Am 14. Februar finden im weltweit größten Inselstaat Indonesien Wahlen statt, in denen u.a. ein neuer Staatspräsident und sein Stellvertreter gewählt werden. Just in diesen Tagen, genau am 6. Februar, wäre Pramoedya Ananta Toer, der landesweit bedeutendste Geschichtenerzähler im 20. Jahrhundert, 99 Jahre alt geworden. Anlass genug, um das literarische Schaffen und politische Wirken dieses Mannes im Kontext der jüngeren Geschichte Indonesiens Revue passieren zu lassen. Ein Essay von Rainer Werning.
Mit über 17.000 Inseln und knapp 280 Millionen Menschen ist Indonesien der flächenmäßig größte und bevölkerungsreichste Staat Südostasiens. Die Kontrolle des schon immer strategischen Seeweges durch die Malakka-Straße bedeutete gleichzeitig Teilhabe an expandierendem Handel mit Ost- und Südasien. Im Westen weckte das eigene Begehrlichkeiten: Seit dem frühen 16. Jahrhundert erschienen zunächst Portugiesen, später Spanier und schließlich Holländer auf dem Archipel, um sich unter anderem die geschätzten Gewürze von „Niederländisch-Indien“ unter den Nagel zu reißen. Zig einheimische Revolten wurden niedergeschlagen, 1911 entstand die erste antikoloniale Partei. Den Repressionen der Kolonialmacht trotzten Politiker unter der charismatischen Führung Achmed Sukarnos. Sie verschafften Mitte der 1920er-Jahre mit der Gründung der Indonesischen Nationalpartei (PNI) der aufkeimenden Nationalbewegung gegen die holländische Herrschaft eine politische Plattform.
Jugendjahre
Die Suche nach Einheit und Eigenständigkeit jenseits von kolonialer Bevormundung wurde zum beherrschenden Thema. In dieser Phase des politischen Umbruchs kam Pramoedya Ananta Toer am 6. Februar 1925 im zentraljavanischen Blora als ältestes Kind eines Schuldirektors zur Welt. In Blora verbrachte Pram, wie Freunde und Klassenkameraden ihn nannten, seine Kindheit. Dort absolvierte er auch in dem von seinem Vater geführten „Instituut Boedi Oetomo“ die Grundschule. Die mütterliche Unterstützung verschaffte Pram die Chance, einen Radiolehrgang zu absolvieren. Während der japanischen Besatzung (1942-45), die Pram und seine Freunde anfänglich begrüßten, arbeitete er bei der japanischen Nachrichtenagentur Domei. Da er dort hauptsächlich als Stenograph eingesetzt wurde und keine Chance sah, einen eigenen Beitrag zur Befreiung zu leisten, schloss er sich einer Untergrundorganisation an.
Am 17. August 1945 erklärte Indonesien seine Unabhängigkeit. Die Niederlande versuchten, das Ende ihrer Kolonialmacht mit Waffengewalt zu verhindern. Erst Ende 1949 verzichtete Den Haag auf die Herrschaft über Indonesien. In diese Zeit fiel Prams erste Verhaftung. Die Holländer sperrten den Rebellen von Juli 1947 bis Dezember 1949 hinter Gitter. Mit der endgültig erlangten Unabhängigkeit verband Pram die große Hoffnung, als freier Mensch in einem freien Land eine Karriere als politischer Publizist und Schriftsteller zu beginnen. Schließlich schien der Antikolonialist Sukarno als nunmehr volksnaher Präsident Indonesiens der beste Garant für ein würdevolles Leben zu sein.
Schaffensreiche Phase
Für Pramoedya Ananta Toer waren die Jahre von 1950 bis 1965 eine außerordentlich schaffensreiche Phase. Er avancierte zu einem landesweit geachteten Autor und wurde leitendes Mitglied der Lekra, des Instituts für Volkskultur, das maßgeblich die nationalistischen Ideen der Revolution von 1945 befördert hatte. Pram betreute die Herausgabe von Lentera (Die Laterne), der wöchentlichen Kulturbeilage der linken Zeitung Bintang Timur (Östlicher Stern). Darüber hinaus lehrte er indonesische Sprache und Literatur sowie Journalismus.
So sehr Pramoedya Sukarno anfänglich bewunderte, so sehr irritierte ihn zunehmend dessen autokratischer Regierungsstil. 1959/60 verbot ein Präsidialdekret chinesischstämmigen Indonesiern, außerhalb der Städte Handel zu treiben. Proteste dagegen und gegen die Diskriminierung dieser Minderheit trugen Pram die zweite Gefängnisstrafe ein. Ebenfalls im Jahre 1959 löste Sukarno das parlamentarische System durch die „Gelenkte Demokratie“ ab. Die Konsequenz: Das Militär wurde immer mächtiger. Unter dem Vorwand, eine Machtübernahme der damals weltweit drittgrößten KP, der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI), zu vereiteln, putschten sich Offiziere Anfang Oktober 1965 an die Macht. In den Monaten danach wurden in Indonesien nach konservativen Schätzungen etwa eine Million Menschen – bezichtigt als „Subversive“ oder „Sympathisanten der PKI“ – getötet. Komplizen der Militärdiktatur waren die Regierungen der USA, Großbritanniens, Australiens und der Bundesrepublik Deutschland. US-Agenten, so ist mittlerweile freigegebenen Dokumenten des US-State Department aus jener Zeit zu entnehmen, hatten den neuen Machthabern unter der Führung von Ex-General Suharto Todeslisten geliefert und akribisch die Namen der „Liquidierten“ durchgestrichen.
Brachiale „Neue Ordnung“
Einer Gerölllawine gleich riss Suhartos „Neue Ordnung“ alles in den Abgrund, was Kritik und Dissens wagte. Tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner „verschwanden“. Kritischen Intellektuellen, oppositionellen Gewerkschaftern, Journalisten und Schriftstellern – darunter Pramoedya Ananta Toer – wurde durch Schreib-, Rede- und Versammlungsverbot der Maulkorb verpasst. Pramoedya selbst wurde bereits im Oktober 1965 aufgegriffen und zum dritten Mal inhaftiert. Seine Schriften wurden verboten, seine Bibliothek beschlagnahmt, unveröffentlichte Texte und persönliche Unterlagen konfisziert oder gingen verloren. Bis 1979 dauerte Prams Haftzeit, darunter von August 1969 bis November 1979 auf der Gefangeneninsel Buru. Dort waren Tausende von politischen Gefangenen gezwungen, auf sich allein gestellt ihr Überleben zu organisieren.
Auf Buru entstand Pramoedyas bedeutendstes Werk, die Tetralogie Bücher der Insel Buru. Die allgegenwärtige Repression veranlasste Pram, die Handlung dieser Romane in die Zeit um 1900 zu verlegen. Sein Thema ist die koloniale Unterdrückung durch die Holländer. Anhand des Hauptprotagonisten, des javanischen Adeligen Minke, entfaltet Pram im Zeitraffer die Geschichte Indonesiens. Als einer der wenigen Einheimischen genießt Minke das Privileg, eine holländische Oberschule zu besuchen und dort die Sprache der Kolonialherren zu lernen. Seine unbequeme Zwischenstellung erfährt Minke durch die Bekanntschaft mit der Konkubine Ontosoroh, deren Tochter Annelies er liebt. Ontosoroh ist eine Einheimische, die – an einen Europäer verschachert – keinerlei soziale Wertschätzung genießt, aber gebildet, gewandt und geschäftstüchtig ist. Pram präsentiert sie als Mut einflößende Frau, die neben ihrem holländischen Mann Tuan Mellema zielstrebig ihren eigenen Weg geht. Letztlich aber wird sie ein Opfer der erbarmungslosen Gesetze der Weißen.
Schärfung nationalen, historischen und sozialen Bewusstseins
Minke schließt die Schule mit guten Noten ab und arbeitet als Journalist. Sein Holländisch ist exzellent, sodass Freunde ihm vorwerfen, er schreibe nicht in der Sprache der Einheimischen und kenne sein eigenes Volk nicht. Minkes Dilemma ist der Zwiespalt, trotz hoher Bildung die dunkle Hautfarbe nicht verleugnen zu können. So sehr er sich müht, in Gestus, Duktus und Diktion zur Herrenrasse zu gehören, er bleibt im doppelten Sinne außen vor: Die Herren wollen ihn nicht, und er mag sein Volk nicht. Rückschläge in seinem Beruf und das Schicksal derer, die Minke umgeben, lassen ihn mehr und mehr über seine eigene Lage reflektieren. In den letzten beiden Bänden der Buru-Tetralogie finden wir Minke in der Großstadt, wo er seine Identität in politischem Engagement findet. Er wird verfolgt und ins Exil getrieben.
Leitmotivisch durchzieht Prams Schriften die Auseinandersetzung der einheimischen mit der europäischen Kultur und damit die Schärfung nationalen, historischen und sozialen Bewusstseins. Immer wieder geht es um die Sprache als Instrument von Herrschaft und Medium des Widerstands. Subtil arbeitet die Buru-Tetralogie mit den Techniken der Montage. Ihr Autor konfrontiert seine Leserschaft mit komplexen Figuren, die auf vielfältige Weise ihr Leben meistern. Die unaufdringliche, lebensbejahende Botschaft: Bediene dich deines Verstandes und schärfe dein Erinnerungsvermögen, um die Verhältnisse zu verstehen und zu verändern.
Verkannt und geächtet
1979 konnte Pram aus Buru zurückkehren. Doch er wurde unter Stadtarrest gestellt – knapp 20 Jahre lang. Seiner Bürgerrechte beraubt, musste er sich regelmäßig bei der Polizei melden. Ein Jahr später erschienen mit Garten der Menschheit und Kind aller Völker die ersten beiden Bände der Buru-Tetralogie. Auf Anhieb wurden sie Bestseller – und ein Stachel im Wanst staatlicher Schnüffler und Kommissköpfe. Die Zensoren des Suharto-Regimes belegten die Werke mit dem Bannfluch des „Marxismus, Leninismus und des Kommunismus“ und verboten sie wegen ihres „subversiven“ Gehalts. Selbst Personen, die Prams Bücher nur besaßen, landeten hinter Gittern. Dennoch blieb Pram der meistgelesene zeitgenössische Autor des Landes. Massenhaft wurden seine Schriften hektographiert und unter der Hand weitergereicht.
Eine persönliche Begegnung in Zürich
Freundlich lächelnd kam mir Pramoedya entgegen, ein rüstiger, älterer Herr, die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen. Den ganzen Nachmittag eines strahlendblauen Sommertages im Jahre 2002 genoss ich das Privileg, diese beeindruckende Person trotz hektischen Terminkalenders hautnah zu erleben und in seine Gedankenwelt eintauchen zu können. Mehrfach zündete er sich eine „Kretek“ an, Nelkenzigaretten, deren allgegenwärtige Duftschwaden jeden Winkel seiner Heimat durchwehen und wie ein unsichtbarer Schleier über den Inseln schweben.
Welch Zierde für ein Land! So jedenfalls sollte man meinen. Immerhin tauchte der Name Pramoedya Ananta Toer seit 1981 auf der Liste der Anwärter für den Literaturnobelpreis auf. Doch die Mächtigen seines Landes scherten sich einen Dreck um diesen großen alten Mann der indonesischen Literatur. Ihnen war er die meiste Zeit ein Dorn im Auge und ein Stachel im Bewusstsein. Erst nach dem Abtritt Suhartos von der politischen Bühne im Mai 1998 wurde das Verbot der Verbreitung seiner Werke offiziell aufgehoben. „Natürlich ließen sich die Menschen auch vorher nicht abschrecken, meine Bücher zu lesen“, resümierte Pramoedya verschmitzt.
Zur Entstehung seines Hauptwerks Bücher der Insel Buru sagte er selbst:
„In den ersten Jahren habe ich in Gedanken geschrieben. Indem ich die Geschichten meinen Freunden erzählte, behielt ich sie in Erinnerung.“
Später brachte er sie zu Papier. Das war schwierig genug: Erst nach zähen Interventionen von Amnesty International und Literaten wie Günter Grass gelangte Pram endlich in den Besitz einer Schreibmaschine:
„Mit diesen Romanen wollte ich zuallererst Mut machen. Ohne Mut entsteht überhaupt nichts. Mut muss man sich erarbeiten. Menschen ohne Mut sind dumpf, wie Vieh, das sich nur vermehrt.“
An einer Stelle heißt es in Kind aller Völker, dem zweiten Band der Buru-Tetralogie:
„Das ist Menschenwerk. Das haben Menschen in ihrem Gehirn, in ihrem kaltblütigen Herzen ausgebrütet. Und Menschen müssen wir unsere Worte entgegenhalten. Gott ist nie auf der Seite der Verlierer.“
Trifft das auch heute noch zu? „Ja“, lautete die kategorische Antwort, „Gott ist stets auf der Seite der Mächtigen und Gewinner.“ Das Bestehende gilt es zu erkennen, um Niederträchtiges zu überwinden:
„Ich habe geschrieben, um zu bilden und nicht, um die Massen aufzuwiegeln. Ich sah, wie apathisch die Masse der Indonesier damals war, dass es der Massenaktion bedurfte, um Bewusstsein zu schaffen. Im Wesentlichen geht es darum, indonesische Geschichte literarisch zu schreiben. Es geht mir um Fragen der Veränderung unserer Gesellschaft. Und dazu gehört die Veränderung des Geschichtsbildes.“
Prägend für sein politisches Engagement waren die Jugendjahre in Blora:
„Ich wuchs in einem politisierten Umfeld auf. Mein Vater leitete eine Bildungseinrichtung, die bereits 1908 entstanden war, um javanisches Nationalbewusstsein zu fördern.“
Das grausame Intermezzo der japanischen Besatzung in den 1940er-Jahren raffte Hunderttausende seiner Landsleute dahin:
„In jedem küstennahen Dorf wurde die Zivilbevölkerung gezwungen, Schutzwälle aufzuschütten. Romusha hießen die Zwangsarbeiter, die von den Japanern systematisch ausgepresst wurden. Ihr Schicksal ist vergessen, keine Regierungsstelle in Jakarta kümmert sich um sie beziehungsweise ihre Hinterbliebenen.“
Welches Resümee zog Pramoedya aus der Suharto-Ära?
„Da war eine Kriegerkaste an der Macht, die tief in die Poren der Gesellschaft eindrang und sie unterdrückte. Im Gegensatz dazu war der erste Staatspräsident Sukarno ein Brahmane und politischer Ideologe. Sukarno wurde von der Armee, den Landstreitkräften, gestürzt. Und als Aburrahman Wahid (Präsident von Oktober 1999 bis Juli 2001 – RW) die Vorrechte der Armee zugunsten der Marine – wir sind ja ein insulares und maritimes Land – beschneiden wollte, wurde er gestürzt.“
Und wie schätzte er die Amtsführung der damaligen Regierung unter Präsidentin und Sukarno-Tochter Megawati Sukarnoputri (von Juli 2001 bis Oktober 2004) ein?
„Megawati ist eine hochbezahlte Touristin, die auf Staatskosten herumreist. Sagte ihr Vater noch zu den USA ‚To hell with you!‘, hofiert seine Tochter heute eben die USA. Deren Militärpräsenz im nördlichen Nachbarland, den Philippinen, ist auch gegen unser Land gerichtet. Die USA betrachten Indonesien als ein riesiges Dollarfeld, das sie beackern möchten. Da der Einfluss des Militärs im gesellschaftlichen Leben des Landes ungebrochen ist, möchten sich die USA, sobald die letzten Prozesse gegen Offiziere in Jakarta abgeschlossen sind, schnell wieder voll ihrer Dienste versichern. Dann bekommt die Meute von Schäferhunden wieder einige Knochen.“
Scharfzüngig kommentierte Pram auch die zur Zeit unseres Treffens politisch brisanten Entwicklungen wie den von den USA inszenierten „Feldzug gegen den Terror“ und das Hohelied auf die Globalisierung:
„Die Vereinigten Staaten von Amerika sollten, was Terror betrifft, in sich kehren und die eigene Geschichte studieren: Der Ausrottung der ursprünglichen Bevölkerung folgte die sklavische Behandlung der Schwarzen. Ich befürchte, heute zeigt sich Washington eher schießwütig als bereit, Konflikte durch politische Verhandlungen zu lösen. Globalisierung – das ist für mich nur ein anderes Wort für einen entfesselten Kapitalismus, der sämtliche Lebensbereiche durchdringen und sich einverleiben möchte.“
Die Vision Pramoedya Ananta Toers, der in diesen Tagen seinen 99. Geburtstag gefeiert hätte, blieb Zeit seines Lebens ein demokratisches Indonesien. Dafür hat er ebenso unermüdlich wie unbeugsam gestritten – in Worten wie in Taten.
Werke von Pramoedya Ananta Toer
- Spur der Schritte (Jejak Langkah). Roman. Aus dem Indonesischen von Giok Hiang-Gornik. Unionsverlag, Zürich 2002, 506 S., 12,90 EUR
- Die Braut des Bendero. Roman. Aus dem Indonesischen von Diethelm Hofstra. Horlemann, Bad Honnef 2001, 262 S., 14,90 EUR
- Aufzeichnungen aus Buru. Aus dem Indonesischen von Diethelm Hofstra. Horlemann, Bad Honnef 2000, 343 S., 10,20 EUR
- Stilles Lied eines Stummen. Deutsch von Diethelm Hofstra. Horlemann, Bad Honnef 2000, 343 S., 10,20 EUR
- Die Familie der Partisanen. Aus dem Indonesischen von Diethelm Hofstra, Bad Honnef 1997, 319 S., 22,50 EUR
- Kind aller Völker (Anak Semua Bangsa). Roman. Aus dem Indonesischen von Brigitte Schneebeli. Unionsverlag, Zürich 1994, 395 S., 12,90 EUR
- Spiel mit dem Leben. Roman. Aus dem Indonesischen von Doris Jedamski und Thomas Rieger. Rowohlt TB Reinbek 1990, 203 S., (vergriffen) sowie die
- Buru-Tetralogie / Bücher der Insel Buru
Titelbild: Pramoedya Ananta Toer in Köln (1999) – Archiv: Deutsch-Indonesische Gesellschaft (DIG), Köln