„Gegen die Terrorakte der Hamas hat Israel das Recht der Selbstverteidigung.“ Das scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein, der niemand widersprechen möchte. Ich erlaube mir trotzdem, Sie mitzunehmen bei einer genaueren Prüfung. Von Gerhard Fulda.
Selbstverteidigung ist ein Begriff aus dem System des Völkerrechts.
Also müssen wir zuallererst die Frage stellen, inwieweit dieses Recht für Gaza anwendbar ist.
Das ist selbst für im Völkerrecht bewanderte Juristen nicht ganz einfach – der kleine Küstenstreifen am Mittelmeer ist etwas sehr Besonderes.
Auf den ersten Blick sieht es so aus: dies könne doch nur ein internationaler Konflikt sein. Aber, das Völkerrecht ist ein Gebilde, das die Beziehungen zwischen Staaten rechtlichen Regeln unterwerfen will.
Gaza aber ist kein Staat. Wir haben es mit einem asymmetrischen KonfIikt zu tun, in dem ein international anerkannter Staat einem nicht-staatlichen Gegner gegenübersteht.
Im wörtlichen Sinne war Gaza auch kein „besetztes Gebiet“, weil es innerhalb des Gebietes gar keine militärische Präsenz Israels gab.
Von 1967 bis zum Jahr 2005 war Gaza tatsächlich fast 40 Jahre lang ein auch im wörtlichen Sinne „besetztes Gebiet“. Doch als dann die israelischen Truppen wieder abzogen, blieb der Streifen ringsherum blockiert. Alle Zugänge, vom Land, über das Wasser oder durch die Luft, wurden israelisch kontrolliert.
Das ist der Grund, weshalb Deutschland ebenso wie alle anderen EU-Länder die Westbank und Gaza als besetzte Gebiete betrachten – eine Besetzung ohne Besatzungstruppen. Israel selbst sieht das anders und spricht nur von „umstrittenen Gebieten“. Besetzt im Sinne des Völkerrechts könnten nur bisherige Staaten sein.
Wir aber wenden hier die für besetzte Gebiete geltenden völkerrechtlichen Bestimmungen an und stoßen gleich wieder auf ein Problem.
Der Begriff Selbstverteidigung ist die Antwort auf den korrespondierenden völkerrechtlichen Begriff „Angriff“. Vor allem in der englischen Fachliteratur finden wir nun aber die zunächst überraschende Meinung, der besetzende Staat könne aus von ihm besetzten Gebieten gar nicht „angegriffen“ werden.
Die deutsche Außenministerin hat nach dem 7. Oktober immer wieder das israelische Recht auf Selbstverteidigung gegen einen terroristischen Angriff betont. An der Qualifikation „terroristisch“ können keinerlei Zweifel bestehen. Aber warum sollte ein faktisch unbestreitbarer Angriff in diesem Fall nicht auch rechtlich so benannt werden?
Es ist leider nicht bekannt, ob die Völkerrechtler des Auswärtigen Amts der Frage nachgegangen sind, ob die Westbank und Gaza möglicherweise als „illegal besetzt“ eingeordnet werden müssen.
Ein solches Urteil würde weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen.
Mit der Qualifikation „illegal“ werden in der internationalen Diskussion Situationen bezeichnet, in denen im besetzten Gebiet die Selbstbestimmung der Bewohner auf lange Zeit weitestgehend aufgehoben worden ist. Oder wenn bei der Besatzungsmacht kein Bemühen erkennbar ist, in absehbarer Zukunft einen förmlichen Friedensschluss herbeizuführen. Beide Kriterien sind in Gaza erfüllt; und zwar so eindeutig, dass man schon ganz in die Nähe einer „veiled annexion“ gerät, einer „verschleierten Annexion“, die wie jede Annexion völkerrechtlich verboten ist.
Gaza war also im Zeitpunkt der Angriffe ein „illegal besetztes Gebiet“.
Eine solche Einordnung gibt den Bewohnern des besetzten Gebiets ein Recht auf Widerstand – das hat der Internationale Gerichtshof im Jahr 2004 bestätigt – so steht es im Ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Rotkreuz Konventionen – das ist die Sprache der Vereinten Nationen in Jahrzehnten der Entkolonisierung.
Ich zitiere dazu die Israelin Yael Ronen, Professorin für Völkerrecht an der Universität Jerusalem:
„Der besetzende Staat hat natürlich kein Recht auf Selbstverteidigung gegen einen Akt der Selbstverteidigung.“
Das ist inhaltlich die gleiche Schlussfolgerung, wie sie in dem Satz enthalten ist, man könne aus einem besetzten Gebiet heraus gar nicht angegriffen werden.
Wenn hier der Begriff „Angriff“ nicht greift, dann erleidet die Einordnung in den korrespondierenden Begriff „Selbstverteidigung“ das gleiche Schicksal.
Mit anderen Worten, wenn sich Gaza am 7. Oktober 2023 im Zustand einer illegalen Besatzung befand, dann sind die Palästinenser mit dem Recht auf Selbstverteidigung zum Widerstand gegen die Besatzung berechtigt. Dann kann sich Israel insoweit „natürlich nicht“ auf Art. 51 der VN-Charta berufen.
Frau Prof. Ronen hat im Jahr 2008 diese Erkenntnis in ihrer Fallstudie zum Nahen Osten nicht auf die palästinensischen Gebiete angewandt. Begründung: Israel habe einwenden können, 1967 Opfer eines Angriffskrieges gewesen zu sein, in dem es schließlich auch zur Besetzung des Westjordanlandes und von Gaza gekommen sei. Also habe es keine Illegitimität seines Kriegseintritts gegeben, die zu einer fehlenden Legitimität der Besatzung geführt haben würde.
Ob Israel 1967 tatsächlich angegriffen wurde oder vorzeitig präventiv begonnen hat, ist historisch streitig. Heute kommt es darauf allerdings nicht mehr an, weil die fehlende Rechtmäßigkeit der Besatzung inzwischen durch Zeitablauf (2 Generationen!) und offenbar gewordene Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser deutlich geworden ist.
Die Lage in Gaza ist oft als Gefängnis beschrieben worden. Das Bild macht auch deutlich, dass die „Gefängniswächter“ keinesfalls schutzlos sind. Mord, Vergewaltigung und Geiselnahme müssen sie nicht widerstandslos hinnehmen. Jeder hat ein Recht auf Notwehr.
Dessen Möglichkeiten und Grenzen sind in den meisten nationalen Rechtsordnungen dieser Welt sorgfältig ausbuchstabiert, normativ und durch die Rechtsprechung.
Für das Völkerrecht steht eine solche Detaillierung noch aus.
Die internationale Diskussion erscheint zurzeit blockiert – vor allem durch den nach 9/11 im Jahr 2001 von den USA ausgerufenen „war on terror“.
Auch in Deutschland wird die Meinung vertreten, seither habe sich die Diskussion um ein Widerstandsrecht aus besetzten Gebieten erledigt. Das ist ein gefährlicher Fehler. Das aus einem besetzten Gebiet kommende Widerstandsrecht wird einfach abgeschafft, wenn die Besatzungsmacht diese Gewalt als „Terror“ bezeichnen kann.
Der südafrikanische Menschenrechtler Jean Dugard hatte schon 2002 geschrieben, es gehe darum, „dem Ausmaß, in dem die Menschenrechte im Namen der Terrorismusbekämpfung verletzt werden dürfen, Grenzen zu setzen“.
Grenzen zu setzen – das müsste eigentlich in beide Richtungen gelten. Die Terrorakte vom 7. Oktober sind Anlass genug für die Aufforderung, auch das Widerstandsrecht aus besetzten Gebieten menschenrechtlich „einzuhegen“. Das Humanitäre Kriegsvölkerrecht mit den Genfer Konventionen von 1949 und deren Zusatzprotokollen von 1977 enthält zwar in dem II. Protokoll auch Regulierungen für nicht-internationale Konflikte. Diese sind aber in der mehrere Jahre währenden Regierungskonferenz in den 70 Jahren gerade in Bezug auf die Methoden und Mittel des Kämpfens deutlich hinter den Vorschlägen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zurückgeblieben.
Solange deshalb eine Rechtsunsicherheit besteht, werden interessengeleitete und sich widersprechende Publikationen den Überblick erschweren. Man darf solche völkerrechtlichen Meinungsverschiedenheiten nicht als unbeachtlichen Streit unter Wissenschaftlern abtun.
Das Völkerrecht ist durch die Besonderheit geprägt, dass hier souveräne Staaten ein System geschaffen haben, in dem sie zugleich die Gesetzgeber sind und auch diejenigen, die diesen Normen unterworfen sind. Das heißt: Durch eine von Rechtsüberzeugungen getragene Staatenpraxis kann sich geltendes Recht verändern, manchmal sogar auflösen. Und um diese Rechtsüberzeugungen von Regierungen geht es auch bei den Veröffentlichungen, die direkt oder indirekt den Diplomaten und Ministern bei der Bildung von deren Meinungen „behilflich“ sein wollen. Professoren werden dann zu „Quellen des Völkerrechts“, meist ohne Transparenz ihrer politischen Ausrichtung und Motive.
Auf der Bühne des wissenschaftlichen Streits geht es also auch um politischen Einfluss. Schon die bevorstehende Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes im Eilverfahren Südafrika ./. Israel wird wahrscheinlich zumindest andeuten, welche von solchen Überlegungen den Weg in die völkerrechtliche Realität finden werden.
Gerhard Fulda
Berlin, Januar 2024
Titelbild: Below the Sky / Shutterstock