Stimmen aus Lateinamerika: „Es gibt immer eine progressive Lösung”

Stimmen aus Lateinamerika: „Es gibt immer eine progressive Lösung”

Stimmen aus Lateinamerika: „Es gibt immer eine progressive Lösung”

Ein Artikel von amerika21

Der Neoliberalismus, auch wenn er viele Gefängnisse baut, wird die Probleme der Menschen nicht lösen. Wir wissen bereits, dass er das nicht schafft. Álvaro García Linera ist ein Bezugspunkt für progressive Projekte in Lateinamerika. Als Intellektueller wird er wegen seiner wichtigen Arbeiten über Staat, Revolution und Volk geschätzt – als Politiker, weil er während der Regierungen von Evo Morales zwischen 2006 und 2019 Vizepräsident von Bolivien war. Ein Interview von Iván Schuliaquer.

Zurzeit gibt es in Lateinamerika überwiegend Mitte-links- oder Linksregierungen. Dazu kamen sogar einige Länder, die zu Beginn des Jahrhunderts nicht zur ersten Welle gehört hatten, wie Mexiko und Kolumbien. Die zweite Welle scheint jedoch weit davon entfernt zu sein, eine ähnliche Hegemonie zu erreichen, wie sie die Linke vor einem Jahrzehnt hatte. Warum ist das so?

Ja, es gab eine erste Welle, so benannt nach dem Aufkommen des progresismo [1] und progressiver Regierungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Argentinien mit Néstor Kirchner, Ecuador mit [Rafael] Correa, Bolivien mit Evo [Morales], Brasilien mit Lula [da Silva] in seiner ersten Amtszeit. Venezuela, El Salvador, Nicaragua, Uruguay und Paraguay.

Und es war eine fortschrittliche Welle, die weitgehend durch große soziale Mobilisierungen gestützt wurde. Eine Mobilisierungswelle ist etwas Entscheidendes, wenn es darum geht, soziales Verhalten zu verstehen, denn sie durchbricht die kognitiven Schemata der Gesellschaft: was möglich ist, was glaubwürdig ist, was gesagt werden kann. Wenn eine fortschrittliche Regierung auf dieser Welle reitet, dann sind ihre Möglichkeiten und die Chancen für einen Wandel wesentlich größer.

Dann kam ein Moment des Rückzugs, der Ermüdung und der Rückkehr konservativer Regierungen: in Argentinien, Ecuador, Uruguay, Paraguay und Brasilien. Und von Beginn der Jahre 2018 und 2019 an setzte eine zweite fortschrittliche Welle ein, die geografisch umfassender ist ― denn sie schließt Bolivien, Brasilien und Argentinien ein, aber auch Mexiko, Chile und Kolumbien. Diese zweite Welle ist territorial ausgedehnter, weist aber andere Merkmale auf. Sie ist zwar territorial weitreichender, aber oberflächlicher in ihrer „Dichte”.

Aus mehreren Gründen. Einer davon ist, dass es vielleicht eine etwas kraftlosere Welle ist. Die Erste war sehr intensiv und sehr hoffnungsvoll, mit großen Reformen. Die zweite Welle ist dies nicht mehr, sie kommt ermattet in den Kampf. Sie hat es mit einer mehr miteinander verbundenen Rechten zu tun, die sich nach den Niederlagen von 2003, 2005 und 2010 reorganisiert hat.

Es ist eine lautstarkere Rechte: Sie geht auf die Straßen, führt den Kulturkampf auf ihre Weise, mobilisiert sich, besetzt die sozialen Medien, ist aggressiver und kann die Fehler der Linken und der regierenden Progressivkräfte bloßstellen. Zuvor konnte sie das nicht. Vorher waren wir fast makellos gewesen, weil wir nicht regiert hatten. Aber wenn man regiert, wird man immer Irrtümer, Fehler und Versäumnisse begehen. Und dann kommt die Rechte und streut Salz in die Wunde, damit diese niemals heilen soll.

Aber auch, weil diese zweite Welle nicht von großen Mobilisierungen begleitet wurde (mit Ausnahme von Kolumbien, das die radikalsten Schritte unternommen hat). Es handelt sich nicht mehr um eine Welle, die sich aus der Kraft der Mobilisierung speist. Was zum Beispiel in Chile passierte, ist ein vollständiger Rückzug der Mobilisierung, es herrscht Katerstimmung, es gibt nichts, was Boric anschiebt. Wir haben es also mit einer etwas verblassten progressiven Bewegung und gleichzeitig mit gemäßigteren Führungspersönlichkeiten zu tun. Es ist eine progressive Bewegung, die verwaltet und nicht transformiert.

Die progressive Bewegung der ersten Welle hat eine Zäsur herbeigeführt. Damit begann die Welt: ein neues politisches System, ein neues Ideensystem, eine neue Wirtschaft.

Die zweite progressive Bewegung ist administrativ. „Ganz ruhig, Leute, lasst uns verwalten, was da ist, und hier und da ein wenig nachbessern.” Sie wollen Teil eines politischen Systems sein, während die erste progressive Bewegung nicht Teil irgendeines politischen Systems sein wollte. Sie war das politische System. Mit ihr wurde die Welt geordnet. Die zweite progressive Bewegung hingegen will mittelfristig ihren Platz in einem politischen System finden. Sie wird zaghafter, berechnender, kompromissbereiter. Es wird schneller beschwichtigt. Und es ist eine progressive Bewegung. Wegen dieser mangelnden Kraft der Anführer, die ihn vorantreiben, wegen der Abwesenheit des Volkes auf der Straße will sie eher das Bestehende bewahren als Neues erobern.

Und natürlich verzeiht einem die Rechte nicht: Sie sieht, dass man schwach ist, sieht, dass man eine Weile innehält, um Wasser zu trinken, und geht einem an die Gurgel. Das war schon immer so. Einige führende Politiker haben geglaubt, dass es möglich sei, eine zivilisierte Koexistenz mit den Rechten zu finden. Aber nein, die Rechten verzeihen dir nicht, sie wollen dich unter der Erde sehen. Sie dulden dich, wenn du stark bist. Aber wenn das nicht der Fall ist, gehen sie auf dich los und fangen an, dir auf dem Kopf herumzutanzen.

Diese zweite progressive Welle ist schwach, nicht sehr fest und, ich wage es zu sagen: vorübergehend. Meine Hypothese ist, dass wir in diesen Übergangszeiten eine kurzlebige progressive und eine kurzlebige rechte Bewegung haben werden: kurze Hegemonien, sowohl auf der linken wie auf der rechten Seite. Bis sich das Schicksal irgendwann auf die eine oder andere Seite hin neu ausrichtet und ein langer Zyklus von 20 oder 30 Jahren beginnt.

Eine Sache, die auch zu beobachten ist, ist, dass nach dieser zweiten müden Welle die nationalen Zeitläufe scheinbar weniger übereinstimmen als zuvor. Das heißt, dieses Hin und Her zwischen den (harten oder Ultra-) Rechten und den eher zaghaften Progressiven. Wo, denken Sie, und auf welche Weise, wird dieses Spiel Ihrer Meinung nach schließlich entschieden werden? Ich stelle mir vor, dass dies mit der Fähigkeit politischer Reaktionen zu tun hat, eine Diagnose der Situation zu erstellen, eine Art von Lösung zu finden. Aber die Frage ist auch, ob diese Lösung notwendigerweise demokratisch sein wird.

Ich glaube, dass wir uns in einer Zeit des globalen strukturellen Übergangs befinden. Lateinamerika steht am Anfang dieses Übergangszyklus: ein Modell, den Reichtum zu akkumulieren, ihn zu verwalten, ihn zu produzieren, einer Art der Legitimierung dieser Beziehungen. Das neoliberale Modell des freien Marktes wurde in den 1980er-Jahren eingeführt und löste das Modell des Wohlfahrtsstaates (oder des Entwicklungsstaates) ab, das in den 1940er-Jahren entstand.

Und das neoliberale Modell ist in Turbulenzen geraten; es ist nicht verschwunden, aber es hat Risse bekommen. Es löst nicht mehr die Begeisterung von früher aus. In diesem Kontext trat die globale Krise von 2008 ein, später kam Covid, dann der Ukraine-Krieg. Und da findet man nun Volkswirtschaften auf der ganzen Welt, die das, was kommt, abschätzen und hybride Politiken machen. Da gibt es einen Trump, der für den Schutz der USA eintritt. „Amerika zuerst”, sagt er. Und dann kommt Biden, ein „Progressiver”, und sagt: „Wir werden nordamerikanische Brücken, Straßen, Mobiltelefone und Elektroautos mit nordamerikanischen Rohstoffen und nordamerikanischen Arbeitskräften bauen.” Das war vor 20 Jahren ein Wahnsinn, ein gescheiterter, veralteter kommunistischer Ansatz. Nun, jetzt subventioniert Biden seine Wirtschaft. Die Europäer auch, sie subventionieren mit drei, vier, fünf Prozent ihres BIP die Energie, die Industrie.

Eine Suche nach neuen alternativen Modellen beginnt. Und hier hast du eine Mischform: Freihandelspolitik mit protektionistischer Politik, Globalisierungspolitik mit Subventionspolitik. Es ist konfus. Lateinamerika befindet sich inmitten dieses Wirbels, dieser globalen Umstrukturierung.

Man weiß nicht, wie das neue Modell der Akkumulation aussehen wird. Einige sagen: „Lasst uns zu den altsteinzeitlichen Gesetzen des freien Marktes zurückkehren, kehren wir zurück zu den glorreichen 1990er-Jahren, als alles privatisiert wurde oder die Grenzen offen waren.” Und andere sagen: „Nein, lasst uns diese Mischung vollziehen, diese amphibische Politik des Globalismus und des Protektionismus.” China sagt: „Moment mal, meine Herren, freier Markt mit Einheitspartei.” Niemand hat also die Sicherheit, was in Zukunft das Beste sein wird: Es werden Versuche gemacht. Der Zusammenbruch der alten und die Suche nach einer neuen wirtschaftlichen und politischen Ordnung werden noch ein Jahrzehnt dauern. Das ist normal.

Seit 2010 herrscht ein globales Systemchaos. Ich vermute, dass dies noch ein Jahrzehnt so weitergehen wird, bis sich ein neues Akkumulationsmodell herauskristallisiert. Vielleicht wird es diese Art von hybrider freier Marktwirtschaft mit Protektionismus sein? Zumindest die am weitesten entwickelten Länder streben danach. Wird es das chinesische Modell der freien Marktwirtschaft sein, aber mit weniger liberal-demokratischen Freiheiten? Wird es eine andere Art von progressiver Politik lateinamerikanischer Prägung sein? Oder wird daraus eher eine Rückkehr zum freien Markt, nun aber nicht mehr durch Verführung, sondern mit Peitsche und Knüppel gegen die Aufmüpfigen?

Welches Modell wird sich durchsetzen? Dasjenige, das mit dem größten Elan antritt, das den größten gesellschaftlichen Rückhalt findet und die Wirtschaft langfristig stabilisiert. Wer es schafft, in einer Welt, die die Sicherheit der Menschen und die Zuverlässigkeit von Voraussagen verloren hat, Sicherheiten zu geben, wird mehr Chancen haben. Und ich denke, der Ausweg wird ein planetarischer sein. Als ich anfangs nach der ersten Welle gefragt wurde, hob sich Lateinamerika sehr stark hervor, aber uns hat der Rest der Welt, der immer noch den freien Markt verherrlichte, dabei nicht begleitet.

Diese Dinge lassen sich nicht auf regionaler Ebene lösen. Dabei ist es nicht so, dass Lateinamerika da einen Alleingang machen wird. Wie in den 1940er- und 1980er-Jahren ist dies ein Problem, das auf globaler Ebene gelöst werden muss. Und das neue Modell der Akkumulation, das Stabilität, Wachstum, Reichtumsverteilung und politische Legitimität erzeugt, wird auch eine globale Lösung haben. Aber wie wird diese aussehen? Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die Neoliberalen vertreten in der Tat einen autoritären Neoliberalismus, der an Faschismus grenzt. Ein Versuch, die Probleme zu lösen, die Stabilität zu garantieren, indem man alles privatisiert, aber den gesellschaftlichen Druck ignoriert.

Sie sagen schon seit geraumer Zeit, dass dies in der Wirtschaft gelöst werden wird. Da dieser Podcast „Kulturkampf” heißt, wollte ich Sie fragen, ob es da nicht manchmal eine etwas voluntaristische Vorstellung gibt, dass alles durch den Kulturkampf gelöst werden könne (als ob man diesen abspalten könnte), und dabei manchmal die materielle Dimension aus den Augen verliert. Inwieweit stellen diese progressiven Politiken, von denen Sie sprachen, das Materielle in den Mittelpunkt? Sehen Sie es so, dass diese neue Agenda, die diese haben sollten (und vielleicht nicht hatten), damit verbunden ist?

Dabei geht mir der eindringliche Satz eines russischen Revolutionärs von vor 100 Jahren durch den Kopf: „Politik ist konzentrierte Ökonomie.” Kultur und der kulturelle und politische Kampf sind konzentrierte Ökonomie. Sei es unter anderen Vorzeichen, sei es mit anderen Ausdrucksformen, aber die Ökonomie kreuzt immer unseren Weg. Und die Ökonomie ist auch Politik und sublimierte Kultur. Sowohl das eine wie das andere: Sie sind miteinander verflochten. Es ist nicht so, dass, wenn man die Wirtschaft löst, man damit auch automatisch die Politik löst. Denn um die Ökonomie zu lösen, braucht man Politik, Ideen, Denkkonzepte, Perspektiven. Politik ist im Grunde der Kampf um den perspektivischen Horizont einer Gesellschaft, das Monopol des perspektivischen Horizonts.

Was ist ein perspektivischer Horizont? Die Fähigkeit, sich vorzustellen, was in ein oder zwei Jahren auf uns zukommt. Ob du wirst sparen können, ob du wirst reisen können, ob du ein Fahrrad kaufen kannst, ob du deiner Tochter bessere Kleidung geben kannst, ob du ihre Ernährung wirst verbessern können. Das ist es, was die Wirtschaft funktionieren lässt. Dieser Glaube an das, was geschehen wird, sorgt dafür, dass dein Sparen auf der Bank, dein größerer Einsatz bei der Arbeit, die Inkaufnahme von Gehaltseinbußen oder die Suche nach einem anderen Job mit höherem Gehalt funktioniert. In den Supermarkt gehen, mehr oder weniger kaufen, wird von den Überzeugungen der Menschen bestimmt. Dies alles muss in einer gemeinsamen Dynamik gesehen werden.

Der Kampf für die Ideen, für den perspektivischen Horizont, aber damit dies Rückhalt, Glaubwürdigkeit, praktische Durchführbarkeit hat, dass es auch eine Entsprechung hat mit dem Geld in meiner Tasche, mit den Preisen, mit dem, was ich auf der Bank sparen kann, mit dem, was sie mir an Gehalt zahlen. Wenn es diese Korrelation nicht gibt, entschwindet dieser Horizont. Und umgekehrt: Wenn dieses praktische Korrelat von Gehalt, Einkommen und Ersparnissen nicht mit einem ideellen Korrelat einhergeht, hat es keine Wirkung und wird nicht von Dauer sein. Beides ist notwendig. Der Kulturkampf ist bereits ein Wirtschaftskampf, und der Wirtschaftskampf enthält Komponenten des Kulturkampfes. Und die Lösung in dem einen hilft dir bei der Lösung in dem anderen und umgekehrt. Man kann also niemals eine Veränderung herbeiführen, ohne mit beiden Füßen zu gehen.

Vor drei Jahren hatten wir das Vergnügen, Sie zu interviewen. Es war eine andere Zeit, mitten in der Pandemie. Ein Großteil Ihrer theoretischen Überlegungen drehte sich damals um die Rolle des Staates, um die zentrale Rolle, die der Staat wieder einnimmt. Alle Exegeten des Marktes hatten den Staat gebeten, ihnen zu helfen, und gleichzeitig waren die Menschen zu diesem primären Impuls zurückgekehrt, vom Staat Schutz zu fordern. Damals sagten Sie zu mir einen Satz, der zu dem passte, worüber wir gerade sprachen, und den ich Ihnen gerne erneut zu Gehör bringen würde:

„In der ganzen Welt hat sich seit einiger Zeit ein Szenario der Kreativität und der sozialen Artikulation aufgetan. Und wenn die linken Kräfte ihre Arbeit nicht erledigen, keine Anstrengungen unternehmen und nicht Acht geben, kann sich in diesen Rissen mit der Zeit leicht ein Szenario der „Erlösung” oder des Autoritarismus durchsetzen. Und autoritäre Auswege, wie sie in den lateinamerikanischen Ländern geschehen, könnten durchaus an Ausstrahlung gewinnen und sich in der ganzen Welt verbreiten.”

Fast visionär (lacht). Ich bleibe im Allgemeinen bei diesem Gedanken. Wenn die alten Systeme der politischen Legitimation und der Organisation der Wirtschaft ins Wanken geraten, wie es beim Neoliberalismus der Fall war, suchen die Eliten und Gesellschaften nach allen möglichen Optionen – nach progressiven Optionen zum Beispiel. Wenn es mutige Führungspersönlichkeiten gibt, die diese Botschaft verstehen, können sie sich ein Herz fassen und die Wirtschaft vorantreiben: verstaatlichen, verteilen und die Menschen aus der Armut holen.

Aber es gibt auch sehr regressive Vorschläge, die sagen: „Nein, wenn der Neoliberalismus jetzt schlecht funktioniert, dann deshalb, weil er nicht richtig angewandt wurde, weil er pervertiert wurde. Man muss zum ursprünglichen Kern des wahren Neoliberalismus zurückkehren, der aus absolutem Markt und null Staat besteht.”

Wenn die fortschrittliche Regierung, die den Staat verwaltet hat, die Ängste der Menschen noch vergrößert, anstatt sie zu lösen, wird man natürlich Menschen finden, die bereit sind, da zuzuhören. Und vielleicht ist der Ausweg dann der Hinterausgang. Das war auf seine Art [Brasiliens Präsident Jair] Bolsonaro: privatisieren. Sie privatisierten das, was von Petrobras noch übrig war, auch ihre Elektrizitätsgesellschaft, und auf dem Weg dorthin stellten sie fest, dass die Krise so keinesfalls gelöst wurde.

Es ist logisch, dass in diesen Zeiten der Ungewissheit, in denen das alte globale Modell nicht mehr gut funktioniert, autoritärere Antworten auftauchen. Und diese Reaktionen werden an Kraft gewinnen, wenn zudem eine fortschrittliche Bewegung an die Regierung kommt und die Probleme der Menschen nicht löst. Das wird die Ultra-Neoliberalen dabei ermutigen zu sagen: „Hört zu, kein Staat, keine Steuern, keine Subventionen, lasst uns zum ursprünglichen Modell zurückkehren. Denn seht, als es einen Staat gab, hat sich die Inflation verdoppelt, der Dollar ist gestiegen. Lasst uns zum früheren Weg zurückkehren.”

Im Allgemeinen tauchen in dieser Zwischenzeit konservative, autoritäre und rassistische Vorschläge auf. Warum autoritär? Weil es sich um einen Neoliberalismus handelt, der sagt: „Heute geht es uns wegen jemandem schlecht, wegen des Staates, wegen der Steuern. Und diejenigen, die für den Schutz und den Staat eintreten, werden wir loslassen müssen. Es gibt zu viele Rechte für die Frauen, zu viele Freiheiten für die Gewerkschafter, zu viel Unordnung und zu viele Migranten, die uns die Arbeitsplätze wegnehmen.” Dies ist eine repressive Sicht der Probleme, und die Antwort darauf ist eine Rückkehr zum Markt.

Anders als der Neoliberalismus ab Ende der 1980er-Jahre, der sagte: „Es gibt keine weiteren Optionen, meine Herren. Die Berliner Mauer ist gefallen. Kommt her. Das ist der einzige Weg.” Das war ein strahlender, expansiver und verführerischer Neoliberalismus. Der Jetzige nicht, der ist zwanghaft: „Wenn sie sich nicht bestrafen lassen, dann ab in ein Gefängnis wie das von Bukele.” Die Sprache ist eine andere. Das wirtschaftliche Rezept ist immer noch dasselbe und wird durch eine andere diskursive Erzählung von Bestrafung, Hass und Repression ergänzt.

Das taucht überall auf der Welt auf, aber es findet mehr Publikum und wird tendenziell „popularer” (eine merkwürdige Sache), wenn dem Vorschlag außerdem das Scheitern der progressiven Bewegung, des Etatismus vorausgeht. Schwieriger wird es, wenn die Regierung, die die Unzufriedenheit verursacht hat, rechts ist, weil sie nichts davon rechtfertigen kann. Den autoritären Neoliberalismus gibt es bereits, aber er wird größere gesellschaftliche Präsenz erreichen, wenn es sich um eine progressive Regierung handelt, die ihr Versprechen nicht erfüllt hat.

Und deshalb sollte die progressive Bewegung nicht versuchen, eine weitere Partei des verwaltenden, gemäßigten Establishments zu sein. In turbulenten Zeiten ist die Mäßigung deine Niederlage, dein Scheitern. Die progressive Bewegung ist verpflichtet, die Geschichte zu beschleunigen, Veränderungen herbeizuführen, Risiken einzugehen. Denn wenn sie das nicht tut und sich mäßigt, werden die Probleme nicht gelöst werden.

Die „Lösung” des Neoliberalismus besteht darin, den Staat zu sprengen. Das heißt, die Rechte des Volkes zu sprengen. Denn der Staat ist das, was eine Gesellschaft gemeinsam hat, der Hort dessen, was eine Gesellschaft über Jahrzehnte und Jahrhunderte, über Kämpfe und Aufstände, über Misserfolge und Mobilisierungen aufgebaut hat.

Und das ist ein Hindernis für den Neoliberalismus. Sie wollen ihn durch „das Private” ersetzen. Allerdings ist keine Nation eine Summe von Privateigentümern: Das ist ein Markt. Eine Nation ist die Summe unserer Siege, unseres Sports, unserer Kämpfe, unserer Kriege, unserer Emanzipationen, unserer Mobilisierungen, unserer Konzerte, unserer kollektiven Zufriedenheiten, die sich als Rechte, als historische Erzählung, als Helden, als nationale Tradition abgelagert und akkumuliert haben.

In einem Land, in dem es nur Privateigentümer gibt, gewinnt immer der größte. Der große Eigentümer wird den kleinen Eigentümer immer missbrauchen. Aber ein Land mit Gemeinsamkeiten findet im Gemeinsamen einen Weg, der Gefräßigkeit der Größten zu widerstehen, die Mächtigsten zu stoppen. Ohne Gemeinsamkeit verschlingt dich der Größere, zermalmt dich, erdrückt dich, um größer zu werden. Denn es ist eine Frage des Eigentums, und wer mehr Eigentum hat, hat mehr Möglichkeiten, dich kaufen zu können.

Was dieser Gier Einhalt gebietet, ist das Gemeingut, das, das Eigentum kennt, was allen gehört. Vieldeutig, missbraucht, manchmal falsch eingesetzt, aber der Staat ist die Bremse, die die Gesellschaften haben, um zu verhindern, dass das große Eigentum sie zermalmt.

Dies ist ein sehr komplizierter Moment auf kontinentaler Ebene, und er wird noch komplizierter, wenn die progressive Bewegung scheitert und die Autoritären auf einem roten Teppich Einzug halten.

Und wenn die Autoritären kommen und diese Art von Tagesordnung von staatlicher Seite aus vorantreiben, welcher Platz bleibt für diejenigen, die eine progressive, linke, national-populare Tagesordnung unterstützen?

Ja, diese autoritären, repressiven Neoliberalismen sind eine Art Jurassic Park. Die Welt entwickelt sich in die andere Richtung. Schauen Sie sich an, wie Biden regiert: Er hat Gesetze erlassen, um seine Industrie zu subventionieren, damit die USA eine Macht gegenüber China in den Bereichen Biotechnologie, Mikrochips, künstliche Intelligenz und nationale Sicherheit seien. Aber ich spreche nicht von einer Subvention in Höhe von 0,1 Prozent des BIP, ich spreche von drei, vier, fünf Prozent des BIP pro Jahr. Die USA führen in ihrem Wettbewerb mit China protektionistische Maßnahmen durch. Dabei ist er kein Keynesianer, aber er ist sich dessen bewusst, dass er geopolitisch gesehen, wenn er seine Industrie nicht stärkt, diese zu einem von den Chinesen betriebenen Supermarkt wird. Das Gleiche gilt für Europa, das jährlich 3,5 Prozent seines BIP für die Subventionierung seiner Industrien ausgibt und bestimmte Produkte verbieten wird. Europa und die USA wenden sich protektionistischen Maßnahmen zu, ohne es zu unterlassen, weiterhin ihre Unternehmer unterstützen. Und in Lateinamerika wollten einige Länder (wie Brasilien unter Bolsonaro) zu den 1990er-Jahren zurückkehren, was sich als Archaismus herausgestellt hat.

Deshalb ist es ein Jurassic Park: Wenn der Autoritarismus kommt, wird er zwar nur eine drei- oder vierjährige Spinnerei sein, aber er kann viel Schaden anrichten. Die Autoritäten sind ein Tunnel durch die Zeit zurück in die Vergangenheit.

Ich sehe erstens keine große Zukunft für sie. Strukturell und global Ebene haben diese Erfahrungen neoliberaler wirtschaftlicher Jurassic Parks keine Zukunft in einer Welt, die freien Markt mit Protektionismus verbindet. Aber zweitens, was bleibt den progressiven Kräften zu tun? Das, was sie schon immer getan haben, und mit noch größerer Entschlossenheit: begreifen, dass es an der Zeit ist zu kämpfen, für das zu kämpfen, was sie als ihre Rechte betrachten.

Und ich glaube, dass Lateinamerika verstehen muss, dass die dritte Welle keine melancholische Erinnerung an die erste sein darf. Die erste Welle hat ihre Funktion erfüllt. Und die Anführer, die wir dabei waren, haben ihre Aufgabe erfüllt. Und das war’s.

Es wird andere geben, mit darüber hinausgehenden Ideen, unter anderer Führung, mit anderen Vorschlägen, mit anderen kühnen Vorstellungen. Denn die Welt, mit der wir Anfang 2005 konfrontiert waren, ist sehr verschieden von der jetzt.

Was wir getan haben, hat unsere Länder verändert, aber wir können nicht diese Diskurse, diese Lieder wiederholen. Ein Genosse hat gesagt: „Wir brauchen andere Lieder.” Das gefällt mir. Eine andere Melodie wird gebraucht für die Welle, die nun kommen wird. Und das bedeutet neue Führungspersönlichkeiten, die mit Respekt auf das blicken, was wir zuvor getan haben, die aber über uns hinausgehen, die weiter gehen. Die nicht dieselben sind wie wir, die mit ihrer eigenen Persönlichkeit in die Geschichte eingehen. Und diejenigen von uns, die noch leben, sollten sie unterstützen, denn ist eine andere Generation, ein anderer historischer Moment, andere Bedürfnisse und andere Ängste.

Wir haben verstanden, in welchem Land wir uns befanden, und haben getan, was wir konnten. Und die Menschen werden sich daran erinnern, dass wir gute Dinge getan haben. Das Land von heute ist anders. Wir waren in einem Bolivien, in dem 60 Prozent arm waren. Jetzt sind es 35 Prozent. Es ist ein anderes Land, es hat andere Erwartungen, es sind andere junge Menschen, eine andere Erfahrung. Sie haben das Internet, sie haben Netzwerke; ich hatte das nicht. Und die jungen Leute, die jetzt zwischen 15 und 20 Jahre alt sind, kannten mich nicht. Ihre Eltern, die sehr arm waren und nicht zweimal am Tag essen konnten, essen jetzt dreimal am Tag und haben andere Erwartungen. Ein neuer Anführer muss diese jungen Menschen verstehen, die nach anderen Dingen suchen, einem anderen sozialen Aufstieg, einer anderen Art des Konsums.

In jüngster Zeit haben sich die Gesellschaften in Bezug auf ihre Rechte verbessert, aber in Bezug auf die Arbeit im formellen Sektor ihrer Bevölkerungen haben sie Rückschritte gemacht. Wir müssen diese informell Beschäftigten verstehen, die 50 Prozent der Erwerbstätigen ausmachen. Sie sind von der Inflation betroffen. Die neue progressive Bewegung muss mit denjenigen sprechen, die nicht von formeller Arbeit leben, die keine Gewerkschaft haben, die kein festes Einkommen haben; diese jungen Menschen, die nicht wissen, was wir vor 20 Jahren gemacht haben.

Wenn es ein konservatives und autoritäres Comeback gibt, dann müssen wir wieder kämpfen, von unten und für alle, wie es früher getan wurde. Aber das „alle” von heute ist anders als das von vor 20 Jahren. Man braucht Führungspersönlichkeiten, die dieses neue Volk in seinen konkretesten Ängsten verstehen: der Vorstellung, der Erholung, der Ernährung, der Einkommen. Und darum herum Kämpfe, Widerstände, Mobilisierungen aufbauen. Ich bin sicher, dass die autoritären Neoliberalen die Probleme der Menschen nicht lösen werden. Sie haben es vor 20 Jahren nicht getan und haben sich schließlich mit Hubschraubern davongemacht. Warum sollten sie die Probleme also heute lösen? Was ist anders im neoliberalen Rezeptbuch? Nichts, sie werden noch mehr Leid, noch mehr Ungerechtigkeit erzeugen. Es muss Führungspersönlichkeiten geben, die in der Lage sind, dieses Leid in kollektives Handeln umzusetzen.

Sicherlich werden die Menschen den neuen Machthabern einen Blankoscheck für ein oder zwei Jahre ausstellen. Aber dieser Blankoscheck hat ein Verfallsdatum. Und das ist keine kommunistische Verschwörung, das ist der gesunde Menschenverstand der einfachen Leute. Man muss in dem Moment da sein, in dem die Menschen den Blankoscheck für die schlechte Regierung zerreißen und anfangen, Wünsche nach kollektiver und nicht nach individueller Verbesserung zu äußern.

Dann müssen die neuen Anführer da sein, um diese Kämpfe und Erwartungen in einem neuen Programm progressiver Reformen zu verbinden. Ich glaube, dass dieses Jahrzehnt noch die Grundlage für meine Hypothese liefern wird, dass autoritäre Comebacks kurze Beine haben, wie das von Bolsonaro. Und das wird zur Entstehung eines neuen progressiven Projekts führen, eines mit neuen Gesichtern, neuen Diskursen und neuen Organisationsformen. Die neue Generation von Anführern muss den Mut haben, sich ihren neuen Herausforderungen zu stellen, ohne Melancholie und Nostalgie. Mit Respekt vor der Geschichte, aber mit genügend Kühnheit und Kreativität, um die Transformation der Gegenwart hin zu einer Zukunft in Angriff zu nehmen, die sie sich vorstellen.

Deshalb bin ich auf mittlere Sicht optimistisch. Denn der Neoliberalismus, auch wenn er viele Gefängnisse baut, wird die Probleme der Menschen nicht lösen. Wir wissen bereits, dass er das nicht geschafft hat. Die Menschen müssen diese Erfahrung durchmachen, aber dabei lernen, ihre Widerstände und Enttäuschungen in Richtung eines neuen historischen Optimismus zu lenken, einer neuen fortschrittlichen Welle, die tatsächlich die Ängste der Menschen lösen kann. Ist es möglich, diese Ängste durch fortschrittliche Lösungen zu überwinden? Natürlich ist es das.

Die Inflationsrate in Bolivien liegt bei zwei Prozent pro Jahr. Und wissen Sie, um wie viel wir 17 Jahre lang gewachsen sind? Um 4,5 Prozent jährlich. Wir Populisten haben das gemacht. Die Fortschrittlichen auch, und dabei haben wir die Armut halbiert.

Populistische Ansätze können auch die Probleme der Menschen lösen. Dafür sind sie da: um die wirklichen Probleme der Leute zu lösen, der Ärmsten, der Einfachsten, der Abgehängten. Es gibt immer einen progressiven Ausweg. Wir haben verstaatlicht, wir haben die Steuern erhöht, wir haben die Gewinne aus den Banken herausgenommen und sie in die Industrie gesteckt. Es gibt immer technische Lösungsmittel politischer Ökonomie, aber wenn man sich auf die Seite der Armen stellt und sagt: „Es ist nicht so, dass die Reichen mein Feind wären, aber in diesen Zeiten der Krise ist es an ihnen, ihre Brieftasche zu öffnen, damit die Armen etwas zu essen bekommen”, dann wird es bessere Zeiten geben, in denen es nicht so sehr darauf ankommt. Aber wenn es Probleme gibt, liegt die Lösung für die Ängste der Armen in der Brieftasche der Reichen.

Und es muss Führungspersönlichkeiten geben, die es wagen, dies mutig und kraftvoll zu tun. Gibt es einen progressiven Weg aus der Inflation und der Informalität? Natürlich gibt es ihn. Es gilt, ihn zu suchen, zu entwickeln. Was man nicht sagen kann, ist, dass es keine Alternative gibt. Das ist in diesen Zeiten verboten.


Fußnote:

[«1] In Lateinamerika wird progresismo folgendermaßen definiert: „Der progresismo ist ein historisches Phänomen, das dem kapitalistischen Transformationsprozess der nordamerikanischen Hegemonie und des neoliberalen Regimes entspricht, bei dem die Vorherrschaft des Finanz- und Unternehmenskapitals geschwächt wird und die Macht der USA und der multilateralen Organisationen über die Länder Lateinamerikas schwindet. Dies ermöglicht den Aufstieg bündnisfreier Regierungen, die von den Volksmassen getragen werden und Prozesse der Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen sowie eine Umverteilungspolitik der öffentlichen Ausgaben mit einer antiimperialistischen Vision befördern.” Siehe Blanca Rubio, Jaime Peña in Del populismo al progresismo, reflexiones sobre su capacidad transformadora https://www.scielo.br/j/ccrh/a/k9Q36Q8fpSWz5bvyNVmns8y/?format=pdf&lang=es. – Nicht zu verwechseln mit dem in Westeuropa etablierten Begriff Progressivismus/Progressismus


Übersetzung: Klaus E. Lehmann, Vilma Guzmán, Amerika21

Titelbild: Shutterstock / Jesse33

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!