Verbrechen nach § 211 (Mord) verjähren nicht, so heißt es im § 78 des deutschen Strafgesetzbuches. Gilt dieser Grundsatz nur im Inland, oder ist er auch gegenüber Mördern im Ausland relevant? Diese Frage stellt sich im Zusammenhang mit deutschen Waffenlieferungen an Saudi-Arabien in Bezug auf den De-facto-Herrscher des Königsreichs am Golf, Kronprinz Mohammed bin Salman. Von Jürgen Hübschen.
Kurzer Rückblick auf wesentliche Ereignisse in Saudi-Arabien seit 2011
Die Hinrichtung des schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr
Im Jahr 2011 gab es auch in Saudi-Arabien Demonstrationen im Zusammenhang mit dem sogenannten „Arabischen Frühling“. Wichtigster Anführer der Proteste war der schiitische Geistliche Nimr al-Nimr, der die Abspaltung der östlichen Regionen Katif und Al-Ihsaa befürwortet hatte, weil dort in dem sunnitisch dominierten Königreich die rund zwei Millionen Schiiten des Landes leben. Für seine Aktionen wurde der Prediger verhaftet, 2014 wegen Aufwiegelung, Ungehorsam und Waffenbesitz zum Tode verurteilt und im Januar 2016 mit weiteren 46 Angeklagten hingerichtet. Irans geistliches Oberhaupt Ayatollah Ali Chamenei drohte daraufhin mit „der Rache Gottes“. Es kam zu großen Demonstrationen in Teheran, die dazu führten, dass die saudische Botschaft in Brand gesteckt wurde. Letztlich führte diese Entwicklung zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, die erst 2023 wieder aufgenommen wurden.
Der saudische Krieg gegen den Jemen
Zwischenzeitlich hatte Saudi-Arabien auf Weisung von Kronprinz Mohammed bin Salman im März 2015 den Jemen angegriffen. Die Operation „Sturm der Entschlossenheit“ richtete sich gegen die Huthis, die vom Iran unterstützt wurden und werden. Nach mehr als sieben Jahren Krieg gab es 2022 erste Verhandlungen zwischen den Huthis und Saudi-Arabien, auch, weil Riad den Kampf nicht für sich entscheiden konnte. Aktuell gibt es einen Waffenstillstand, aber die Gespräche sind wohl momentan ins Stocken geraten. Nach einem UN-Bericht aus dem Jahr 2021 starben im Jemen bislang 377.000 Menschen, davon 70 Prozent Kinder unter fünf Jahren. 24 Millionen Jemeniten, also 80 Prozent der Bevölkerung, sind derzeit auf humanitäre Hilfe angewiesen, 2,2 Millionen Kinder leiden nach UNICEF-Angaben an Unterernährung.
Die Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Kashoggi
Am 2. Oktober 2018 wurde der saudische Journalist Jamal Kashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul ermordet. Er hatte dort Dokumente für seine Hochzeit mit einer Türkin abholen wollen. Nach einem Bericht der CIA wurde die Ermordung Kashoggis vom saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman (MbS) nicht nur gebilligt, sondern angeordnet. Auch der US-Senat hatte MbS einstimmig in einer Resolution als „verantwortlich für den Mord Kashoggis“ bezeichnet.
Die Bundesregierung reagierte auf die Ermordung des Journalisten bereits im November 2018 mit klaren Maßnahmen. Sie stoppte alle Rüstungsexporte in das Königreich und verhängte gegen 18 saudische Staatsangehörige Einreisesperren. Die Betroffenen stünden mutmaßlich in Verbindung zu der Tat, so hatte der damalige Außenminister Heiko Maas die Maßnahme am Rande eines EU-Treffens in Brüssel begründet. Bei den betroffenen Personen handelte es sich nach Angaben des Auswärtigen Amtes um das mutmaßliche 15-köpfige Mordkommando sowie um drei weitere Personen, die im Verdacht stehen, an der Organisation des Mordes mitbeteiligt gewesen zu sein.
Den Stopp der Rüstungsexporte begründete die Bundesregierung neben der Ermordung Kashoggis zusätzlich mit dem saudischen Krieg im Jemen.
Die neue Politik der Bundesregierung gegenüber Saudi-Arabien
Jetzt hat die Bundesregierung in ihrer Politik gegenüber Saudi-Arabien eine Kehrtwendung um 180 Grad vollzogen und den Exportstopp für deutsche Waffen aufgehoben.
Sie hat der von Großbritannien geplanten Lieferung von 48 Eurofightern zugestimmt. Diese Genehmigung war erforderlich, weil Deutschland neben Italien und Spanien an diesem Rüstungsprojekt beteiligt ist. Die deutsche Außenministerin verwies bei ihrem aktuellen Besuch in Jerusalem darauf, dass die saudische Luftwaffe gegen Israel gerichtete Raketen der Huthi-Miliz im Jemen abschieße. Damit trage Saudi-Arabien maßgeblich auch in diesen Tagen zur Sicherheit Israels bei und dämme die Gefahr eines regionalen Flächenbrandes ein, sagte Frau Baerbock nach Gesprächen mit Israels Präsidenten Izchak Herzog und Israel Katz, dem neuen Außenminister des Landes. „Gerade deshalb sehen wir nicht, dass wir uns als deutsche Bundesregierung den britischen Überlegungen zu weiteren Eurofightern für Saudi-Arabien entgegenstellen“, erklärte die Ministerin.
Zusätzlich will Deutschland 150 Luft-Luft-Lenkflugkörper vom Typ „IRIS-T“ an das Königreich liefern, wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit bestätigte.
Dieser Kurzstrecken-Luft-Luft-Flugkörper wird gegen feindliche Kampfflugzeuge eingesetzt, also, wenn man so will, im Luftkampf.
Eigentlich widerspricht dieser Rüstungsexport der nach wie vor geltenden Rechtsposition Deutschlands, keine Rüstungsgüter in Kriegs- oder Krisengebiete zu liefern. So steht es expressis verbis sogar noch einmal im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung. Dort heißt es sogar noch wesentlich konkreter: „Wir erteilen keine Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter an Staaten, solange diese nachweislich unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind.“
Die Begründung der deutschen Außenministerin für diese politische Kehrtwende lautet: Saudi-Arabien habe sich gewandelt und erfülle inzwischen eine wichtige Funktion bei der Unterstützung Israels im Kampf gegen die palästinensische Hamas. Nach einem Bericht des Spiegels habe die Bundesregierung für die erneute Aufnahme von Waffenexporten nach Saudi-Arabien bereits die Genehmigung erteilt.
Der Bundessicherheitsrat – ein Kabinettsausschuss, der auch für Rüstungsexporte zuständig ist – habe die Genehmigung dafür bereits Ende des vergangenen Jahres erteilt, schreibt das Magazin. Das gehe aus einer Mitteilung hervor, die das Ministerium von Robert Habeck an den Wirtschaftsausschuss des Bundestages verschickt habe.
Habeck selbst wollte die Entscheidung des Bundessicherheitsrates nicht kommentieren, sondern erklärte lediglich:
„Aber wir schauen bei allen Entscheidungen auf zwei Dinge: Erstens, ob andere Partner, etwa die Ukraine, nicht einen notwendigeren Bedarf haben, und zweitens, ob diese Waffen in einer komplizierter gewordenen Welt zum Schutz, zur Deeskalation beziehungsweise zur Stabilität beitragen können.“
Bewertung der politischen Kehrtwende der Bundesregierung
Die saudischen Luftstreitkräfte verfügen insgesamt über 364 Kampfflugzeuge, davon 72 „Eurofighter“. Die deutsche Luftwaffe hat aktuell 231 Kampfflugzeuge im Bestand. Man kann also in diesem Zusammenhang feststellen, dass weitere „Eurofighter“ für die Verteidigung Saudi-Arabiens sicherlich nicht erforderlich sind.
Außerdem ist bekannt, dass das Königreich alle Flugzeugmuster, also auch den „Eurofighter“, in dem von Riad begonnenen Krieg im Jemen einsetzt, auch wenn dort aktuell ein – wenn auch fragiler – Waffenstillstand herrscht. Annalena Baerbock stellte diesbezüglich kürzlich fest, gerade Saudi-Arabien kenne schon seit geraumer Zeit die Gefahr, die von den Huthi für die Sicherheit in der Region ausgehe. „Dass die saudische Luftwaffe dabei auch Eurofighter einsetzt, ist, glaube ich, ein offenes Geheimnis.“ Aktuell haben britische und amerikanische Kampfflugzeuge erstmalig Einrichtungen der Huthis im Jemen angegriffen. Deshalb kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich in Zukunft auch die saudischen Luftstreitkräfte an solchen Angriffen beteiligen.
Zweifel an der Notwendigkeit der Lieferung von Luft-Luft-Raketen des Typs „IRIS-T“ sind noch berechtigter, weil diese ja für den Luftkampf konzipiert sind, also für den Einsatz gegen feindliche Luftstreitkräfte. Ein drohender Krieg, für den Saudi-Arabien diese Waffen bräuchte, ist nicht erkennbar, wohl aber der Wunsch Riads, seine militärischen Fähigkeiten auf dem Weg zu einer dominierenden Regionalmacht weiter auszubauen.
Kein Wunder, dass die Grünen-Co-Chefin Ricarda Lang sich im RBB24 Inforadio gegen die Lieferung von Eurofightern an Saudi-Arabien ausgesprochen hat:
„Mit Blick auf die Menschenrechtssituation, auch auf die innere Verfasstheit Saudi-Arabiens, finde ich eine Lieferung von Eurofightern nach wie vor falsch. Ich fände es richtig, wenn wir bei der Position bleiben, dass keine Eurofighter an Saudi-Arabien geliefert werden.“
Die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag, Sara Nanni, gab sich im Interview mit dem Spiegel irritiert:
„Die Meldung überrascht. Die Bundesregierung hat sich noch im Sommer dazu bekannt, keine Eurofighter an Saudi-Arabien zu liefern.“ Dies sei aus guten Gründen geschehen. „Es ist keine fünf Jahre her, da hat die von den Saudis geführte Allianz den Jemen großflächig bombardiert.“
Noch im Oktober 2023 hatte die deutsche Außenministerin dieselbe Position wie ihre Parteikolleginnen, als sie auf dem Parteitag der Grünen sagte: „Wir liefern direkt nicht nach Saudi-Arabien, ein Land, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden.“ Knapp drei Monate später war Annalena Baerbock offensichtlich zu völlig anderen Erkenntnissen gelangt und stellte fest, die Regierung in Riad zeige ihre Bemühungen um eine bessere Zukunft in der Region. Die Ministerin nannte es bemerkenswert, dass Israel und Saudi-Arabien ihrem Normalisierungskurs nach den Terrorattacken der islamistischen Hamas am 7. Oktober keine Absage erteilt hätten. „Dass Saudi-Arabien jetzt Raketen und Drohnen abfängt, die die Huthi auf Israel abschießen, unterstreicht dies, und dafür sind wir dankbar.“
Fazit: Die Entscheidung der Bundesregierung, den Waffenexport an Saudi-Arabien, der eigentlich erst 2025 einer erneuten Überprüfung unterzogen werden sollte, aufzuheben, ist ein Fehler. Die Begründung für den 180-Grad-Schwenk ist nicht nachvollziehbar, vor allem auch deswegen nicht, weil Saudi-Arabien die genannten Waffen zu seiner Verteidigung überhaupt nicht braucht.
Seit Januar 2024 ist Saudi-Arabien Mitgliedsland des „BRICS“, einer Vereinigung, die von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika geschaffen wurde und daher ihren Namen trägt. Neben Saudi-Arabien wurden auch Ägypten, Argentinien, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate in die Vereinigung aufgenommen, die sich nicht zuletzt als Gegengewicht zu den USA und auch zur EU versteht.
Das ölreiche Saudi-Arabien importiert übrigens – trotz des Russischen Krieges gegen die Ukraine – für den Eigenbedarf Öl zu einem besonders günstigen Preis aus Russland. Dafür exportiert das Königreich Erdöl aus der eigenen Förderung zu einem deutlich höheren Preis für den Weltmarkt. Ein vertrauenswürdiger Partner „des Westens“ ist Saudi-Arabien vermutlich nicht.
Die generellen Gründe für einen Exportstopp von Waffen gelten unverändert. Deutschlands Grundsatz lautet, keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete zu liefern. Es bestehen keine Zweifel, dass diese Kriterien auf Saudi-Arabien uneingeschränkt zutreffen.
Kronprinz Mohammed bin Salman ist weiterhin der Führer Saudi-Arabiens und wurde für den Mord an Jamal Kashoggi nicht zur Rechenschaft gezogen.
Der Krieg im Jemen ist nicht beendet, und vor dem Hintergrund der britischen und amerikanischen Luftangriffe gegen die Huthis besteht die Gefahr, dass der fragile Waffenstillstand nicht mehr lange Bestand hat. Hinzu kommt, dass die Menschenrechte in Saudi-Arabien immer noch nicht garantiert sind. 2023 wurden in Saudi-Arabien nach China und Iran die meisten Menschen hingerichtet.
Unabhängig von diesen Argumenten benötigt Israel die militärische Unterstützung Saudi-Arabiens im Kampf gegen die Hamas nicht. Außerdem ist die militärische Unterstützung Israels durch die Saudis für das Königreich innenpolitisch und außenpolitisch auch in der übrigen arabischen Welt kontraproduktiv, weil die Muslime weltweit auf der Seite der Palästinenser stehen. Deshalb ist es den Potentaten in Riad vermutlich gar nicht recht, dass Deutschland die Aufhebung des Waffenexportstopps mit der saudischen Unterstützung für Israel begründet.
Letztlich praktiziert die Bundesregierung mit ihrer Entscheidung knallharte Realpolitik und macht damit klar, dass Mord in Deutschland zwar nicht verjährt, gegenüber Saudi-Arabien und seinem Kronprinzen Mohammed bin Salman aber offensichtlich doch, und zwar bereits nach fünf Jahren!
Titelbild: Shutterstock / Vinod Pillai