Der deutsche Sänger und Poet Tino Eisbrenner hatte im letzten Jahr mit einem bemerkenswerten Gastspiel für internationales Aufsehen gesorgt. Nach seiner Rückkehr aus Russland widmet sich der Berliner Künstler seinem umfangreichen künstlerischen wie politischen Schaffen, getreu dem Motto „Kultur ist Frieden“. Angesichts seines mutigen Engagements kommt man zum Schluss, der zu einer Laudatio passt: Mehr Menschen wie Tino Eisbrenner werden gebraucht in eisigen Zeiten wie jetzt. Und auch das passt zu ihm und zeichnet ihn aus: Tino Eisbrenner blickt trotz allem optimistisch und voller Tatendrang ins neue Jahr 2024. Ein Zwischenruf von Frank Blenz.
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Eisbrenner ganz im Geist von Brandt
Altkanzler Willy Brandt würde (lebte er noch) Tino Eisbrenner sicher warmherzig loben, dessen Wirken für Völkerverständigung und Frieden, sein diplomatisches Geschick, stets den Dialog am Laufen zu halten, ruhig und sachlich zu argumentieren und auf seine ganz persönliche, vielfältige Weise unser Kulturleben, unsere Gesellschaft und die unserer Nachbarn zu bereichern. Der Altkanzler würde in Eisbrenner einen Mitbürger erkennen, der eine von Brandts politischen Kernbotschaften in der heutigen Zeit kraftvoll und ausdauernd am Leben erhält: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein.“ Man stelle sich das mal vor: Willy Brandt formulierte diesen Satz 1969, als gerade gewählter Bundeskanzler steckte er eine neue Politik nach innen und außen ab, unter anderem auch mit den Worten: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Brandt wagte es, den Menschen im Osten die Hand zu reichen und sich gegen den Kalten Krieg zu stemmen. Doch heute, 2023, herrscht wieder Kalter Krieg, schlimmer, es toben heiße Kriege auf unserem Planeten.
Kultur ist Frieden
Tino Eisbrenner wagt mehr Demokratie, er wagt es, engagiert zu sein, die Hand zu reichen, selbst wenn um ihn herum das Handausschlagen, das Ausgrenzen, das Eskalieren gerade Konjunktur haben. Unter dem Eindruck seiner Reise nach Russland zu einem Liederwettbewerb in Moskau schrieb Eisbrenner auch ein Buch. „Kraniche“. Was muss das für ein Moment gewesen sein: „als von der Bühne in Moskau die ersten Zeilen des Liedes auf Deutsch erklangen, erhoben sich die Sechstausend im Saal …“
Der Poet und Musiker Eisbrenner kennt Russland, kennt die ehemalige Sowjetunion, die Menschen, seit zig Jahren weilt er regelmäßig bei ihnen. In seinem Buch berichtet der Künstler von seinen Erlebnissen in 2023, er formuliert seine Gedanken über das Versagen der „großen Politik“, die gerade wenig, zu wenig für den Frieden unternimmt. Tino Eisbrenner findet, dass darum umso deutlicher, mutiger, engagierter die Kultur, die Kunst Völker verbinden muss. Er lässt Taten folgen. So trat Eisbrenner mit der Buchautorin Karin Haß auf, die ihre Geschichte langer Jahre in Russland in „Mein Dorf in Sibirien – Die Liebe und der Krieg“ aufschrieb. Unter dem Titel „Musik statt Krieg“ sorgte Eisbrenner mit seinen Songs für die akustische wie lyrisch-politische Begleitung.
Eisbrenner stemmt sich, wo immer er auftritt und agiert, sich zu Wort meldet, gegen die gegenwärtige Eskalation. Ja, um unsere Welt werden Zäune, wenn nicht Mauern errichtet. Zu einen, zu beruhigen, zu moderieren, aufeinander zuzugehen, ist nicht angesagt – in der großen Politik. Sie schraubt lieber, von Interessen geleitet (wessen Interessen werden da eigentlich vertreten?), an der Eskalationsspirale. Unsere Welt wird in Schwarz und Weiß eingeteilt. Wir (also die Deutschen und ihre Verbündeten) sind die Freunde, die Guten. Im Osten dagegen sind die Bösen, dort ist der Feind, konkret der Russe. Ein ganzes Land, ein ganzes Volk, die Russen werden zum Feind erklärt. Das größte Land der Welt zählt nicht mehr zu unserer Werte-Gemeinschaft. Gerade wurde ein neues „Sanktionspaket“ geschnürt. Weihnachtspakete aus Russland sind verboten, Diamanten made in Russia ebenso. Dass russische Sportler 2024 nach Beschluss des IOC unter neutraler Flagge zur Olympiade in Paris antreten dürfen, sorgt bei den Eskalierern für Schaum vor dem Mund.
Worte für Frieden, Verständigung, Hoffnung
Mitten in seiner Konzert-Tour zur Weihnachtszeit bitte ich Tino um eine Stellungnahme, einen Ausblick für das neue Jahr.
O-Ton:…
„Lieber Frank und liebe Leser der NachDenkSeiten!
Danke der Nachfrage. Ich hatte natürlich ein sehr turbulentes Jahr, denn spätestens nach meinem Festivalauftritt im Mai, bis hin zur Veröffentlichung meines Buches „Kraniche – Shuravli“, hat sich mir vieles verdeutlicht, was ich vorher nur unterbewusst wahrgenommen habe. Vorausschicken darf ich meine Beobachtung, dass sich immer mehr Wahrheit im Zusammenhang mit unserem „Lieblingskrieg“ in der Ukraine ihren Weg bahnt – was allerdings auch eine zunehmende Aggressivität derer provoziert, denen die Wahrheit Schwierigkeiten machen würde. Sei es, weil sie dann Verantwortung für politische Fehleinschätzungen und -entscheidungen trügen. Sei es, weil sie eingestehen müssten, von dieser Sache nichts verstanden zu haben. Sei es, weil sie zu gern das alteingepflanzte Feindbild Russland bestätigt behalten würden.
Sogar der Fraktionsvorsitzende der Selenskij-Partei, Dawyd Arachamija, erklärte vor ein paar Wochen, dass Russland bei den Friedensverhandlungen in Istanbul, im Frühjahr 2022 – also schon kurz nach Beginn dessen, was Russland als militärische Operation gedacht und bezeichnet hatte – den Krieg beenden wollte unter der Bedingung, dass Kiew Neutralität und keinen NATO-Beitritt garantieren würde! Der englische Premier Johnson hat das damals regelrecht verboten, die Verhandlungen wurden abgebrochen und der Krieg durch militärische Konditionierung der Ukraine erstmal zu einem wirklichen Krieg gemacht, obwohl es bis heute weder von russischer noch von ukrainischer Seite eine Kriegserklärung gibt. Die USA jedenfalls müssen sich vorkommen wie das tapfere Schneiderlein – sieben auf einen Streich. Russland schwächen, Deutschland schwächen und damit auch Europa, in der Ukraine absahnen, das Verhältnis Deutschland-Russland nachhaltig zerschlagen, Abhängigkeiten von der US-Wirtschaft schaffen, damit die eigene wirtschaftliche Pleite abfedern, eigene Kriegsverbrechen in die Vergessenheit beamen, moralisch und ideologisch als Sieger operieren … Und unser ferngesteuerter politischer Propagandaapparat hat längst erreicht, dass die Wahrheitsverächter da gar nicht erst nachfragen oder hinsehen.
Und damit zu mir! Ein, wie ich dachte, befreundeter Westkollege ist mit Leib und Seele überzeugt davon, dass Putin (Zitat) „der größte Kriegsverbrecher seit Hitler“ und meine dortige „Anbiederei widerlich“ sei! Vergessen sind also Vietnam oder der Irak – hat geklappt! Ein noch mehr und länger, wie ich dachte, befreundeter Ostkollege, fühlt sein Herz nicht mehr und sortiert „seinen Freund Tino“ und dessen Familie, bei der er häufig genug zu Gast war, ohne ein einziges Wort einfach aus. Aber da bin ich kein Einzelfall. Im jahrelang maßgebenden „Theater am Rand“ zum Beispiel standen sich die politischen Ansichten und Handlungen der beiden gleichberechtigten Gründer und Protagonisten plötzlich scheinbar so gegensätzlich gegenüber, dass einer der beiden für sich keine andere Idee mehr hatte, als den anderen aus seinem eigenen Theater zu verbannen und auch gleich alle anderen Künstler, die mit dem ungeliebten „Querdenker“ in verschiedenen Projekten musizieren. Ganz wie das noch bekanntere Beispiel des Pianisten und Dirigenten Justus Frantz, der auf das von ihm selbst etablierte und geleitete Schleswig-Holstein Festival nicht mehr eingeladen wird, weil er im Juni als Juror am legendären Tschaikowski-Wettbewerb in Moskau teilnahm, dem wohl weltweit bedeutendsten und traditionsreichsten Klassikwettbewerb überhaupt. Und noch eine andere Facette tut sich auf. Seit 2022 habe ich drei Musiker verloren, die zwar nicht in allen meinen politischen Ansichten gegenteilige Positionen haben, aber doch zu große Befürchtungen, man könnte sie in Sippenhaft nehmen, wenn sie weiter mit Eisbrenner musizieren. So wie es mir selbst nun bis auf Weiteres im „Theater am Rand“ geht, das ich wohlgemerkt mit meinen Konzerten immer sehr gut gefüllt habe. Veranstalter riefen mich in diesem Jahr an, um mir zu sagen, dass sie Angst hätten, die Subventionen einzubüßen, wenn sie Eisbrenner auf den Spielplan setzten, andere antworten nicht mehr auf die jährlichen Offerten meines Büros. So sieht die eine Seite der Medaille aus.
Aber nun endlich auch ein Wort zu der anderen Seite. Seit Jahren bin ich mit meinem Slogan „Musik statt Krieg“ in vielen Ländern unterwegs. Seit ich im Mai an „Doroga na Yaltu“ teilgenommen und den zweiten Platz belegt habe, was sich in Deutschland in für mich unfassbarem Ausmaß herumgesprochen hat, bekomme ich jeden einzelnen Tag Briefe und Mails von Menschen meines Heimatlandes, die sich bei mir bedanken und mir Kraft und Mut wünschen. Viele erzählen mir dabei aus ihren Biographien, fühlen sich durch meine Arbeit in ihren Ansichten bestärkt, durch meine Konzerte oder Bücher informiert, aufgeklärt und vor allem mitgenommen in eine kulturelle Welt, über die uns hier keiner mehr etwas erzählen will. Mein Programm „PUSCHKIN“, das ich seit Anfang des Jahres, mit einem Freund Tobias Morgenstern am Akkordeon, in die Welt trage, hatte überall ausverkaufte Häuser, und so wird es 2024, anlässlich Puschkins 225. Geburtstag, auch weitergehen. Da sieht man, es gibt auch die anderen Veranstalter, die zum Teil sogar jetzt erst auf mich aufmerksam wurden und, indem sie mich engagieren, ihr eigenes Statement formulieren. Die Menschen blicken mit Empörung auf den Abriss von Puschkin-Denkmälern, auf die Tilgung russischer Autoren aus Universitätslehrplänen oder Theaterspielplänen, auf das Verbot von russischen Autonummern auf unseren Straßen oder das von russischen und sowjetischen Fahnen bei sowjetischen Denkmälern am Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus. Auch die Fälschung unserer eigenen Geschichte werden wir Menschen nicht mehr lange ertragen. Plötzlich lehrt man unsere Kinder in der Schule, dass der erste Weltkrieg nur ausgebrochen sei, weil Russland schlussendlich auch mobil gemacht habe. Dass Ernst Thälmann Schuld trüge am „Wahlsieg Hitlers“ und somit am Zweiten Weltkrieg, weil er sich mit den (opportunistischen) Positionen der SPD nicht gemein machen und ein Bündnis schmieden wollte. Abgesehen davon, dass Hitler damals nicht gewählt wurde, sondern das Zepter von Hindenburg weitergereicht bekam, wird hier versucht, auch die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung umzuschreiben und noch auf das Grab ihrer ermordeten Helden zu pissen. Aber die Menschen werden das weder glauben noch dulden, und die Herrschaften, die es derzeit initiieren, gehen fälschlich davon aus, dass ihnen die Deutungshoheit ewig erhalten bleibt oder gar das Geschichtswissen der internationalen Gemeinschaft auszulöschen vermag.
Der gesellschaftlichen Depression in Deutschland, gemacht aus Wirtschaftskrisen, Meinungsdiktatur, Kriegsgeschrei, politischer Dummheit und staatlich legitimierten Kulturverboten der letzten Jahre, wird ein Aufbegehren folgen. Gerade entsteht mit dem BSW eine neue politische Kraft in Deutschland, der wir, meiner Meinung nach, unsere Hilfe anbieten müssen, weil sie mindestens Chancen birgt. Erstens, das Nein gegen die kriegsbesoffene und wirtschaftliche Harakiri-Politik der Ampel weder nur von rechts zu hören noch permanent als rechts eingeordnet zu sehen. Zweitens, Menschen, die für dieses Nein inzwischen rechts wählen, obwohl sie links denken, zurückzuholen. Das wäre für den Anfang schon mal alle Unterstützung wert, meine ich, obwohl ich grundsätzlich der Ansicht bin, dass das alte Parteiensystem ausgedient hat, weil es viel zu viele Fronten bildet, wo eigentlich Schnittmengen wären!
Ganz abgesehen von Parteipolitik entsteht zum Glück seit 2020 noch etwas anderes, nämlich ein neues Bewusstsein für ein menschenwürdiges Miteinander. Wir haben gelernt, dass Ausgrenzung in die gesellschaftliche Depression führt. Nun sind wir dabei zu lernen, wie wir menschliche Gemeinschaft, Verständnis, Toleranz und Solidarität, übrigens auch mit anderen Lebewesen unserer Erde, neu erfühlen, strukturieren und leben können. Dazu braucht es eben jenes Erkennen von Schnittmengen in den Nöten, Ansichten und Hoffnungen. Braucht es den unbedingten Willen zum kleinen und großen Frieden – nicht Cancel Culture. Braucht es kulturelle Begegnungen im Alltag wie auch über alle Grenzen hinweg. Kultur ist immer die letzte Brücke gewesen und wird immer wieder die erste Brücke sein. Wenn wir ablehnen, sie zu betreten, werden wir untergehen, alle miteinander. Wenn wir sie aber erhalten, ehren, schützen und pflegen, werden wir immer einen letzten Pfad finden, aufeinander zuzugehen. Dieser Überzeugung werde ich auch 2024 folgen und ich bin keineswegs allein. Frohe Festtage und ein gesundes neues Jahr. Tino E.“
Eisbrenner, der Eis-Auftauer
Eisbrenner könnte auch „der Mann, der in Eiszeiten Brücken baut und sich für ein politisches Tauwetter einsetzt“, heißen. Gerade bekommt man schnell ein Visum nach Russland, allein: In das östliche Nachbarland Europas zu reisen, ist derzeit noch eine umständliche Angelegenheit, berichtet Eisbrenner.
Als Preisträger 2023 wird er sich auch weiterhin für die deutsche Beteiligung am Festival in Moskau engagieren. Die Aufgabe ist bekannt: russische/sowjetische Lieder aus dem oder über den Großen Vaterländischen Krieg (22. Juni 1941 bis 9. Mai 1945) interpretieren, und zwar in der jeweiligen Landessprache.
NDS-Artikel zu Tino Eisbrenner:
Dann kam die Preisverkündung: „Zweiter Platz – Tino Eisbrenner, Germania!“
„Wir müssen wieder lernen, wie man Frieden schließt“
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