Endspiel – Der Staat Palästina wird kommen

Endspiel – Der Staat Palästina wird kommen

Endspiel – Der Staat Palästina wird kommen

Peter Vonnahme
Ein Artikel von Peter Vonnahme

Redaktionelle Vorbemerkung: Der folgende Text von Peter Vonnahme ist eine ausführliche Darstellung der Probleme im Nahen Osten kombiniert mit konkreten Lösungsvorschlägen. Deshalb empfehlen wir diesen Text trotz seiner Länge Ihrer Aufmerksamkeit. Peter Vonnahme war Richter am Verwaltungsgericht München, von 1982 bis zu seiner In-Ruhestand-Versetzung 2007 Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof. A.M.

Bilanz des Grauens.

Gaza liegt in Schutt und Asche. Bisher gibt es mehr als 25.000 Tote, etwa 70 Prozent davon sind Frauen und Kinder. In den ersten drei Monaten des Krieges in Gaza sind mehr als doppelt so viel Menschen ums Leben gekommen wie in zwei Jahren Ukrainekrieg (ca. 10.000). Nahezu 70 Prozent der Gebäude sind zerstört oder unbewohnbar. Die Bevölkerung wurde vom israelischen Militär in den Süden des Landstrichs vertrieben, dort ging das Bombardement weiter.

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Die Menschen irren umher – heimatlos, entkräftet und verzweifelt – in ständiger Angst vor einem weiteren Militärschlag Israels. Flucht aus dem „Freiluftgefängnis Gaza“ ist fast unmöglich, weil Israel die Grenzen überwacht.

Im Innern herrscht Mangel an allem, an Trinkwasser, Nahrung, ärztlicher Versorgung, Strom, Treibstoff. Die UNO hat gewarnt, mehr als eine Million Menschen seien vom Hungertod bedroht.

Gaza ist die Hölle auf Erden, ein Ende ist nicht absehbar. Alle Appelle, die Zivilbevölkerung zu schonen, verhallen im Nichts. Netanjahu betont stereotyp, der Krieg müsse zu Ende geführt werden, bis die Hamas völlig vernichtet sei.

Israel führt schon längst keinen Verteidigungskrieg mehr gegen die Hamas, es ist inzwischen ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Israel begründet seine Bombardements damit, dass die Hamas ihre Waffenlager unter Schulen und Kliniken versteckt habe. Aber auch das rechtfertigt nicht die Grausamkeit der Militärschläge gegen zivile Einrichtungen. Überspitzt ausgedrückt: Hätte die Hamas die Bomber, Raketen und Panzer der Militärmacht Israel, wäre sie nicht auf solche Verstecke angewiesen.

Der Überfall

Der Versuch, die Geschehnisse einzuordnen, ist schwierig. Einigkeit besteht nur darin, dass die brutalen Terrorattacken der Hamas vom 7. Oktober schwere Verbrechen sind.

Allerdings ist dieses Datum nicht der Beginn des Zerwürfnisses und erst recht keine Zeitenwende. Es ist auch nur die halbe Wahrheit, wenn behauptet wird, dass der Hamas-Angriff überraschend und völlig unprovoziert erfolgt sei. In Wirklichkeit herrschte seit der Gründung Israels 1948 nie Frieden. Es gab mehrere verlustreiche Kriege. Außerdem gab es in all den Jahren der Besatzung immer wieder brutale Gewalttaten – auf beiden Seiten. Gerade in letzter Zeit häuften sich wieder Siedlerattacken auf die Zivilbevölkerung in der Westbank. Erst am Vorabend des Hamas-Angriffs überfielen israelische Siedler den Markt Huwara und töteten einen jungen Mann.

Aber nochmals: Das alles ist keine Rechtfertigung für den 7. Oktober.

Selbstverteidigung oder Rache?

Israel hat das Recht zur Selbstverteidigung gemäß Art. 51 Abs. 2 UN-Charta. Ursprünglich galt diese Norm nur bei einem bewaffneten Angriff durch einen Staat. Doch seit dem Terroranschlag der Al Kaida auf die USA („9-11“) werden auch Gewaltakte nichtstaatlicher Akteure – wie der Hamas – vom Anwendungsbereich der Vorschrift erfasst (Resolution 1368 des UN-Sicherheitsrats). Nach allgemeiner Auffassung darf Israel im Rahmen der Selbstverteidigung auch versuchen, die von der Hamas verschleppten Geiseln zu befreien.

Doch das Völkerrecht setzt klare Grenzen. Ein Massaker rechtfertigt nicht das nächste. Das bedeutet, ein Staat, der sich gegen Terroristen wehrt, darf nicht selbst zu Mitteln des Terrors greifen. Andernfalls wird er selbst zum Terrorstaat. Das Völkerrecht kennt nur ein Recht auf Verteidigung, aber kein Recht auf Rache. Wie brutal und niederträchtig die Angriffe der Hamas auf Zivilisten auch gewesen sein mögen, sie sind keine Legitimation für hemmungslose Bombardements der Zivilbevölkerung.

Es besteht kein Zweifel: In Gaza wird die zivile Bevölkerung kollektiv bestraft. Häuser und öffentliche Einrichtungen werden zerstört. Es werden überproportional viele Kinder und Frauen getötet, und Hunger wird als Waffe eingesetzt. Das dient nicht der Selbstverteidigung, das sind Kriegsverbrechen. Schon 2017 kam die UN in einem Untersuchungsbericht zu folgendem Ergebnis: „Viele [. .] Maßnahmen verstoßen gegen das Völkerrecht, weil sie die gesamte Bevölkerung von Gaza ohne Rücksicht auf die individuelle Verantwortung treffen und somit einer kollektiven Bestrafung gleichkommen.“

Bei einer Sitzung des Weltsicherheitsrates am 24. Oktober verurteilte UN-Generalsekretär António Guterres zunächst die Angriffe der islamistischen Hamas auf das Schärfste. Dann sagte er mit Blick auf die 56 Jahre dauernde „erdrückende Besatzung“ durch Israel: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht im luftleeren Raum stattfanden […] Der Schutz der Zivilbevölkerung bedeutet nicht, mehr als eine Million Menschen zur Evakuierung in den Süden zu befehlen, wo es keine Unterkünfte, keine Nahrung, kein Wasser, keine Medikamente und keinen Treibstoff gibt, und dann den Süden selbst weiter zu bombardieren.“ Durch diese juristische Einordnung werden die Verbrechen der Hamas nicht „relativiert“, wie israelische Regierungsvertreter immer wieder behaupten. Vielmehr orientierte sich Guterres an geltendem Recht.

Völkermord?

Ob in Gaza Völkermord begangen wurde oder wird, müssen die Richter des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag entscheiden. Dazu haben sie Gelegenheit, weil Südafrika Israel dort verklagt hat. Südafrika behauptet, dass die israelischen Militäraktionen Völkermordcharakter hätten. Nach Art. 2 der Völkermordkonvention sind das Handlungen, die „in der Absicht begangen“ werden, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Die Klage Südafrikas wird inzwischen von vielen Staaten, insbesondere aus dem globalen Süden, unterstützt. Diese werfen den Unterstützern Israels, vor allem den USA, GB und Deutschland Heuchelei vor. In den USA hatten schon vor Klageerhebung 800 Juristen die Besorgnis des Völkermords geäußert. Israel bestreitet die Zuständigkeit des IGH und verwahrt sich gegen die erhobenen Vorwürfe. Die deutsche Bundesregierung erklärte, sich im Klageverfahren an die Seite Israels zu stellen. Da jedoch Deutschland die israelischen Kriegshandlungen vorbehaltlos unterstützt und seine Waffenlieferungen an Israel im Vergleich zu 2022 fast verzehnfacht hat, wird der Verfahrensausgang auch für Deutschland schwerwiegende Folgen haben.

Die Entscheidung des IGH

Die 17 Richter des IGH haben am 26.1. unter Vorsitz der amerikanischen Richterin Joan Donoghue eine richtungsweisende Entscheidung getroffen. Sie haben zunächst die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Klage Südafrikas bejaht und den Antrag Israels auf Einstellung des Verfahrens abgelehnt. Dann stellten sie fest, dass der erhobene Vorwurf eines Völkermords plausibel sei. Die Lage in Gaza sei verheerend, die Existenz der Bewohner sei bedroht. Die Richter haben deshalb mit großer Mehrheit (15:2 bzw. 16:1 Richterstimmen) mehrere Sofortmaßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung im Gazastreifen angeordnet. Israel müsse die Gewalt gegen palästinensische Zivilisten unverzüglich stoppen und weitreichende humanitäre Hilfe zulassen; insbesondere sei der Transport von Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten in den Gazastreifen zu sichern. Außerdem seien Anstiftungen zum Völkermord strafrechtlich zu verfolgen und Beweismittel vor Vernichtung zu sichern. Zur Begründung seiner Entscheidung berief sich das Gericht auf entmenschlichende Äußerungen israelischer Regierungsmitglieder, sie würden eine genozidale Absicht aufzeigen. Binnen eines Monats müsse Israel dem IGH über Abhilfemaßnahmen berichten. Dem Antrag Südafrikas, einen formellen Waffenstillstand anzuordnen, folgte das Gericht nicht.

Der heutige Gerichtsentscheid ist noch kein Urteil über die eigentliche Völkermordklage. Das abschließende Urteil wird erfahrungsgemäß noch Monate oder gar Jahre dauern. Jedoch ist der Entscheid unanfechtbar und für alle Parteien bindend.

Der IGH hat nicht die Macht, Länder zu einem rechtmäßigen Verhalten zu zwingen. Das Gericht hat nämlich im Gegensatz zu nationalstaatlichen Gerichten keine eigenen Vollstreckungsorgane. Es ist auf die Mithilfe der Staaten und der UNO angewiesen.

Die Praxis zeigt, dass Richtersprüche des IGH trotzdem keine stumpfe Waffe sind. Denn allein dadurch, dass ein Verfahren stattfindet, wird der Mantel des Schweigens aufgerissen und der kriegführende Staat in das Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit gestellt. Das mag niemand. Die Bedeutung des Klageverfahrens zeigt sich schon im Großaufgebot von renommierten Rechtsanwälten, die Israel vor dem IGH vertreten. Durch die Entscheidung erhöht sich der politische Druck auf Israel. Anders ausgedrückt: Die Zustimmung der Staatengemeinschaft zu den Militärmaßnahmen wird sich weiter verringern, das Renommee Israels wird Schaden leiden. Künftig wird es auch nicht mehr gelingen, den Völkermordvorwurf als Antisemitismus („Blutverleumdung“) abzutun.

Bundesregierung, Parteien und proisraelische Lobbygruppen werden ihre Haltung überdenken müssen. Das gilt vor allem für Waffenlieferungen. Auch die Frage von Sanktionen steht im Raum. Was im Falle Russlands als zielführend angesehen wurde, kann mit Blick auf Israel nicht prinzipiell abgelehnt werden.

Die deutsche Israelpolitik war auch vor dem Richterspruch befremdlich. Man hatte sich über Jahre angewöhnt, mit double standards zu messen. Beispiel: Während man bei Russlands Angriff auf die Ukraine ohne detaillierte Sachverhaltsprüfung eine gerichtliche Verurteilung forderte, verfuhr man im Falle Israels umgekehrt. Die Bundesregierung verteidigte die israelischen Militärschläge gegen Gaza spontan und ohne Überprüfung der in Südafrikas Klageschrift auf 84 Seiten aufgelisteten Tatsachen als gerechtfertigt. Professionell wäre gewesen, zunächst die Akten zu studieren und sich erst dann zu äußern.

Medienversagen

Bedauerlicherweise haben auch unsere Mainstream-Medien wieder einmal versagt – von ARD bis ZDF und von Bild über FAZ, SZ und taz bis zu Welt. Sie berichteten voreingenommen und selektiv und hatten nicht den Mut, das eklatante Fehlverhalten eines Partners, der dem „Wertewesten“ zugerechnet wird, klar zu benennen. Beim aktuellen Krieg in Gaza erweckten sie den Anschein, als seien sie die Gralshüter dessen, was Ex-Kanzlerin Merkel 2008 in der Knesset als „deutsche Staatsräson“ bezeichnet hat.

Die Zurückhaltung vieler Medien ist völlig unverständlich, weil israelische Politiker und Militärs kein Blatt vor den Mund genommen haben.

Premierminister Netanjahu redete offen davon, Gaza plattzumachen. Wörtlich am 8. Oktober: „Wir werden Gaza zu einer Insel aus Ruinen machen“. Verteidigungsminister Gallant sagte am 9. Oktober im Fernsehen: „Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff … Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend.“ Der Sprecher der israelischen Armee, Daniel Hagari, sagte am 10. Oktober in Haaretz: „Wir werfen hunderte Tonnen von Bomben auf Gaza. Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit“.

Solche Worte bedürfen keiner redaktionellen Interpretation. Sie beschreiben in Klarschrift die Strategie, Leben im Gazastreifen auszulöschen und zivile Infrastruktur für immer zu zerstören. Nicht auszudenken, welch hysterischer Aufschrei durch die deutschen Nachrichtenstudios gegangen wäre, wenn sich der Lieblingsfeind des deutschen Mainstreams, Putin, so geäußert hätte.

Wenn aber die höchsten Vertreter Israels solchen Wahnsinn in die Welt hinausposaunen und entsprechend handeln, dann sprechen staatsnahe Nachrichtensprecher vom Überlebenskampf Israels und vom Recht auf Selbstverteidigung; es ist zum Fremdschämen. Von freien, unabhängigen und am Recht orientierten Journalisten wäre zu erwarten, dass sie den Rücken durchdrücken und Israels Bombardements als das bezeichnen, was sie sind: Kriegsverbrechen.

„Deutsche Staatsräson“

Die Frage drängt sich auf: Kann all das Irritierende durch Merkels Zusage, die Sicherheit Israels sei „deutsche Staatsräson“, gerechtfertigt werden? Meine Antwort lautet nein. Zum einen ist nirgendwo definiert, was diese Staatsräson genau bedeutet. Der Begriff schillert zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen. Die Unschärfe wurde gerade jetzt sichtbar, als darüber diskutiert wurde, ob aus der zugesagten Staatsräson eine Pflicht zu Waffenlieferungen oder gar zu militärischem Beistand abgeleitet werden kann.

Selbst wenn man annimmt, dass Merkels Versprechen 2008 berechtigt war, könnte das heute angesichts offenkundiger Rechtsbrüche Israels nicht mehr aufrechterhalten werden.

Denn auch eine Staatsräson hätte klare Grenzen. Sie würde spätestens dort enden, wo die Normen des Völkerrechts und das Friedensgebot des Grundgesetzes (Präambel und Art. 1 Abs. 2 GG) anfangen. Deutschland ist als verfassungsmäßiger Rechtsstaat der Stärke des Rechts verpflichtet und nicht dem Recht des Stärkeren. Außerdem darf ein Rechtsstaat nie mit zweierlei Maßstäben messen. Was für die eine Seite recht ist, muss für die andere billig sein. Konkret heißt das: Wer von palästinensischen Terrorgruppen verlangt, dass sie ihre Raketenangriffe auf israelisches Gebiet einstellen, muss gleichzeitig Israel auffordern, unverhältnismäßige Luftangriffe auf Wohngebiete, Schulen und Kliniken in Gaza zu unterlassen.

Aus unserer historisch begründbaren Sonderverantwortung für Israel leiten sich naturgemäß Freundschaftspflichten ab. Echte Freundschaft erweist sich aber nicht in der stillschweigenden Hinnahme oder gar Unterstützung von Fehlverhalten. Sie zeigt sich vielmehr im Mut, dem Freund notfalls in den Arm zu fallen, wenn er im Begriff ist, schwere Fehler zu machen. Andernfalls ist man ein bequemer und damit unzuverlässiger Freund. Ein echter Freund muss seinem angetrunkenen Zechkumpan die Autoschlüssel wegnehmen, wenn dieser ins Auto steigen und losfahren will. Nichts anderes gilt für das Verhalten zwischen Staaten.

Doch Deutschland schweigt traditionell bei israelischem Fehlverhalten. Reaktionen der deutschen Politik sind oftmals Zeichen von bedrückender Einseitigkeit und Perspektivlosigkeit. Die von Kanzler Scholz unlängst abgegebene Erklärung „Unsere Verantwortung, die sich aus dem Holocaust ergibt, macht es für uns zu einer ewigen Aufgabe, für die Existenz und Sicherheit des Staates Israel einzutreten“, ist ein schlichtes Update von Merkels Staatsräson. Das klingt zwar edel, ist aber in Wirklichkeit unüberlegt und toxisch. Es ist gewissermaßen ein Blankoscheck, der Israel ermächtigt, alles zu machen, was es will, und Deutschland verpflichtet, hierbei zu sekundieren. Damit lässt der Kanzler Völkerrecht und Grundgesetz weit hinter sich. Zudem macht er sich zum Büttel Israels.

Ähnlich unterkomplex ist es, wenn die deutsche Außenministerin Baerbock schwadroniert, „In diesen Tagen sind wir alle Israelis“. Solche Worte haben mit Diplomatie und rechtverstandener Freundschaft nichts zu tun. Sie bringen Deutschland vielmehr in den Verdacht, Komplize eines Völkermordes zu sein.

Ein kluger Freund würde sich vorher zumindest überlegen, ob eine solche Anbiederung wirklich israelischen Interessen dient. Denn es ist zweifelhaft, ob die von Israel seit Jahren praktizierte Politik der Härte gegenüber Palästina die Gefährdungen für die eigene Bevölkerung verringert hat. Der Blutzoll der letzten Wochen spricht eher dagegen.

Gibt es deutsche Sonderbeziehungen zu Israel?

Klare Antwort, ja. Es geht hier nicht um persönliche Schuld, sondern um eine historische Erblast. Erblasten erledigen sich nicht durch Zeitablauf. Viele Leute sagen heute, es müsse endlich ein „Schlussstrich“ gezogen werden. Diese Debatte ist nicht hilfreich. Denn millionenfaches Verbrechen kann nicht ungeschehen gemacht, „gestrichen“ werden.

Aus der historischen Verantwortung folgt, dass Deutschland im Streit, ob es ein Existenzrecht Israels gibt, an der Seite Israels stehen muss. Die Staatsgründung Israels – so umstritten sie seinerzeit auch gewesen sein mag – ist ein abgeschlossener historischer Tatbestand. Im Vertrauen hierauf haben mehrere Generationen und Millionen Menschen ihre existenziellen Entscheidungen getroffen. Sie haben sich für ein Leben in Israel entschieden. Dieses Vertrauen muss geschützt werden. Israel hat ein Recht auf Existenz – ohne Wenn und Aber. Ein Roll-Back zum Status vor der israelischen Staatsgründung 1948 wird und darf es nicht geben. Wer Gegenteiliges verspricht, schwindelt. Das wissen auch besonnene Palästinenser. Gesprochen werden kann heute nur noch über Fragen des Wie eines Zusammenlebens zweier Völker, etwa über Grenzziehungen, Siedlungs- und Entschädigungsfragen, Modelle der Staatlichkeit.

Deutsche Verantwortung auch für Palästina?

Auch hier ein klares Ja. Die deutsche Außenpolitik muss endlich verstehen, dass Deutschland nicht nur gegenüber Israel, sondern auch gegenüber den schuldlos aus ihrer Heimat vertriebenen Palästinensern und den im Land gebliebenen Landsleuten eine historische Verpflichtung hat.

Denn das palästinensische Drama des letzten Dreivierteljahrhunderts hat seine tiefe Ursache im Holocaust. Dieser war nämlich hauptursächlich für die Einwanderungswelle entrechteter und traumatisierter Juden nach Palästina ab Mitte der dreißiger Jahre. Vor allem aber haben die schrecklichen Bilder des Holocaust die überstürzte Staatsgründung Israels begünstigt. Dies alles ging zu Lasten der angestammten palästinensischen Bevölkerung, den Nomaden, den Grundbesitzern, Handwerkern, Händlern und Arbeitern. Vereinfacht ausgedrückt: Diese heimischen Menschen sind die Opfer unserer Opfer. Oder wie Alfred Grosser es ausdrückte: „Die Palästinenser sind die letzten Opfer des Holocaust.“

Holocaust, Massenflucht und Einwanderung sind Deutschland zurechenbar. Hieraus folgt eine besondere Verantwortung für das Schicksal der Palästinenser, und zwar ethisch, politisch und rechtlich.

Die Palästinenser bemühen sich seit einem Dreivierteljahrhundert erfolglos um die Gründung eines eigenen Staates. Die Idee steht nach wie vor nur auf dem Papier. Bisher hat Israel einen Palästinenserstaat mit viel Chuzpe verhindert. Es hat unter den Augen der Weltöffentlichkeit – gestützt auf die tragische Geschichte der Juden und auf seine Militärmacht – sein Staatsgebiet ausgedehnt und auf dem Rest, auf der Westbank, unter Missachtung des Völkerrechts eine Unzahl völkerrechtswidriger Siedlungen gebaut.

Der „Wertewesten“, der bei Fehlverhalten von Systemgegnern so vehement Völkerrecht und Menschenrechte anmahnt, hat hier jahrzehntelang tatenlos zugeschaut. Währenddessen ist die Forderung nach einem Staat Palästina zur leeren Worthülse verkommen. Mit Blick auf die Zukunft muss sie wieder mit Leben aufgefüllt werden. Das gilt für die Politik der internationalen Staatengemeinschaft und erst recht für Deutschland.

Zwischenfazit:
Die ungeheure Schuld, die Deutsche gegenüber dem jüdischen Volk auf sich geladen haben, darf nicht dazu führen, dass Deutschland nunmehr – gewissermaßen zum Ausgleich – eine ungerechte Politik Israels gegenüber dem palästinensischen Volk unterstützt und bei Menschenrechtsverletzungen wegschaut und schweigt. Durch eine solche Haltung würde begangenes Unrecht nicht verringert oder gar geheilt werden. Vielmehr würde einer großen historischen Schuld eine weitere zugefügt.

Endspiel

Das gegenwärtige Kriegsgemetzel wurde durch den Hamas-Terrorakt vom 7. Oktober 2023 ausgelöst. Also muss dieses als Erstes beendet werden. Die Hoffnungen ruhen seit dem 26.1. verstärkt auf dem IGH. Doch dessen abschließendes Urteil kann dauern.

Davon abgesehen wäre selbst bei einem Ruhen der Waffen in Gaza das Fernziel Frieden in Nahost nicht erreicht.

Da das Zerwürfnis zwischen Israel und Palästina nicht im Oktober 2023 begann – auch nicht mit den großen Kriegen von 1967 und 1973 -, muss die Suche nach einer Lösung früher ansetzen, nämlich beim „israelischen Unabhängigkeitskrieg“ von 1948. Die Araber nennen ihn „al-nakba“, die Katastrophe.

Die Staaten der Welt sahen nach der Shoah die Lösung für die drängende Judenfrage im Modell zweier Staaten, einem jüdischen und einem arabischen, in dem Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan. Die Römer nannten diese Provinz vor 2000 Jahren Palaestina. Die UNO-Generalversammlung beschloss 1947 einen Teilungsplan (Resolution 181 der UNO). So überzeugend die Idee einer „Zwei-Staaten-Lösung“ auf den ersten Blick war, sie hatte ihre Mängel. Ein Kommentator beschrieb den Teilungsplan treffend: Ein Volk (die Briten) gab einem anderen Volk (den Juden) ein Land, das einem Dritten (den Arabern) gehörte. Diese holzschnittartige Darstellung beschreibt den Kern des Problems. Der Plan scheiterte aus mehreren Gründen. Doch seine Grundidee, zwei separate souveräne Staaten nebeneinander, ist auch heute, 75 Jahre später, noch tragfähig. Die Alternative „Ein-Staat-Lösung“ war von Anfang an chancenlos, zu unterschiedlich waren und sind die Narrative und Seelen von Juden und Palästinensern. Es hätte somit von Anfang an ein Kernelement eines Staates, nämlich ein „Staatsvolk“, gefehlt.

Die Welt ist 1947 nicht stehengeblieben. Deshalb wird heute immer noch oder wieder ein Gesamtkonzept gesucht, das die Interessen beider Völker berücksichtigt und die Region Nahost dauerhaft aus der Spirale der Gewalt herausführt. Das verlangt neues Denken und zwar von beiden Konfliktparteien.

Israel muss begreifen, dass es ohne eine Friedenslösung auch in Zukunft unter der ständigen Angst vor Terroranschlägen leben muss. Das trifft heute mehr denn je zu, weil der 7. Oktober die hohe Verletzlichkeit Israels offenbart hat. Ein weiterer militärischer Sieg Israels würde die tief sitzende Verbitterung der Palästinenser nicht heilen, sondern vergrößern. Die Region wäre keinen Schritt weiter. Denn man kann zwar Waffen zerstören, vielleicht auch eine Organisation wie die Hamas zerschlagen, aber nicht dunkle Gedanken in den Köpfen der Verlierer auslöschen. Der Widerstand würde sich alsbald unter anderem Namen neu formieren. So gesehen ist ein einvernehmlich gebildeter Palästinenserstaat im vitalen Interesse Israels. Tragisch ist, dass große Teile der israelischen Bevölkerung noch nicht so weit sind, das einzusehen. Da sich Israel zur politischen Begründung seiner eigenen Existenz immer auf den Teilungsplan von 1947 beruft, kann es aus Gründen der Logik dessen zweiten Teil, nämlich die Errichtung eines Staates Palästina, nicht prinzipiell ablehnen. Es ist unredlich, aus einem einheitlichen Vorschlag nur das herauszupicken, was einem genehm ist, den Rest aber zu ignorieren.

Umgekehrt müssen die Palästinenser einsehen, dass eine Renaissance der Verhältnisse vor 1948 unrealistisch ist. Fast alle Staaten der Welt haben die Existenz Israels anerkannt. Zudem ist eine gewaltsame Umsiedlung von geschätzt 500.000 Siedlern aus der Westbank praktisch ausgeschlossen. Erinnert sei an die bürgerkriegsähnlichen Kämpfe bei der Umsiedlung von „nur“ 9.000 israelischen Siedlern aus Gaza im Jahr 2005 („Sharon-Plan“).

Modifizierter Teilungsplan 2024

Kern einer Lösung könnte sein, die Architektur der Zwei-Staaten-Lösung auf die Notwendigkeiten der Gegenwart zu heben. Ein solches Konzept wurde – nebenbei bemerkt – schon vor vielen Jahren von der PLO vertreten, es scheiterte vor allem am Widerstand der Siedler. Doch die Situation von 2024 ist eine andere. Hieraus leitet sich folgendes Grundmodell ab:

Stufe 1: Den Siedlern in den besetzten Gebieten wird angeboten, in Palästina zu bleiben unter der Bedingung, dass sie die Autorität des neuen Staates Palästina anerkennen – mit allen Rechten und Pflichten.

Stufe 2: Wer dazu nicht bereit ist, muss in das israelische Staatsgebiet umziehen.

Konkrete Bausteine einer solchen Lösung wären u. a. die internationale Anerkennung des Staates Palästina, Vollmitgliedschaft in der UNO, klare Grenzen, volle staatsbürgerliche Rechte aller Menschen in beiden Staaten, Gefangenenaustausch, Freilassung aller Geiseln, Verzicht auf Militärgewalt im Innern, Entwaffnung der Siedler, Wiederaufbau Gazas, Wiedergutmachung etc.

Dieses Ziel ist nicht einfach zu erreichen, es erfordert Realitätssinn und Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Insbesondere die USA werden gefordert sein, sie müssen sich zu ihrer Verantwortung für Israel bekennen. Mahnende Worte allein werden nicht genügen. Die USA müssen als ernsthafter Friedensstifter tätig werden. Das könnte bedeuten, dass sie Waffen- und Geldunterstützung für Israel von Bedingungen abhängig machen, also Druck entfalten. Das gilt naturgemäß auch für Deutschlands Israelhilfe.

Der israelische Ministerpräsident Netanjahu hat in den letzten Tagen mehrfach betont, dass Israel die volle Kontrolle über das palästinensische Gebiet behalten müsse. Das kann er so glauben. Entscheidend wird aber sein, wie sich die internationale Unterstützung Israels entwickelt. Es ist unübersehbar, dass die Geduld der USA, der EU und der arabischen Welt mit der israelischen Blockadehaltung zur Neige geht. Die erwähnten Länder drängen inzwischen auf die Bildung des Staates Palästina. Dadurch steigen die Chancen einer Einigung. Dies gilt umso mehr, als die Gefahr einer Ausweitung des lokalen Krieges zu einem globalen Nuklearkrieg von Tag zu Tag steigt. Das müssen alle bedenken.

Bedauerlich ist, dass sich einige der genannten Staaten wegen ihrer bisherigen Parteilichkeit zunächst als Vermittler disqualifiziert haben dürften, sie müssen zunächst Vertrauen zurückgewinnen. Somit müsste die Initiative von anderen Institutionen ausgehen. Zu denken wäre insbesondere an den Generalsekretär der Vereinten Nationen.

Persönliches zu Schluss

Ich habe mehrfach erlebt, dass politische Träume in Erfüllung gehen können – und zwar schneller, als es sich die kühnsten Optimisten vorstellen können. Ich erinnere mich, dass ein betagter Veteran aus dem 1. Weltkrieg bierselig und erinnerungsschwer vor sich hin brummelte, „Jeder Schuss a Russ’, jeder Stoß a Franzos’“. Für das Kind, das 80 Jahre später diese Zeilen schreibt, war das kaum verständlich. Etliche Jahre später traten ein französischer General namens Charles de Gaulle und der Kanzler Konrad Adenauer in meine einfache Kinderwelt und aus dem „Erzfeind Frankreich“ wurde fast über Nacht der engste Verbündete Deutschlands. Viele Jahrzehnte später gab es einen charismatischen Russenpräsidenten namens Michail Gorbatschow, dem bei seinem Deutschlandbesuch die Herzen der bundesdeutschen Frauen und Männer zuflogen. Wenige Wochen und einen Volksaufstand später war Deutschland wiedervereint und die russischen Soldaten zogen unter heiterer Marschmusik aus Deutschlands Osten ab.

Zwei Episoden. Wunder? Nein, lebendiges Leben!

Warum soll Ähnliches nicht auch im Land zwischen Mittelmeer und Jordan möglich sein? Dann heißen die entscheidenden Akteure nicht Charles, Konrad oder Michail, sondern Adnan, Hassan, Ruben oder Moshe.

Der Tag wird kommen. Denn es gibt nüchtern betrachtet dazu keine zukunftsträchtige Alternative.

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Titelbild: WDR