Eine aktuelle Schlagzeile aus der Welt des Alpinen Skizirkus hat es in sich: „Horrorsturz auf der Streif!“ Sie wissen schon, am Wochenende steigt wieder das berühmte Abfahrtsrennen in Kitzbühel. Ganz nebenbei, derlei sensationslüsterne Überschriften über extreme Ereignisse im Profisport gab es schon immer, und sie sind auch in unserer außer Rand und Band geratenen Zeit keine Seltenheit, sie häufen sich sogar. Vor allem bestätigen sie: Wie es sich für eine nimmersatte „Wachstumsbranche“ gehört, werden die Grenzen der Belastbarkeit der Sportler permanent ausgereizt, sei es auch zu einem möglichen Schaden der Athleten: schneller, höher, weiter – mehr, mehr, mehr. Auf der Strecke bleiben die Sportler. Ein Zwischenruf von Frank Blenz.
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Auch die Sportstars sind nur Arbeitnehmer
Manch begeisterter Sportfan verspürte sicher einmal den Wunsch, selbst ein berühmter Sportler zu werden. Wird der Traum wahr, folgen (so das Klischee) Erfolg, Ruhm, Reichtum und ein schönes, sorgenfreies Leben. Die Fans, die nüchtern hinschauen, beobachten, dass die märchenhaften Stories aus der Welt des Sports auch dunkle Seiten haben.
Zwar verdienen die großen Stars viel Geld, doch ihr Können, ihre Energie, ihre Arbeitskraft verkaufen sie genau wie ihre Sportlerkollegen, die nicht ganz oben auf dem Siegertreppchen landen. Die Stars selbst sind bei allem Ruhm lediglich Angestellte ihrer nimmersatten Arbeitgeber. Die spitzenmäßigen, mitunter schier unglaublichen Leistungen (so auch in Kitzbühel), die von den Profis gefordert (und erbracht) werden, unterliegen dem gierigen Motto „mehr, mehr, mehr“. Der olympische Slogan „schneller, höher, weiter“ wird dank der unzähligen Live-TV-Übertragungen für uns Zuschauer auf absurde Weise sichtbar auf die Spitze getrieben – Hauptsache, Einschaltquoten und somit Einnahmen stimmen.
Kritiker der Kritik am Profisport und dem Kommerz werden einwenden, dass das alles ein Klagen auf hohem Niveau ist. Profisportler zählen zu den bestverdienenden Arbeitnehmern weltweit, die zudem wissen, was sie tun – und können, was sie leisten. Auch haben Sportler selbst einen ihnen innewohnenden Ehrgeiz und die Gier nach Erfolg, nach Siegen, nach Rekorden. Stimmt. Was soll das also?
Es bleibt dabei: Trotz hoher Gehalts-, Prämien- und Werbeeinnahmensummen, trotz des Erfolgs und der Freuden über Rekorde tanzen die Stars, sich selbst gefährdend, nach der Pfeife ihrer Chefs, ihre Arbeitgeber sind die wirklichen Profiteure, die selbst nicht in Gefahr geraten.
Ein Innehalten, eine Mäßigung ist nicht oder wenig zu beobachten. Für die Lebensphase ihres stressigen, Höchstleistung fordernden Engagements gehen nur die Athleten voll auf Risiko und verharren dazu noch im Dschungel dichter, enger, mitunter knebelnder Vertragswerke und Abhängigkeiten, gläsern, unmündig, immer in die Kameras lächelnd. Viele Trainingseinheiten und Entbehrungen später machen sie das ganze Spiel ohne Grenzen ohne Widerspruch mit, denn sie haben es geschafft, für ein paar Jahre Gladiatoren unserer gehetzten Zeit zu werden und vielleicht bald ausgesorgt zu haben – für später. Den Chefs sei aber gesagt: Trotz hoher Gagen sind Sportler kein Freiwild der Gier.
Noch ein Turnier mehr, noch mehr Nervenkitzel bei der Tour, noch mehr Rennen und Risiko bei der Formel 1
Das Zauberwort heißt „mehr“. Hatten Fußballprofis früher eine relativ überschaubare Zahl an Punktspielen, Pokalspielen und internationale Wettbewerbsverpflichtungen im K.-o.-System bestritten, stehen in ihren mittlerweile übervollen Terminkalendern Worte wie Gruppenphase, Klub-WM, Auslandsspiele für Sponsoren, Testspiele, Länderspiele. Selbst Trainer beklagen inzwischen schon öffentlich, dass die körperliche Belastbarkeit ihrer Schützlinge erreicht sei.
Nicht anders ist es bei den Basketball-Stars. Sie und ihre Teams spielen sich die Finger wund, bis nach etlichen Play-offs endlich die Meisterschaft beendet ist.
Die Kalender im Skisport sind randvoll mit Wettbewerbsterminen. Und wird nicht um Sieg und Platz gekämpft, wird trainiert. Höhentraining, Training im Sommer für den Winter und so weiter.
Radfahrer beklagen, dass die Routen bei Rennen wie der Tour de France oder dem Giro in Italien von den Veranstaltern „gefährlicher“ gestaltet werden. Anstatt überschaubare, sichere Straßen und Pässe zu nutzen, muss der Nervenkitzel befriedigt werden, also sind Abfahrten steiler, Ortsdurchfahrten und Zielankünfte enger. Die Fernsehzuschauer werden sich erinnern, wie oft in jüngster Zeit heftige, folgenreiche Stürze zu sehen waren.
Der Tennissport artet aus. Mehr, mehr, mehr Turniere, mehr Spiele, mehr Zuschauer, mehr TV-Termine. Dem nicht genug, so leiden die Sportler unter der Missachtung elementarer wie einfacher Forderungen. Schon mal etwas vom Ball-Problem gehört? Warum werden unterschiedliche Ballgrößen und somit auch Ballgewichte verwendet, die bei Akteuren körperliche Beschwerden auslösen? Wohl wahr, dass kleine Bälle nicht lebensbedrohlich sind, aber Interessen der Sportler nicht zu beachten …
Bei der Formel 1 fragen sich Kritiker und selbst die Stars in der Manege, wie lange der Wahnsinn im Autorennsport noch gut geht. Der Rennkalender ist übervoll, die Piloten fahren Rennen eng getaktet weltweit, über Zeit- und Klimazonen hinweg, ohne Achtsamkeit gegenüber den menschlichen Fähigkeiten selbst von Höchstleistungssportlern wie Max Verstappen. Wer kam auf die Idee, in heißen Gebieten wie Qatar oder Singapur Autorennen zu veranstalten? Neue Bestrebungen für noch mehr Nervenkitzel liegen schon vor, so werden weitere riskante Rennen durch Innenstädte von Metropolen geplant – vorbei an VIP-Bereichen für solvente Zuschauer, die schon mal fünfstellige Ticketpreise löhnen. In Kurven werden bis zu 200 km/h gefahren, die höchsten Geschwindigkeiten liegen bei mehr als 300 km/h an. Schneller, höher? Es geht noch mehr?
The show must go on.
Der gewagteste Sprung von einer Klippe ins Meer, die rasanteste Fahrt mit dem Bike bergab durch die Altstadt einer Weltmetropole – ein österreichischer Getränkehersteller als Sportveranstalter und Vermarkter ist Champion in der Ausreizung der Reizgebung durch den Sport im Beisein von Publikum. Rekorde, außergewöhnliche menschliche Leistungen im Sport werden der Öffentlichkeit reißerisch präsentiert, bis die Schwarte kracht. Kameraeinstellungen gibt es bei diesen Events aus nahezu allen möglichen Perspektiven, hautnah, live, ungeschnitten, und das mit viel Werbung. Heftig muss es zugehen, spektakulär, schnell, hoch, weit, hart, bunt, grell, krass. Wagemutige, junge, frohe Sportler sind die Stars, die Gladiatoren, die viel riskieren. No risk, no fun. Die Show must go on, bei all diesem atemlosen Treiben gehören Unfälle, Tragödien dazu.
Warum laufen vor oder neben Spitzen-Marathonläufern andere (unbekannte) Läufer, die tatsächlich sogar „Hasen“ genannt werden? Antwort: Sie machen das Tempo, „ziehen“ den Spitzen-Marathonläufer, um diesem bei einem angepeilten Rekordversuch zu unterstützen. Eine weitere Spielart des mehr, mehr, mehr. Bald wird die Zwei-Stunden-Marke im Marathon geknackt werden …
Zurück zur „Streif“
All der Kritik zum Trotz: Die berühmteste Rennstrecke des Alpinen Skisports in Kitzbühel (Österreich), die „Streif“, wird an diesem Wochenende wieder in aller Munde sein. Das steilste Stück hat um die 85 Prozent Gefälle, der längste Sprung eines Abfahrers kann schon mal um die 80 Meter betragen. Wenn der Sportler es dann fast geschafft hat, erwartet ihn noch eine Besonderheit:
Dann kommt der Zielsprung, Hocke und runter geht es zum Zielsprung, höchste Geschwindigkeiten werden hier gefahren, bis zu 150 km/h. Die Kompression vor dem Zielsprung drückt die Rennläufer regelrecht auf die Piste, und anschließend heben sie in den finalen Zielhang ab. Die Zuschauer feuern die Rennläufer nochmals richtig an. Endlich das Ziel, abschwingen und ein schneller Blick auf die Zeituhr. Enttäuschung und Freude liegen hier eng beieinander. Sieger sind sie alle, die die Streif bewältigen.
(Quelle: hahnenkamm.com)
Das Risiko im Spitzensport wird hochgehalten, es ist unsere Natur?
Die Streif in Kitzbühel gilt als berühmtestes Abfahrtsrennen der Welt. Wer hier gewinnt, wird mit einem Schlag zur Skilegende. Doch wer zu viel riskiert, bezahlt einen hohen Preis.
(Quelle: SPIEGEL)
Titelbild: MilanTomazin/shutterstock.com