Seit 30 Jahren lebt und arbeitet Ulrich Heyden in Russland, einem Land, das sein Vater als Wehrmachtsoffizier überfallen hat. Die gänzlich unterschiedliche Wahrnehmung Russlands, dargestellt in der Familiengeschichte des Autors, zieht sich als roter Faden durch Heydens neues Buch „Mein Weg nach Russland. Erinnerungen eines Reporters“. Dazu kommt die Frage, wie es passieren konnte, dass ein großer Teil der systemoppositionellen 68er sowie die ehemals pazifistische Partei „Die Grünen“ zu den stärksten Befürwortern eines Kriegsgangs gegen Russland wurden. Wir veröffentlichen hier einen Auszug aus dem Buch. Von Redaktion.
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Hier folgt ein Kapitel aus Ulrich Heydens Buch „Mein Weg nach Russland. Erinnerungen eines Reporters“, das bei Promedia erschienen ist:
Meine linken Freunde in Deutschland. Vorauseilender Gehorsam (2014)
Seit dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine sind mehrere meiner besten Freundschaften in Deutschland zu Bruch gegangen. Über 40 Jahre waren wir befreundet oder zumindest in gutem Kontakt, haben zusammen politisch gearbeitet, gewohnt, gespeist, waren zusammen im Urlaub und haben Musik gemacht.
Was bleibt für mich nun von Deutschland? Nur das Territorium, welches ich mit meinem deutschen Pass weiter bereisen kann? Worauf muss ich mich in Deutschland einstellen? Auf Angriffe ukrainischer und deutscher Extremisten, die mich schon 2015 nach der Veröffentlichung des Films über den Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa beschuldigten, ich würde den Krieg in der Ukraine anheizen und mir deshalb den Tod wünschten?
Zum Glück habe ich in den letzten Jahren neue Freunde in Deutschland gefunden, auch in Ostdeutschland, wohin ich früher wenig Kontakte hatte. Über das Internet bekam ich viel Zuspruch für meine Veröffentlichungen. So bleibt ein lebendiger Draht nach Deutschland erhalten.
Was mich besonders sorgt, ist mitansehen zu müssen, wie sehr meine rebellische Generation verbürgerlicht ist und sich in vorauseilendem Gehorsam den Instrukteuren der großen Medien unterwirft. Ein guter Freund von mir in Deutschland, nennen wir ihn K., war für mich immer wie ein Bruder, manchmal wie ein Vater. Er ist ein paar Jahre älter als ich. K. war das Gegenteil von meinem leiblichen Vater. Er war nicht militärisch-preußisch und ging nicht auf Jagd. Er spielte Gitarre und pflegte seinen Garten.
Wir hatten viel gemeinsam. Wir kommen aus der Mittelschicht, waren in einer K-Gruppe, machten linke Betriebsarbeit und waren dem Blues verfallen. 1999 war K. noch wütend über den Kampfeinsatz von Bundeswehr und NATO in Jugoslawien.
Als in Russland Wladimir Putin an die Macht kam, begann es zwischen uns das erste Mal zu knirschen. K. drängte, ich müsse unbedingt über Wracks ausgemusterter sowjetischer Atom-U-Boote im russischen Nordmeer und über die Verfolgung des russischen Öl-Magnaten Michail Chodorkowski berichten. Das waren die Themen der »Tagesschau«. Mein Anspruch war über das zu berichten, was die »Tagesschau« ausblendete, etwa das Leben der einfachen Russen.
Als die Frauen von Pussy Riot ihr Punkkonzert in einer Moskauer Kirche machten, meinte K. zu wissen, dass in Russland bald eine Revolution ausbricht. Dass Moskauer Liberale, mit denen ich sprach, das Konzert verurteilten, interessierte ihn nicht. Die taz las er von Anfang bis zu Ende durch. Der Wertekanon, den diese Zeitung abbildete, sowie die »Tagesschau«, reichten ihm für die Meinungsbildung.
K. behauptete, er sei eigentlich nie Kommunist, sondern nur Antifaschist gewesen. Das war nun wirklich starker Tobak. Warum hat er sich dann jahrelang der strengen Disziplin einer K-Gruppe unterworfen? Warum wischte er 15 Jahre politischer Arbeit mit einer Ärmelbewegung weg?
Im Mai 2015 schockierte er mich mit dem Vorwurf »Antisemitismus«, und das kam so: Ich hatte mit K. eine Veranstaltung des »Jourfix-Gewerkschaftslinke« im Hamburger Curio-Haus besucht, wo mein Film »Lauffeuer« über den Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa gezeigt wurde. Auf der Veranstaltung erklärte ich, es sei schwer verständlich, wenn der jüdische Oligarch Igor Kolomoiski in der Ukraine Ultranationalisten finanziert, die Russland-freundliche Menschen im Gewerkschaftshaus ermorden. Nach der Veranstaltung sagte mir K., mein Vorwurf gegen Kolomoiski sei »antisemitisch«. Denn, warum müsse ein Jude politisch-moralisch besser sein als ein Nicht-Jude?
Doch das war noch nicht alles. Bei einer Begegnung im Mai 2022 in Hamburg erklärte mir K., es sei richtig, wenn die NATO und Deutschland der Ukraine Waffen liefern. Ich dachte, na gut, das war’s dann. Aber K. setzte noch eins drauf. Er schickte mir eine Mail nach Moskau, in welcher er ätzte, Putin sei jetzt wohl »mein neuer Papa«. Seitdem herrscht Schweigen zwischen uns.
Odessa-Flüchtling unter der »linken« Lupe
Ein anderer Freund aus Hamburg (er hatte die Film-Veranstaltung im Curio-Haus 2015 organisiert) – nennen wir ihn G. – beschwerte sich bei mir, dass Oleg Musyka, ein Überlebender des Brandes im Gewerkschaftshaus, der im Exil in Berlin lebt, bei der Veranstaltung anwesend war und auch das Wort ergriff.
Ich hatte Musyka nicht eingeladen, weil ich wusste, dass mein Freund ihn auf der Veranstaltung nicht sehen wollte. Musyka hatte über seine Kanäle Wind von der Veranstaltung in Hamburg bekommen und war auf eigene Initiative gekommen. Doch das konnte meinen Freund nicht beruhigen. Er forderte von mir, ich solle den Kontakt zu Musyka abbrechen, da er »nachweislich« mit Rechten zusammenarbeite. Ich erklärte, Musyka sei Antifaschist und habe in Berlin aus Unwissenheit auf einer Bühne mit Rechten gestanden. Er könne kein Deutsch und sei erst 2014 als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Doch meine Argumente zeigten keine Wirkung.
Ich verstand nicht: Wie konnten meine Freunde, die aus der linken Szene kamen, die einmalige Chance ungenutzt lassen, jemand, der sein ganzes Leben in der Ukraine verbracht hat, über seine Erfahrungen zu befragen? Ich stellte wieder einmal erstaunt fest, dass die bürgerliche Presse – über die wir uns früher immer erregten – meinen Freunden nun plötzlich als Informationsquelle ausreichte.
Russland hatten meine Freunde politisch abgehakt. Dort vermuteten sie nichts außer Reaktion und Konservatismus. Der Mainstream hatte ganze Arbeit geleistet. Denn wer keine Fragen mehr stellt und Schwarz-Weiß-Bilder akzeptiert, ist eine leichte Beute für Manipulationen.
Ich hörte immer wieder, in Russland gäbe es nichts zu verteidigen. Russland habe für Linke nach der Auflösung der Sowjetunion jeden Vorbildcharakter verloren. Ich frage: Ist die russische Linke nur dann für die deutsche Linke attraktiv, wenn sie gegen Putin Sturm läuft? Woher kommt diese Anspruchshaltung? Will man damit die Niederlage der deutschen Linken von 1990 übertünchen?
Viele deutsche Linke berauschen sich gerne an »sozialen Bewegungen« in anderen Ländern, wie Griechenland oder Rojava-Kurdistan. Das Interesse besteht aber nur, solange die Linken dort auf dem Vormarsch sind. Scheitern sie, sinkt das Interesse auf Null. Dadurch schränkt sich das Weltbild ungeheuer ein.
Der Ukraine-Krieg ordnete mein soziales Umfeld neu. Ich fühle mich heute innerlich verbunden mit Menschen, die ich bisher nicht kannte, die aber den gleichen Weg gegangen waren wie ich und aus den Volksrepubliken berichten, obwohl sie dafür große Nachteile in Kauf nehmen mussten, etwa Konto-Kündigungen und mediale Hetzkampagnen, wie der britische Video-Reporter Graham Phillips, die deutsche Bloggerin Alina Lipp, die humanitäre Helferin aus Brandenburg Liane Kilinc und der Journalist und Uni-Dozent Patrik Baab.
Irgendwann – so hoffe ich – wird den Deutschen klar werden, dass die großen deutschen Medien sie belügen und in der Ukraine kein demokratisches System herrscht, das man unterstützen muss. Wie kann ein Land eine Demokratie sein, in der alle Oppositionsmedien und Oppositionsparteien verboten sind, in dem Rechtsradikale ungestraft ein Gewerkschaftshaus anzünden und Andersdenkende auf der Straße anfallen und sogar ermorden können? Was hat es mit Demokratie und Nähe zu Europa zu tun, wenn in der Ukraine Straßen und Plätze nach den Hitler-Kollaborateuren Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch benannt werden? Und was ist daran demokratisch, wenn Friedensverhandlungen mit Russland per Gesetz verboten wurden?[1] Irgendwann werden die Menschen in Deutschland hoffentlich einsehen, dass es falsch ist, an ein Land wie die Ukraine Waffen zu liefern.
Heyden, Ulrich: Mein Weg nach Russland. Erinnerungen eines Reporters, Promedia 2024, 272 S., Print: € 25,00, E-Book: € 19,99.
Ulrich Heyden wird sein Buch „Mein Weg nach Russland. Erinnerungen eines Reporters“ vom 2. bis 12. Februar in sieben Städten Deutschlands vorstellen.
Da der Termin am 2. Februar in Berlin wegen der großen Nachfrage bereits ausgebucht ist, wird ein weiterer Termin am Donnerstag, 1. Februar, 19:00 Uhr (Einlass 18:00 Uhr), am selben Ort (RAUM, Rungestr. 20) und in derselben Besetzung stattfinden. Anmeldungen dazu bitte ebenfalls an [email protected]
- Freitag, 2. Februar, Berlin, mit Gabriele Gysi, Moderation, Einlass: 18:00, Ort: RAUM
- Samstag, 3. Februar, Pfaffenhofen, mit Ala Goldbrunner, Beginn: 19:00 Uhr, Ort: Hofbergsaal, Anmeldung unter Freundschaft mit Valjevo e.V.
- Montag, 5. Februar, Frankfurt am Main, Beginn: 19:00 Uhr, Ort: Saalbau Gallus
- Mittwoch, 7. Februar, Leipzig, mit Ala Goldbrunner, Beginn: 16:00 Uhr, Ort: Felsenkeller
- Donnerstag, 8. Februar, Hamburg, mit Ala Goldbrunner, Beginn: 19:00 Uhr, Rudolf-Steiner-Haus, Anmeldung unter NachDenkSeiten-Gesprächskreis Südholstein
- Freitag, 9. Februar, Aachen, mit Ala Goldbrunner, Beginn: 18:00 Uhr, Ort: Welthaus
- Montag, 12. Februar, Bremen, Beginn: 19:00 Uhr, Ort: Villa Ichon
Titelfoto: Promedia