Ralf Hanselle reflektiert die von der Digitalisierung entfesselten kulturellen Fliehkräfte und macht sich tief begründete Sorgen, ob uns in einem durch und durch digital umformatierten Dasein noch eine lebenswerte Zukunft erwartet. Es stellt eine echte intellektuelle Herausforderung dar, über Digitalisierung etwas anderes als Floskeln zu Papier zu bringen. In den spätindustriellen Gesellschaften des Westens besteht der Großteil der Wertschöpfung in der Verarbeitung von Informationen. Die Produktion materieller Dinge ist ohne eine komplexe Informationslogistik hier nicht mehr möglich, und die Sozialbeziehungen sind auch stark über Digitaltechnik vermittelt. Man schreibt also über fast alles, wenn man über Digitalisierung schreibt. Eine Rezension von Michael Andrick.
Hanselle formuliert das eingangs in seinem Buch „Homo digitalis Obdachlos im Cyberspace“ so: „Jeder Medienwechsel ist ein Bewusstseinswechsel.“ Dann bespricht er die digitale Umwälzung in fünf anregenden, sehr unterschiedlichen Kapiteln.
Digitalisierung als Enträumlichung
„Die Welt als vollkommene Abstraktion“ aus unendlichen Datenmengen in gewaltigen Serverfarmen, vollzogen in IT-Systemen mit unwirklich glatter, altersloser Oberfläche – mit diesem Bild steigt Hanselle ein. Er hat hier den glücklichen Einfall, seine Überlegungen an einem spanischen Superrechner festzumachen, der kontrastreich in einer jahrhundertalten Klosteranlage untergebracht ist.
In Verbindung mit geschickten Referenzen an so unterschiedliche Felder wie Architekturgeschichte und Christologie umkreist Hanselle den Befund, dass die digitaltechnische Modellierung und geistlos-kombinatorische Wieder-Darbietung aller Menschen-Dinge im raumlosen Element des „Cyberspace“ am Ende dem Leben selbst jede Authentizität rauben könnte: „Eine Welt ohne Raum, so steht zu befürchten, eine Sphäre aus Virtualität und Entortung, gebiert am Ende Unmengen an Informationen, aber nichts Heiliges mehr.“
Wir befänden uns im Übergang von einer „Zeit der Orte“ in eine Epoche der „Entortung“, deren Menschenfreundlichkeit nicht ausgemacht sei: „Werden wir ausgeklinkt sein aus allen Bezügen, obdachlos hinter Datenbrillen und schambehaftet vor Flachbildschirmen?“
Diese Interpretation der Digitalisierung als eine Entdimensionalisierung und gefühlsmäßige Verarmung des Lebens mit unbekanntem Ausgang gelingt Hanselle im Kapitel „Tod der Kathedralen“ überzeugend. Sein Versuch aber, dieses Modell über die räumliche Ordnung des vordigitalen Lebens hinaus im Abschnitt „Tod der Bibliotheken“ auf die Bemühung zur Digitalisierung von Texten und Bildern zu übertragen, scheitert dagegen.
Berechnung ist nicht Intelligenz
Hanselle idealisiert Bibliotheken als Orte des „Wissens“, das dort ein „sinnenhaftes Erleben“ sei. Das ist aber falsch – was wir in Bibliotheken sinnenhaft erleben, ist ein Materiallager, das jeder für Wissenserwerb nutzen kann. Dazu ist Digitaltechnik nichts als hilfreich.
Der poetischen Überhöhung der Signatursuche-Qualen in verstaubten Papierbeständen als Gang durch das „Gehirn der Menschheit“ mag ich nicht folgen. Und dass „gewichtige Werkausgaben“ von Großschriftstellern in durchhängenden Regalen außer für die gemeine Staubmilbe einen Mehrwert gegenüber einer transparenten Digitalausgabe bieten, sehe ich nicht.
Durch Digitalisierung von Texten „implodiert die Gutenberg-Galaxis“ nicht etwa, wie Hanselle arg pathetisch beklagt, sondern das Material zur Erarbeitung von Wissen wird leichter zugänglich und die eigene Bildungsanstrengung beflügelt.
Ein in etwa analoger konzeptioneller Fehler, der sich durch Hanselles Betrachtungen zieht, ist die Identifikation von algorithmischer Verarbeitung von Daten nach Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Häufigkeitsanalyse mit Intelligenz – d.h. mit der Fähigkeit, etwas zu verstehen, also Begriffe auf Erfahrung anzuwenden.
Die von Hanselle korrekt und kenntnisreich diskutierten Digitalanwendungen wie ChatGPT sind tatsächlich nicht die Herolde der von Ray Kurzweil und anderen herbeigesehnten „Singularität“ – einer Computer-Intelligenz, die gar noch „wesentlich intelligenter“ als Menschen sein und so einen echten „Bruch in der Zeit“ verursachen werde. Die probabilistische Neuanordnung von Daten nach ebenfalls rein rechnerisch umgesetzten Anfrage-Schwerpunkten ist kein Urteilsgeschehen, sondern ist und bleibt eine Rechenoperation.
Maschinen wenden keine Begriffe an. Wäre Hanselle oder seinem Lektor diese Einsicht gekommen, so hätte er sicher die stilistisch brillante Erörterung diverser Transhumanisten-Fantasien, die wir jetzt in der Mitte seines Essays zu lesen bekommen, durch eine gütig lächelnde, vielleicht ironische Demontage dieser Hirngespinste verblendeter Technokraten ersetzt.
Der Kidult auf seiner Customer Journey
Zu voller Form läuft der Essayist Hanselle dann wieder auf, wenn er im Abschlusskapitel „Der dissoziierte Mensch“ die Pathologie darstellt, in die eine digitalkapitalistische Umwelt mit optimierten Werbe-, Bestell- und Liefermechanismen den unbedarften Konsumenten sanft hineinverhaftet.
Während unsere Kultur die persönliche Entwicklung traditionell in Mustern wie dem einer „Heldenreise“ durch teils unwirtliche Landschaften und Räume des inneren wie äußeren Widerstands begriff und beschrieb, so bleibt dem Menschen im Cyberspace solche Widerständigkeit teuer erspart.
Der Homo Digitalis präge sich als „Homo ludens“ und „ewiges Kind“ aus, das in einer Dauerschleife unmittelbarer Gratifikation durch Trivialitäten stecken bleibt und „sein Leben verdaddelt, ohne wirklich voranzukommen“. Der durchschnittliche „Gamer“, so berichtet Hanselle, ist heute 37 und nicht mehr, wie noch vor wenigen Jahren, unter 30 Jahre alt. Er ist ein kidult, ein wunderlicher Hybrid aus Kind und Erwachsenem.
Auf geistreiche Weise verbindet Hanselle im Abschlusskapitel die generelle Erfahrung von Weltentfernung und freundloser Eigenständigkeit, die das digitalvermittelte Leben kultiviert, mit anderen Überschreitungs- und Gestaltungs-Fantasien der Gegenwartskultur:
„„Trans“, dieses merkwürdige Über-die-Dinge-Hinausschießen, dieses Jenseits- und Darüber-hinweg-Sein, es ist zum tragischen Vorwort unserer Zeit geworden: Trans-Gender, Trans-Formation, Trans-Humanismus. Nicht mehr hier und niemals da sein. Und am Ende getrennt von allem und allen.“
Wer an der Kultur der Digitalisierung teilhaben will oder ihr auch bloß nicht ausweichen kann, der wird aus Hanselles kulturanalytischen Einfällen und seinen sprechenden Bildern viel mitnehmen. Die beschriebenen konzeptionellen Schwächen des Textes sind nur der Haken, an dem wir eine tiefere Diskussion der Kulturentwicklung unserer Gegenwart aufhängen können.
„Homo digitalis – Obdachlos im Cyberspace“ ist im Verlag zu Klampen erschien.
Titelbild: Cover von zuklampen.de