auch ins Auge gehen. Zwischen 2000 und 2003 wurden so circa 100 Milliarden Euro in den Sand gesetzt! Die Zeche tragen die Versicherten mit Verlusten bei ihrer Altersvorsorge: Die garantierte Mindestverzinsung der Einlagen ist von vier Prozent in 2000 auf 2,75 Prozent ab 2004 zurückgefahren worden.
Für Müller gibt es daher überhaupt keine überzeugenden Argumente für die Abkehr von der gesetzlichen Rente. Auch ein Vergleich der Verwaltungskosten beider Systeme spricht Bände. Den etwa vier Prozent im gesetzlichen Umlageverfahren stünden circa 10 Prozent im Fall der “Riester-Rente” gegenüber, wenn bei den privaten Versicherern auch die Kosten für Werbung und Marketing berücksichtigt werden!
Müller will stattdessen das bewährte sozialstaatliche Modell der gesetzlichen Altersvorsorge stärken und erhalten. Ein Mehr an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung wäre für ihn ein wichtiger Schritt in dieser Richtung. Doch Schröder, Clement & Co haben sich für den anderen Weg entschieden und favorisieren die 400-Euro-Minijobs. Warnende Stimmen, die davon eine weitere Erosion des Normalarbeitsverhältnisses (den zunehmenden Rückgang sozialversicherungspflichtig Beschäftigter) und steigende Arbeitslosenzahlen befürchten, werden beharrlich ignoriert.
1998, bei ihrem Antritt, wollte die rot-grüne Koalition die Minijobs noch begrenzen, eben weil man genau diese Gefahren erkannt hatte. Inzwischen segeln Bündnis 90/Grüne und SPD stramm auf neoliberalem Kurs. Sie tun so, als würden laufend neue Herausforderungen auftauchen, die einer völlig neuen Politik bedürfen, die sie nun endlich in der Agenda 2010 umsetzen. Dabei ist das Wenigste davon neu und originell, belegt Müller. Meist wird das fortgesetzt, was die Ökonomen “angebotsorientierte” Politik nennen und was spätestens 1982 mit Kohl als Kanzler begann. Für wirtschaftliches Wachstum ist danach die Verbesserung der Angebotsbedingungen der Unternehmen entscheidend: Sind die Löhne geringer, die Arbeitszeiten länger, dann haben die Unternehmen geringere Kosten, bessere Absatzbedingungen und höhere Gewinnerwartungen. Also werden sie mehr investieren und auch zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Soweit die neoliberalen Phrasen.
Tatsächlich stiegen in den achtziger und neunziger Jahren die Unternehmens- und Vermögenseinkommen stärker als die aus unselbständiger Beschäftigung. Die damalige Koalition hat beispielsweise durch Entlastungen der Arbeitgeber bei der Rentenversicherung, dem Krankengeld und der Lohnfortzahlung, aber auch mit der Abschaffung der Vermögens- und Gewerbekapitalsteuer nachhaltig die Kapitalseite gestärkt. Doch wo haben die Unternehmen neue Arbeitsplätze geschaffen? Auch diesen Zusammenhang rückt Müllers Buch ins richtige Licht. Insgesamt werden 40 gängige Behauptungen aus Politik und Wirtschaft unter die Lupe genommen und gründlich entzaubert. Müller stellt Argumente gegen Phrasen und konfrontiert angebliche Gewissheiten mit überzeugenden Alternativen. Darin liegt die Stärke seines Buchs.
© Freitag