Russlands Außenminister Sergej Lawrow sprach im Mai 2022 davon, dass das übergeordnete geopolitische Ziel Russlands in Bezug auf seine Spezialoperation in der Ukraine darin besteht, der unipolaren, vom Westen dominierten Welt, welche die USA seit dem Ende des Kalten Krieges in den 1990ern schaffen wollen, ein Ende zu setzen. An dem Zerfallsprozess der globalen US-Dominanz und dem Wandel hin zur multipolaren Ordnung besteht kein Zweifel mehr, doch Russland ist auf ein Zukunftsmodell in dieser neuen Welt angewiesen, es muss seine Rolle in der neuen Weltordnung definieren. Dabei lässt sich eine klare Tendenz erkennen, eine Ideologie, die eine lange Tradition in Russland hat und nun scheinbar endgültig zur Entfaltung kommt – der Eurasismus. Von Leon Brosowski.
Der klassische Eurasismus hat seine Ursprünge in der Emigration russischer Intellektueller und Wissenschaftler nach dem Untergang des Zarenreiches, der sogenannten weißen Emigration, in welcher sich in den 1920ern die Idee eines zwischen Europa und Asien liegenden Kontinents Eurasien entwickelte, der mit dem Gebiet des russischen Reiches übereinstimmt. Dieses russische Eurasien stünde im Gegensatz zum „romano-germanischen“ Europa. Die Eurasier, wie etwa Nikolai Trubetzkoy oder Pyotr Savitsky, betrachteten die, in der russischen Geschichtsschreibung als „Tatarenjoch“ verschriene, mongolische Prägung (1240 – 1480) als maßgebend für die russische Entwicklung und kritisierten die Reformen nach westlichem Vorbild unter Peter dem Großen als Zwangsvereinigung mit der europäischen Kultur. Hier lässt sich erkennen, dass die Eurasier sich aus den Slawophilen des 19. Jahrhunderts heraus entwickelt hatten, die die Modernisierung Russlands nach dem Vorbild westlicher Ideologien, also vor allem des Liberalismus, aber auch des Marxismus, ablehnten und ein exklusiv russisches Entwicklungsmodell vorschlugen. Deshalb waren die Eurasier auch dezidiert antiliberal, stellten das Kollektiv über das Individuum und sahen in der systemischen Zäsur Russlands mit dem Westen nach der Machtübernahme der Bolschewiki zunächst etwas Positives, nur die Ideologie des Marxismus, vor allem sein materialistisches Weltbild, sei Russland auszutreiben. Der zentrale Unterschied zu den Slawophilen bestand darin, dass man keine logische Einheit der slawischen Völker sah, sondern die Einheit der Ostslawen (also Russen) und der „turanischen“ Völker (v.a. uralische und Türk-Völker), die gemeinsam in Russland (Eurasien) lebеn, was später noch sehr relevant wird.
Trotz der allgemeinen Heterogenität der eurasischen Bewegung kam es Ende der 1920er-Jahre zu einer besonderen Spaltung. Die Gruppe der sogenannten linken Eurasier, zu deren Hauptvertretern unter anderem Lev Karsavin und Sergej Efron gehörten, fing an, dezidiert prosowjetische Positionen zu vertreten. Sie sahen Russland, gleichermaßen wie die rechten Eurasier, als multiethnisches Zivilisationsmodell, das aus asiatischen und europäischen Einflüssen einen eigenen Kontinent – Eurasien – bildet, lehnten den Marxismus jedoch nicht ab, da Marx ihnen von allen westlichen Philosophen am nächsten stünde. Dessen Ideen müssten in einen Dialog mit der orthodoxen Religionsphilosophie treten (etwa den Ideen Nikolai Fjodorows). Der Marxismus hätte in den Augen vieler linker Eurasier dadurch zu einer Art Ideologie des modernen Russlands werden können. Interessant ist hierbei vor allen Dingen das parallele Aufkommen des linken Eurasismus mit dem politischen Wandel in der Sowjetunion 1926/27, also dem Sieg Stalins im internen Machtkampf gegen Trotzki und die Internationalisten, welche weiterhin auf die nach 1917 gescheiterte Weltrevolution setzten, wohingegen Stalin mit seinem Konzept des „Sozialismus in einem Land“ die nationale Entwicklung der Sowjetunion in den Vordergrund stellte. Dieses Konzept imponierte den linken Eurasiern sehr, wobei vor allem auch Stalins beispiellos schnelle Industrialisierung Begeisterung auslöste. In der Folge distanzierten sich die rechten Eurasier von den Linken, was die Bewegung schwächte und sie schließlich bedeutungslos machte.
Von zentraler Bedeutung ist, dass die Vorstellung der Eurasier auf der klassischen Geopolitik des britischen Geographen Halford Mackinder beruhte, der 1904 mit seinem Aufsatz „The Geographical Pivot of History“ versuchte, die internationalen Beziehungen mit der Geografie zu verbinden, und damit als einer der wichtigsten Begründer der Geopolitik gilt. Er stellte den Gegensatz von Land- und Seemacht als entscheidend für die Geopolitik heraus und identifizierte das kontinentale Russland als die entscheidende Bedrohung für die Hegemonie des maritimen britischen Imperiums. Diesen Gegensatz erkannte unter anderem auch der Eurasier Savitsky, der allerdings Europa in seiner Gesamtheit als maritim einordnete und dem kontinentalen Russland bzw. Eurasien gegenüberstellte, entsprechend dem Gegensatz zum Romano-Germanischen. Mackinder hingegen klassifiziert insbesondere Deutschland auch als Landmacht und sah in einem deutsch-russischen Bündnis den Untergang der britischen Weltherrschaft. Diese Analyse ist strategisch begründet, wohingegen die russischen Eurasier kulturell argumentierten und sogar versuchten, den Russland-Europa- bzw. Meer-Land-Gegensatz in einen metaphysischen Antagonismus von Wasser und Erde zu steigern. Wichtig ist zu verstehen, dass Mackinder sich bei Eurasien, anders als die russischen Eurasier, nicht nur auf Russland, sondern auf den ganzen aus Asien und Europa (unter Einbezug Russlands) bestehenden Kontinent bezieht.
Der Einfluss von Mackinders Geopolitik in Großbritannien hielt sich in den Jahren nach ihrer Veröffentlichung in Grenzen, was auf die britischen Bestrebungen nach einem Bündnis mit Russland im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, also die Zeit der britisch-deutschen Rivalität zurückzuführen ist. Russland in dieser Zeit als Hauptbedrohung darzustellen wäre mehr als kontraproduktiv gewesen. Mackinders nächstes bedeutendes Werk war „Democratic Ideals and Reality: A Study in the Politics of Reconstruction“ von 1919, in welchem er den Westmächten auf der Pariser Friedenskonferenz die Bildung von Pufferstaaten in Osteuropa, also zwischen Deutschland und Russland, empfahl, um das die Macht der angelsächsischen (nun gewannen auch die USA an Bedeutung) Staaten gefährdende Bündnis zu verhindern. Man folgte seinem Rat.
Großes Interesse an Mackinders Ideen hatte auch der deutsche Geograph Karl Haushofer, welcher Deutschland ebenso als eine eurasische Kontinentalmacht neben Russland, China, Indien und Japan betrachtete, weshalb er in seiner Funktion als Berater der NS-Außenpolitik vom großen Krieg um Lebensraum im Osten abriet und für einen strategischen Ausgleich mit der Sowjetunion plädierte, um mit dieser einen „Kontinentalblock“ zu bilden, ein Bündnis, in dem Deutschlands Herrschaft über Europa sicher wäre. Hitlers Fehler bestand darin, den „Kontinentalblock“ gegen russische Interessen allein unter deutscher Herrschaft Eurasiens bilden zu wollen. Im Grunde war auch Haushofer ein Befürworter des schon von Mackinder gefürchteten deutsch-russischen Bündnisses. Die Blindheit der russischen Eurasier für diese vielversprechende Allianz mag ein entscheidender Grund für ihren Bedeutungsverlust ab den 1930er-Jahren und ihre Irrelevanz in der Zeit der eurasischen Renaissance ab Ende der 80er gewesen sein. Der von ihnen konstruierte Gegensatz vom „Romano-Germanischen“ zum „Russisch-Eurasischen“ wurde faktisch schon in den 20er-Jahren widerlegt, als die vom unfairen und überzogenen Versailler Vertrag der Westmächte gebeutelte Weimarer Republik durch den Vertrag von Rapallo 1922 eine beispiellos intensive Kooperation mit der international isolierten Sowjetunion einging.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zum Aufstieg von Mackinders Lehre zur Hauptdoktrin der US-Außenpolitik. Zuvor erlebte Mackinders Geopolitik eine kleine amerikanische Weiterentwicklung durch den Yale-Professor für Internationale Beziehungen Nicholas Spykman, der die eurasischen Küstengebiete (Europas, Arabiens, Indiens, Südostasiens), die Mackinder als „inner or marginal crescent“ bezeichnete, unter der Bezeichnung „Rimland“ in ihrer Bedeutung aufwertete. In diesem „Rimland“ befänden sich die großen zivilisatorischen Zentren, deshalb sei es eigentlich noch viel wichtiger für die Kontrolle Eurasiens als „Herzland“, dessen Gebiet für Mackinder ungefähr mit dem von Russland übereinstimmt. Durch das Kontrollieren des „Rimland“ könne man das „Herzland“ und damit das Erwachsen einer gesamteurasischen Macht aus diesem eindämmen. Die Fusion von Mackinder und Spykman bildet die US-Außenpolitik nach 1945. Das Interesse der außenpolitischen Elite der USA an diesem Modell lässt sich bereits zum Ende des Krieges, im Vorfeld der großen Konfrontation mit der Sowjetunion, erkennen, als das führende amerikanische Fachmagazin für Außenpolitik Foreign Affairs Mackinder 1943 darum bat, seine großen Ideen, natürlich an die neuen globalpolitischen Umstände angepasst, ein letztes Mahl auszuformulieren. Einer der zentralen Vorschläge des großen Vordenkers in seinem Artikel „The Round World and the Winning of the Peace“ war, wenig überraschend, die Bildung eines transatlantischen Militärbündnisses, der 1949 aus der Taufe gehobenen NATO. Hier sieht man endgültig den harmonischen Übergang von Mackinder zu Spykmann. Die NATO ist das perfekte Mittel zur Kontrolle des europäischen „Rimland“ und sorgt dafür, dass es keine Verbindung eingeht mit dem „Herzland“, also Russland, was das Aufkommen eines starken Eurasiens verhindert. Nach dieser Logik bestand das Hauptinteresse der USA darin, die Länder an den Rändern Eurasiens zu kontrollieren und von Russland zu trennen, und genau das ist die Containment-Politik, die Truman 1947 ausrief. Die Mackinder-Spykman-Geopolitik wurde im Weiteren vor allem von US-Strategen wie Henry Kissinger und Zbigniew Brzeziński bewundert und politisch umgesetzt.
Es ist extrem wichtig, sich über diese angelsächsischen geopolitischen Konzepte bewusst zu werden, da genau diese faktisch die Grundlage für den Neo-Eurasismus ab den 90er-Jahren bilden. Das neue Interesse am Eurasismus begann in Russland jedoch erstmal mit der umfangreichen Rezeption der Arbeit des russischen Geographen, Ethnologen und Historikers Lev Gumiljow, der in den 60er-Jahren Kontakt mit Savitsky hatte, sich intensiv mit der Geschichte der eurasischen Steppe beschäftigte und mit seiner pseudowissenschaftlichen Theorie der Ethogenes und Passionarität eine Art Geschichtsphilosophie schuf, die das Aufkommen der großen eurasischen Reiche erklären sollte. Die exzentrische Theorie des „letzten Eurasiers”, wie er sich selbst nannte, fand in der Sowjetunion am Rand des wissenschaftlichen Diskurses statt, erhielt jedoch Ende der 80er-Jahre zunehmend Aufmerksamkeit.
Vor allem in Kasachstan wurde schon Anfang der 90er-Jahre unter Präsident Nursultan Nasarbajew der Neo-Eurasismus, mit starkem Einschlag von Gumiljows Fokus auf die asiatischen Steppe, zu einer Art außenpolitischer Doktrin des Landes. Laut Gumiljow hätte es in der Geschichte aufeinanderfolgende Phasen der Integration Eurasiens gegeben, so etwa das Mongolenreich, das Russische Reich, aber auch die Sowjetunion. Er prognostizierte nach dem Zerfall der Sowjetunion das Aufkommen einer neuen Form der eurasischen Integration, die sein Bewunderer Nasarbajew auch schnell umzusetzen versuchte. Nasarbajew war es, der 1994 die Idee einer Eurasischen Union aufwarf und in den 90ern die wirtschaftliche Integration der postsowjetischen Staaten (GUS-Staaten) vorantrieb. Diese Versuche der wirtschaftlichen Integration des „klassischen” Eurasiens (ehemalige Sowjetunion) waren jedoch lange nicht sonderlich erfolgreich, da Russland unter Jelzin an einer vollkommenen Integration in das westliche System interessiert war und faktisch keine von den USA unabhängige Politik betrieb. Deshalb waren die Denker des sich in den 90er-Jahren entwickelnden Neo-Eurasismus auch Oppositionelle, die den Liberalismus und Amerikanismus der Ära Jelzin ablehnten.
Der bekannteste Vertreter dieses neuen intellektuellen Eurasismus war Alexander Dugin, der sich intensiv mit Ideen der konservativen Revolution in der Weimarer Republik der 1920er-Jahre (z.B. Carl Schmitt, Oswald Spengler) sowie der Philosophie Martin Heideggers auseinandergesetzt hatte, die materialistische Ideologie der Sowjetunion ablehnte und ab Ende der 80er in konservativ-esoterischen, mit Mystik befassten Kreisen aktiv war. Er gehörte jedoch auch jenen Konservativen an, die während des Zerfallsprozesses der Sowjetunion die Bedeutung dieser erkannten und sie schließlich bewahren wollten. Für Dugin, der die klassische Geopolitik Mackinders und seiner Anhänger der Zwischenkriegszeit (etwa auch Haushofer) studiert hatte, war die Sowjetunion eine Art ultimative Kontinentalmacht. Geprägt von diesen Vorstellungen, profilierte sich Dugin im Laufe der 90er-Jahre vor allem publizistisch in Sachen Geopolitik, wurde sehr erfolgreich und führte zusammen mit Eduard Limonov die Nationalbolschewistische Partei Russlands.
Die Ideologie des Nationalbolschewismus war eine – wie viele von denen, die Dugin aufgriff – in den 20er-Jahren außerhalb Russlands entstandene politische Strömung, die den Klassenkampf mit stark nationalen Vorstellungen verband, den Fokus auf die Weltrevolution ablehnte und ein Bündnis mit der Sowjetunion anstrebte, wobei vor allem Stalins Vorstellung vom „Sozialismus in einem Land“ den Nationalbolschewisten imponierte. Die strategischen Ähnlichkeiten zu Haushofers „Kontinentalblock“ liegen auf der Hand, denn auch der Nationalbolschewismus war stark von der klassischen Geopolitik Mackinders und dem Eurasismus beeinflusst. Dugin verbindet Mackinder, dessen Rezipienten wie Haushofer und auch Carl Schmitt sowie in geringerem Umfang die klassischen Eurasier und Gumiljow zu einer Ideologie, die den roman-germanischen Gegensatz zu Russland endgültig überwindet und Europa, Russland und Asien als Kontinentalmacht Eurasien den Seemächten USA und Großbritannien gegenüberstellt. Als alter Esoteriker steigert natürlich auch Dugin dieses geopolitische Modell des Öfteren in metaphysische Gebilde wie den mentalen Gegensatz von Erde (Kontinentalmacht) und Wasser (Seemacht), den schon Savitsky andeutete.
Man kann Dugin aber auch auf eine nüchterne Ebene holen. Im Grunde steht er für eine wirtschaftliche und strategische Integrationen der Staaten Eurasiens. Eine russische Politik, die auf genau so eine Integration hinarbeitete, begann 1996 mit der Ernennung Jewgeni Primakows zum Außenminister Russlands. Jelzins Kurs der kompletten Westintegration war gescheitert, was sich auch im Erfolg der Kommunisten, die unter Führung Gennady Sjuganows zunehmend vom Neo-Eurasismus beeinflusst waren, in den Parlamentswahlen von 1995 ausdrückte. Selbst Gorbatschow kritisierte Kosyrew, Jelzins Außenminister von 1990 bis 1996, dafür, Russland zu einem Außenposten des State Department zu machen. Dieser Stimmungswandel führte dazu, dass 1998 alle Vorschläge Jelzins für einen neuen Ministerpräsidenten vom Parlament abgelehnt wurden und er sich dazu gezwungen sah, Primakow vorzuschlagen, den die Duma annahm. Aufgrund Jelzins körperlicher Verfassung übernahm Primakow einen Großteil seiner Kompetenzen und begann, den Eurasismus erstmals in echte außenpolitische Handlungen zu übersetzten. Er begann auf Basis einer intensiven Diplomatie und unter ständiger Betonung der Notwendigkeit von Multipolarität, welche die von den USA angestrebte Hegemonie ausschloss, Beziehungen zu China, Indien sowie dem Iran aufzubauen.
Trotz Primakows Bemühungen, gemeinsam mit anderen asiatischen Staaten Governance-Strukturen wie etwa die Shanghai Five, die 1996 gegründete Vorgängerorganisation der Shanghai Cooperation Organisation, zu schaffen, die nicht vom Westen dominiert waren, war ihm klar, dass die US-Dominanz in den 90er-Jahren noch nicht gänzlich zu brechen war. Deshalb verfolgte er eine multi-vektorale Politik, die davon absah, den USA direkt den Kampf anzusagen, was ideologisiertere Eurasier wie Dugin taten, der ab 1998 als Berater des Vorsitzenden der Duma erstmals direkten Einfluss auf die Politik nehmen konnte. Dass selbst Dugin Ende der 90er einen direkten Draht in die einflussreiche Politik des kommunistisch dominierten Parlaments hatte, zeigt den Einfluss der eurasischen Ideen in dieser Phase, deren Höhepunkt die sogenannte „Kehrtwende über dem Atlantik” darstellt, der spontane Entschluss Primakows, als Reaktion auf die völkerrechtswidrige Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO 1999, einen Besuch in den USA noch auf dem Flug nach Washington abzusagen und umzukehren; eine symbolische Handlung, die die eurasische „Primakow-Doktrin“, wie Lawrow die Außenpolitik dieser Zeit später nannte, verkörpert wie keine andere – Achtung des Völkerrechts, Unteilbarkeit von Sicherheit, gemeinsame Konfliktlösung sowie zunehmende strategische und wirtschaftliche Integration in Eurasien als Speerspitze für Multipolarität und Frieden.
Trotz Primakows Absetzung durch Jelzin 1999 hat sich der durch ihn verursachte Wandel in den Köpfen der Verantwortlichen für russische Außenpolitik manifestiert. Deshalb betrieb auch Putin in seinem ersten Amtsjahr eine Politik, die vom Eurasismus durchsetzt war. Er sprach von Multipolarität, schloss einen Freundschaftsvertrag mit China ab, formte die Shanghai Cooperation Organisation (SCO), die Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit sowie die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft und kritisierte die westlichen Bestrebungen für eine zweite NATO-Erweiterung (nun wären sogar die baltischen Ex-Sowjetrepubliken betroffen gewesen). Nach dem 11. September 2001 kam es jedoch zu einem Wandel. Putin wandte sich explizit dem Westen zu, bot den USA umfangreiche sicherheitspolitische und geheimdienstliche Kooperation bezüglich Afghanistan und dem islamistischen Terrorismus an, akzeptierte die NATO-Erweiterung, gewährte den USA die Einrichtung von Militärstützpunkten in zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken bei gleichzeitiger Abtretung von russischen Militäreinrichtungen im Ausland, hielt sich mit Kritik am Rückzug der USA aus dem ABM-Vertrag zurück und sprach davon, dass er darauf hinarbeiten würde, Russland selbst zu einem Mitglied der Nato zu machen. All das empörte nicht nur leidenschaftliche Eurasier wie Dugin, sondern irritierte auch weite Teile der außenpolitischen Elite Russlands, die nun schon von der Primakow-Doktrin geprägt waren, sowie Militärstrategen, die sich um die russischen Sicherheitsinteressen sorgten.
Eine strategische Partnerschaft, wie sie Putin zu dieser Zeit mit den USA bzw. dem Westen anstrebte, war seit dem Jugoslawien-Zerwürfnis selbst unter Jelzin nicht mehr denkbar gewesen, allerdings auch eine Reaktion seinerseits auf das vorläufige Scheitern des Eurasismus. Schon Primakow scheiterte daran, die strategische Partnerschaft zwischen Russland und China um Indien zu erweitern. Trotz der russisch-indischen Partnerschaft gelang es Moskau nicht, die beiden größten Mächte des Kontinents einander anzunähern. Anfang der 2000er waren viele Staaten schlicht noch nicht bereit, ihre Differenzen zum Wohle übergeordneter eurasischer Projekte zu überwinden. Zudem waren die meisten auch ökonomisch noch nicht stark genug, der westlichen Hegemonie auch wirtschaftlich etwas entgegenzusetzten. Dies war zweifelsohne auch einer der Gründe für Putins prowestliche Wende und zeigt, dass die stark vom Eurasismus beeinflussten Verantwortlichen in Russland trotzdem in erster Linie pragmatisch handeln.
Putins Verhältnis zu den USA fand mit dem Irakkrieg 2003 einen vorläufigen Tiefpunkt, auch wenn er seine Bemühungen in Richtung Washington noch nicht beendete. Das Beharren der USA auf die Errichtung des Raketenabwehrschirms in Osteuropa sowie ihre Förderung der Machtwechsel in Georgien und der Ukraine 2004 und 2005, was dazu führte, dass Regierungen an die Macht kamen, die einen NATO-Beitritt der Länder anstrebten, was für Russland eine rote Linie darstellte und mehrfach kommuniziert wurde – vor allem, nachdem Putin klar wurde, dass eine strategische Partnerschaft auf Augenhöhe mit der NATO nicht möglich war – ließ den Bruch aber immer tiefer werden. Seinem Frust verlieh Putin schließlich in seiner berühmten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 Ausdruck.
Interessanterweise kam es jedoch nach dem Irakkrieg 2003 und der westeuropäisch-russischen Opposition gegen diesen zu verstärkten Bemühungen Russlands um Zusammenarbeit mit der EU. In gewisser Weise wandte sich Putin wieder dem Eurasismus zu, betonte jedoch das Europäische in diesem, was sich auch im geringen Engagement für die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft in dieser Zeit zeigte. Es gelang ihm jedoch nicht, die immer stärker werdenden wirtschaftlichen Beziehungen zur EU auf eine strategische Ebene zu holen, auch wenn die Westeuropäer die Aufnahme der Ukraine und Georgiens gegen den Willen der USA 2008 zumindest noch vertagten und damit etwas mehr Rücksicht vor den russischen Sicherheitsinteressen zeigten als Washington. Nichtsdestotrotz kam es nicht zum großen, von angelsächsischen Geostrategen so gefürchteten Zusammenwachsen von „Herzland“ und „Rimland“, also Europa und Russland.
Nach der Präsidentschaft Medwedews, der viele Elemente aus Putins besonders US-freundlicher früher Phase wieder hervorkramte und ein weiteres Mahl am Hegemonialanspruch der USA scheiterte, kam es mit Putins dritter Amtszeit ab 2012 wieder zu einer Hinwendung zur Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft, die er in die Eurasische Wirtschaftsunion weiterentwickelte, und mit jedem neuen Konflikt von Libyen und Syrien 2011 über die Ukraine ab 2014 verschlechterte sich das Verhältnis Russlands zum Westen weiter. 2022 kam es schließlich aufgrund der russischen Spezialoperation in der Ukraine endgültig zur wirtschaftlichen Abkopplung vom Westen, wobei der Westen sich wie schon 2014 von Russland trennte und nicht andersrum. Doch je mehr Russland vom Westen getrennt ist, desto mehr sieht es sich dazu gezwungen, sich in eurasischen Projekten zu engagieren. Der globale Süden zeigt nämlich, dass die Probleme, die in den 2000er-Jahren eurasische Integration verhindert hatten, zu einem großen Teil beseitigt wurden. So unterwirft sich die Mehrheit der Staaten nicht der US-Position bezüglich dem Ukrainekonflikt und beginnt vermehrt damit, eurasischen und multipolaren Organisationen wie der SCO und den BRICS beizutreten. Russland kann sich somit nun auf Organisationen stützen, die es einst selbst aufgebaut hat, um Eurasismus und Multipolarität zu fördern, aber ihrer Zeit voraus waren.
2022 hat sich gezeigt, dass die Staaten Eurasiens bereit sind für eine Kooperation, die sich dem Willen des einstigen Hegemonen USA widersetzt, was auch an der Aussöhnung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran sowie den Golfstaaten und Syrien zu sehen ist. Es kommt zu einer Integration Eurasiens, die sich neben der sicherheitspolitischen Partnerschaft der SCO auch in Infrastrukturprojekten wie der chinesische Belt and Road Initiative und dem Internationale Nord-Süd-Transportkorridor ausdrückt. Russland geht seit der Abkopplung vom Westen endgültig in diesen Projekten auf und scheint somit ab 2022 gänzlich eine Politik zu verfolgen, die sich dem Eurasismus verpflichtet fühlt. Dieser kann nur in einer multipolaren Welt funktionieren, und diese befindet sich seit 2022 so stark im Entstehen wie noch nie zuvor.
Um sich der Vokabeln der klassischen Geopolitik zu bedienen: Den USA (und auch Großbritannien) ist es hervorragend gelungen, das westeuropäische Rimland und das russische Herzland zu trennen, was sich auch darin zeigt, dass die Europäer 2022 Russland freiwillig sanktioniert haben und nicht wie 2014 von den Amerikanern überredet werden mussten. Damit haben die angelsächsischen Geostrategen das schon von Mackinder gefürchtete und von Haushofer, den linken Eurasiern und den Nationalbolschewisten herbeigesehnte deutsch-russische Bündnis, den „Kontinentalblock“, verhindert. Dass das Verhindern dieses Bündnisses das Hauptziel der US-Außenpolitik seit 100 Jahren war und ist, bestätigte auch George Friedman, Gründer von Stratfor, einem der führenden US-Thinktanks. Die USA scheiterten allerdings daran, das asiatische „Rimland“ von Russland zu trennen, und in einer zunehmend multipolaren Welt unterwerfen sich die Länder Asiens nicht mehr dem US-Diktat und wollen mit dem Herzland Eurasiens einen geopolitischen Machfaktor bilden, der in seiner kontinentalen Natur die Hegemonie der amerikanischen Seemacht beenden kann.
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