Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft 2011
Gesamtwirtschaftslehre gegen Staatsinterventionismus
Zwei US-Pioniere einer neoklassischen Makroökonomik
Der durch die Schwedische Reichsbank 1969 eingeführte Preis für Wirtschaftswissenschaften im Gedenken an Alfred Nobel geht in diesem Jahr an Thomas J. Sargent (geb. 1943) von der New Yorker Universität sowie an Christopher A. Sims (geb. 1942), der an der Princeton Universität lehrt. Damit erhöht sich die Zahl der von den insgesamt neunundsechzig Nobelpreisvergaben an die USA auf achtundvierzig. Geehrt wird eine neoklassisch ausgerichtete Makroökonomik, die ihre Sturm- und Drangzeit längst hinter sich hat. Diese Lehre von der Rationalität der Märkte ist nicht erst durch die letzte Finanzmarktkrise tief erschüttert worden. Die beiden Ökonomen haben durchaus zur gesamtwirtschaftlichen Analyse über Beschäftigung, Wirtschaftswachstum und Inflation einen wichtigen, jedoch nur beschränkten Beitrag geleistet. Von Rudolf Hickel
Unabhängig von einander haben die beiden Geehrten das Verhältnis der Wirtschaftspolitik im Zusammenspiel mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung untersucht. Politik beeinflusst die Wirtschaft, aber auch die Wirtschaft die Politik. Dieses Zusammenspiel macht es schwer, die richtige Wirtschaftspolitik zu dosieren. Dazu zwei Beispiele: Erhöht die Notenbank ihren Leitzins, dann ist üblicherweise damit die Erwartung verknüpft, dass auch das Ziel der Inflationsbekämpfung erfolgreich erreicht wird. Diese unterstellte Einflussnahme der Politik auf die Gesamtwirtschaft können die Wirtschaftsakteure, die den positiven Wirkungen dieser Geldpolitik misstrauen, jedoch durchkreuzen. Zu vergleichbaren Ergebnissen haben die Forschungsarbeiten im Bereich der Finanzpolitik geführt. Steuersenkungen oder Konjunkturprogramme, die die Wirtschaft ankurbeln sollen, können ihr Ziel verfehlen, wenn die Wirtschaftssubjekte den damit verbundenen Erwartungen nicht folgen.
Mit dem Homo oeconmicus gegen Staatsinterventionismus
Hoffen auf den allinformierte Home Oeconomicus
Dabei sollte die zentrale Frage, warum möglicherweise eine gut gemeinte expansive Finanzpolitik die gesamtwirtschaftliche Entwicklung am Ende sogar schwächt, allerdings diskutiert werden. Sargent und Sims haben in die gesamtwirtschaftlichen Modelle, mit denen wirtschaftspolitische Entscheidungen begründet werden sollen, die Theorie rationaler Erwartungen eingefügt. Damit setzen die Forscher auf den rationalen „homo oeconomicus“, der mit enorm viel Wissen über gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge ausgestattet sein soll. Diese neue Makroökonomik modelliert ein die Marktkräfte stärkendes Verhalten der Wirtschaftsakteure. Ob dieser Sprung das heute vielfach benutzte Etikett „revolutionär“ verdient, ist umstritten. Aus der Sicht der wachsenden Instabilität von Ökonomien handelt es sich heute eher um eine Theorie-Konterrevolution.
Im Kern versucht diese Theorie die Erkenntnisse über die Wirksamkeit einer steuernden Geld- und Finanzpolitik zu widerlegen. Insoweit wird diese Makroökonomik durch eine neoklassische Mikroökonomik unterfüttert. Dabei kommen durchaus auch wichtige Erkenntnisse zustande. Während in den alten Theorien der Gesamtwirtschaftslehre die Zukunft als Fortschreibung der Gegenwart wegdefiniert worden ist, rückt die neuen Makroökonomie Wirtschaftssubjekte in den Mittelpunkt. Angenommen wird, dass diese Akteure, so gut es nur geht, die künftige Entwicklung möglichst korrekt vorherzusagen versuchen. Auf der Basis aller verfügbaren Informationen wird die Bildung rationaler Erwartungen unterstellt. Das populäre Grundmodell hat Sargent zusammen mit Robert Lucas entwickelt. Dies hatte massive Folgen für die Wirtschaftspolitik. Wird ein Konjunkturprogramm aufgelegt, dann hängt dessen Wirkung von den rationalen Erwartungen der Wirtschaftssubjekte ab. Dazu ein Beispiel: Wird ein Konjunkturprogramm aufgelegt, dann kalkulieren die Wirtschaftsakteure einen Anstieg der Inflation. Dieser wiederum wird durch eine restriktive Geldpolitik bekämpft und am Ende sinkt die gesamtwirtschaftliche Produktion. Die gut gemeinte Konjunkturpolitik erweist sich dann in Folge der „rationalen“ Kalkulation durch Unternehmen und private Haushalte als einen Schuss in den Ofen. Insoweit kann man die Preisverleihung als eine Stärkung der Kritik am Staatsinterventionismus sehen. Andererseits haben gerade weltweite Konjunkturprogramme den Absturz der Weltwirtschaft in der letzten Finanzmarktkrise verhindert. Der Widerspruch der neoklassischen Makroökonomik gegenüber der Wirklichkeit ist klar: Die expansiven Mengeneffekt der Konjunkturprogramme haben die konstruierte, einzelwirtschaftlich rationale Erwartungsbildungsbildung überrollt.
Sicherlich haben die beiden Nobelpreisträger einen wichtigen Beitrag zur Durchdringung der komplexen Interdependenzen zwischen Politik und dem Verhalten der ökonomischen Akteure geleistet. Neue Methoden sind entwickelt worden. So konnte Christopher Sims mit der Methode der „Vector Auto Regression“ ein Dilemma erfassen: Restriktive Geldpolitik reduziert erst in zwei Jahren die Inflation, während wirtschaftliche Wachstumsverluste sehr schnell eintreten.
Finanzmärkte ignoriert
Mit dem diesjährigen Nobelpreis wird die in der Zwischenzeit zum Standard zählende neoklassisch-marktoptimistische Makroökonomik übrigens nicht zum ersten Mal geehrt. Bereits 1997 hat Robert Lucas, der in den frühen 1970er Jahren zusammen mit Thomas Sargent die Theorie der rationalen Erwartungen entwickelt hat, einen Nobelpreis erhalten. Die jüngste Auszeichnung könnte dazu beitragen, die Skepsis gegenüber dem Erfolg einer die Gesamtwirtschaft unter den Zielen Geldwert und Beschäftigung beeinflussenden Geld- und Finanzpolitik zu stärken. Nicht nur Obama sieht sich mit seinen Konjunkturprogrammen damit der Kritik ausgesetzt. Insoweit verbindet sich mit der Preisvergabe eine Warnung gegenüber einer allzu optimistischen Antikrisenpolitik.
Kritisch ist anzumerken: Die Basis bildet der rational handelnde Wirtschaftsakteur, der über ein ziemlich sicheres Wissen über die Wirkungen von Politik in der Zukunft zu verfügen glaubt. Die Bildung rationaler Erwartungen steht im Widerspruch zu der über die Finanzmärkte erzeugten wachsenden Irrationalität ökonomischer Entscheidungen. In dem gesamtwirtschaftlichen Modell der Geehrten wird schlichtweg der Finanzsektor, von dem Instabilität ausgeht, nicht berücksichtigt. Den heutigen Kasinokapitalismus dominieren die von John Maynard Keynes Mitte der 1930er Jahre beschriebenen, nicht kalkulierbaren „animal spirits“ (animalische Instinkte). Die Erwartungsbildung erfolgt oft irrational und führt zu „irrationalen Übertreibungen“, nicht nur an den Börsen (Joseph Stiglitz). Erklärt wird nicht, wie heute unter Unsicherheit und mangelnder Information überhaupt rationale Erwartungen gebildet werden können.
Geehrt wird eine weit zurückreichende Forschungstradition, die in der Wirtschaftswissenschaft heute sehr umstritten ist. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass im Zeitalter der „Verbetriebswirtschaftlichung“ mit der Ehrung dieser beiden Pioniere ein Anstoß für den notwendigen Diskurs einer modernen Makroökonomik gesetzt wird. Immerhin lohnt es sich, sich an dieser neoklassisch fundierten Makroökonomik der beiden Nobelpreisträger an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten abzuarbeiten.