Wenn in einer Demokratie die Menschen nicht gegen die Regierung, sondern gegen die Opposition auf die Straße gehen, so ist dies ein merkwürdiger Vorgang. Noch merkwürdiger wird das Ganze, wenn es dabei vordergründig um vermeintliche Pläne der Opposition geht, Ausländer aus Deutschland abzuschieben, und die Bundesregierung genau einen Tag vor den Massendemonstrationen selbst ein Gesetzespaket eingebracht hat, dass das „Abschieben im großen Stil“ (O-Ton Bundeskanzler Scholz) erleichtert. Man könnte hier auch von Doppelmoral sprechen. Die SPD, die seit Monaten immer neue und härtere Maßnahmen zur Ausweisung von Ausländern diskutiert, organisiert nun Demos gegen eine Oppositionspartei, die das fordert, was in der SPD längst als politische Strategie anerkannt ist, um sich die Stimmen von ebenjener Oppositionspartei zurückzuholen. Die Verlierer sind vor allem Flüchtlinge und Einwanderer, auf deren Rücken ein politischer Kampf ausgetragen wird, der eigentlich gar nichts mit ihnen zu tun hat. Ein Kommentar von Jens Berger.
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„Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ – dieser Satz stammt nicht etwa von der AfD, sondern von Bundeskanzler Olaf Scholz. Der Satz ist erst wenige Wochen alt und fiel so im großen Kanzlerinterview mit dem SPIEGEL. In diesem Interview fordert Scholz übrigens auch, „die Anreize dafür zu senken, sich hier irregulär bei uns aufzuhalten“. Der Rechtsextremist Martin Sellner, über den in der letzten Woche so viel geschrieben wurde, nennt dies in seinem viel zitierten „Masterplan“ eine „Justierung der Pull- und Push-Faktoren“. Sellner spricht auch gerne von „Remigration“. Am Donnerstag wurde im Bundestag in zweiter und dritter Beratung ein „Rückführungsverbesserungsgesetz“ debattiert. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach dabei von einer „Rückführungsoffensive“ – man müsse „schneller und effektiver abschieben können“. Das hört sich doch sehr nach Sellner an.
Vor wenigen Wochen forderte Nancy Faeser auch, man solle „Antisemiten“ auch noch bis zu „zehn Jahre rückwirkend den deutschen Pass entziehen“ können. Sie hätten bei ihrer Einbürgerung ein „falsches Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung“ abgelegt. Auch in AfD-Kreisen will man immer wieder „Ausländer“ loswerden, die sich nicht an die freiheitlich demokratische Grundordnung halten. Im August letzten Jahres propagierte Faeser sogar die Idee, man solle Angehörige von Clan-Familien auch dann vereinfacht und schnell abschieben können dürfen, wenn diese überhaupt nicht straffällig werden. Das fordert die AfD auch. Schneller und härter abschieben, Deutschen, die sich nicht an unseren Werten orientierten, den Pass entziehen und auch unbescholtene Angehörige von Clan-Familie abschieben – das klingt nach AfD, ist aber SPD.
Selbstverständlich ist es nicht per se illegitim, solche Positionen zu vertreten. Es soll an dieser Stelle nicht um eine inhaltliche Bewertung gehen. Nicht legitim ist es aber, wenn man solche Positionen vertritt und dann zu Demos gegen eine Oppositionspartei aufruft, die in diesem Punkt ganz ähnlich argumentiert.
Ist es ein Zufall, dass heute kaum mehr wer von den Bauernprotesten spricht, die sich gegen die Ampel gewandt hatten? Strategisch konnten die „Enthüllungen“ zum Treffen rechtsgerichteter Aktivisten unter Beteiligung von Politikern aus AfD und CDU in Potsdam, das im November letzten Jahres stattfand, kaum besser getimet sein. Vor zwei Wochen protestierte man auf der Straße gegen die Politik der Ampel, an diesem Wochenende protestierte man für die Ampel. Wurden die Bauernproteste von den meisten Kommentatoren in den Medien scharf kritisiert, war man sich im Lob für die Proteste gegen die AfD einig. Doch gegen oder für was wurde dort eigentlich demonstriert?
In der letzten Woche hatte ich auf den NachDenkSeiten bereits ausgeführt, dass nur wenige „Umfragenwähler“ der AfD diese Partei wegen ihrer Migrationspolitik oder ihrer reaktionären Wertepolitik unterstützen. Die AfD hat es – auch mit unfreiwilliger Hilfe der Medien – geschafft, sich als Sammelbecken der Unzufriedenen zu positionieren. Unzufrieden mit der Politik der Ampel sind viele und die Gründe dafür sind mannigfaltig. Nun könnte die Regierung ja in der Tat die Unzufriedenen besänftigen und ihre Politik „nachbessern“, wie man es heute so schön formuliert. Doch davon ist nicht die Rede. Stattdessen hat man sich auf das Migrationsthema eingeschossen, übernimmt hier Forderungen der AfD und ruft gleichzeitig zu Demonstrationen gegen die AfD auf. Seltsamerweise scheint dieser Widerspruch weder den Demonstranten noch den Medien aufzufallen. Auf die Umfrageergebnisse der AfD wird dies jedenfalls keine Auswirkungen haben.
Dabei ist die Strategie recht einfach zu durchschauen. Schon im Sommer letzten Jahres wies Albrecht Müller auf den „Wippschaukeleffekt“ hin, der mit der AfD-Debatte ausgelöst werden soll. Je düsterer man die AfD darstellt, desto heller wirkt man selbst … auch wenn man sich inhaltlich oft gar nicht so sehr unterscheidet. Schnellere Abschiebungen durch die SPD sind gut, die Forderung der AfD nach schnelleren Abschiebungen ist schlecht. Man rückt den Begriff „Remigration“ in die Nähe der Wannseekonferenz – ist dies eigentlich keine Verharmlosung des Holocausts? -, spricht aber selbst von einer „Rückführungsoffensive“ und bringt ein „Rückführungsverbesserungsgesetz“ ein. Den in Deutschland lebenden Ausländern ohne klare Aufenthaltsperspektive sollte ein Schauer über den Rücken laufen. Sie sind die Bauernopfer.
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